1
Erneut riss er die Augen auf und wieder bohrte sich die Kälte wie Reißzwecken in seine Pupillen. Er blinzelte, aber die Schwärze blieb. Augen auf, Augen zu. Undurchdringliche Dunkelheit. Mit angezogenen Beinen, die Knie mit den Armen umschlossen saß er da, umgeben von unnachgiebigen Wänden, unfähig, sich zu rühren. Das Wasser stand ihm inzwischen bis zur Stirn und es stieg unaufhaltsam weiter. Die eisige Kälte hatte ihm jeden Schmerz genommen. Er fühlte nichts, er sah nichts. Nur sein immer schneller schlagendes Herz dröhnte in seinen Ohren. Er legte den Kopf in den Nacken und schob seine Nasenlöcher über den Wasserspiegel. Gierig sog er die abgestandene Luft ein und es kostete ihn unendliche Kraft, sie nicht gleich für einen Schrei zu vergeuden. Aber die Panik bahnte sich unaufhaltsam ihren Weg, wand sich wie eine Anaconda zischelnd von seinem Magen, über das Zwerchfell in seine Kehle. Immer schneller pumpte er die Luft in seine Lungen.
Das Licht traf ihn völlig unvorbereitet und vor Schmerz kniff er für einen Moment die Augen zusammen. Durch eine milchige Scheibe sah er weiße Federwolken, die unbeeindruckt über den blauen Himmel zogen. Dann tauchte ein Gesicht auf und schaute auf ihn herab. Und während das Wasser seine Nasenlöcher erreichte und er ein letztes Mal die Luft anhielt, fielen die Teile im Bruchteil einer Sekunde an ihren Platz. Durch das Prisma des sich im Wasser brechenden Sonnenlichts betrachtete er das Gesicht und eine bleierne Ruhe überkam ihn.
Als er dem Drang nicht mehr widerstehen konnte und mit einem tiefen Atemzug seine Lunge mit Wasser füllte, hätte er beinahe gelacht. Aber dafür fehlte ihm die Luft.
2
Silvana Schuler zog hektisch die Wohnungstür ins Schloss, stopfte sich ein halbes Käsebrötchen zwischen die Zähne und suchte hinter ihrem Rücken erfolglos den zweiten Ärmel ihrer Lederjacke. Sie kapitulierte, stolperte die Treppe hinunter und versuchte während dessen ihren Autoschlüssel in den unergründlichen Tiefen ihrer Handtasche zu finden, was ihr wie immer nicht gelang. Wie war es möglich, dass man den Schlüssel am Abend als letztes in die Handtasche warf und er sich am nächsten Morgen scheinbar bis in die hintersten Falten verkrochen hatte? Wurden die Dinger in geheimen Labors der patriarchalischen Autoindustrie extra so konstruiert, um die kraftfahrzeugtechnische Überlegenheit des Mannes zu manifestieren? Die Kerle hatten ihren Autoschlüssel ja grundsätzlich wie von selbst in der Hand, sobald sie sich ihrem Auto näherten. Wie das Kaninchen aus dem Zylinder. So gesehen war der Keyless Access dann offenbar ein subversiver, feministischer Konter. Einfach die komplette Handtasche ans Auto halten und los gehts. Bäm! Ha!
Mit diesen revolutionären Gedanken beschäftigt, stolperte sie über einen Schnürsenkel ihrer offenen Boots und legte die letzten Meter im angenäherten freien Fall zurück, den die Haustüre beherzt und unnachgiebig bremste. Mit schmerzender Schulter und ohne Brötchen verließ sie das Haus und hastete immer noch schlüsselsuchend den Gehweg entlang. Sie grüßte wie immer Ali, den türkischen Gemüsehändler an der Ecke, der ihr wie immer, breit grinsend, einen schmachtenden Blick zuwarf. Sie bekam etwas zu fassen, zog die Hand aus der Tasche und blickte verwirrt auf ein Kondom, das offensichtlich ebenso verwirrt zurück starrte. Sie schaute zu Ali. Ali grinste jetzt sehr breit. Sie warf das Kondom zurück in die Handtasche, griff entschlossen bis zum Ellenbogen hinein und — da war er! Sie riss die Hand heraus und reckte sie, den Autoschlüssel fest im Griff, triumphierend in die Höhe. Jetzt war es an der Zeit darüber nachzudenken, wo sie eigentlich ihr Auto gestern geparkt hatte.
3
Silvana drehte den Zündschlüssel, startete den Motor ihres Mini Coopers und ärgerte sich immer noch über das noch breitere Grinsen von Ali, als sie zum zweiten Mal an seinem Laden vorbeihastete, weil der Wagen natürlich am anderen Ende der Straße geparkt war. Mit aufheulendem Motor und einer grob geschätzten fifty-fifty Chance, das vor ihr parkende Auto nicht zu streifen, ruckelte sie aus der Parklücke und fuhr los. Das Ausbleiben von knirschendem Metall zeigte ihr, dass sie ihrem kleinen Flitzer keinen neuen Kratzer spendiert hatte. Sie schaute auf die Uhr am Armaturenbrett und stellte fest, dass sie mal wieder verdammt spät dran war. Torsten Diekmann-Reim, CEO und Inhaber der Werbeagentur Diekmann & Reim und somit ihr Chef, war exakt so locker und kreativ wie der Name seiner Firma und schätzte Pünktlichkeit und Struktur über alle Maßen; weswegen er Silvana stets wie ein exotisches Insekt behandelte, welches man möglichst auf Distanz hielt und hoffte, dass sie das Virus des Chaos’, welches sie unstrittig in sich trug, nicht an den Rest der Belegschaft weitergab. Das war wahrscheinlich auch der Grund, weswegen sie ein Einzelbüro hatte — Isolation des Patienten Null.
Sie hielt an einer roten Ampel und schaute prüfend in den Schminkspiegel, der im Benutzerhandbuch des Coopers als »Rückspiegel« aufgeführt war. Mit dem Lippenstift, den sie immer im Seitenfach der Fahrertür deponiert hatte und somit vor den Gezeiten ihrer Handtasche bewahrte, zog sie sich die Lippen nach, strich sich eine blonde Strähne hinter das Ohr und tippte dann mit dem Mittelfinger ans Fahrzeugdach, um dem hinter ihr hupenden Audi- Fahrer ihre Dankbarkeit zu signalisieren, da er sie auf die grüne Ampel aufmerksam machte. Gerade als sie mit quietschenden Reifen anfuhr, begann Stevie Wonder unpassender Weise »Happy Birthday« zu singen. Irritiert schaute sie auf ihr Autoradio, welches ihr mit dunklem Display unmissverständlich mitteilte, dass es mit dieser fraglichen Musikauswahl nichts zu tun hatte. Silvana drehte den Kopf und lauschte, Stevie lag ganz offensichtlich unter dem Beifahrersitz. Sie beugte sich nach rechts, versuchte mit einem Auge die Fahrbahn im Auge zu behalten und tastete so lange herum, bis sie etwas Vibrierendes zu fassen bekam. Sie richtete sich auf und schaute überrascht auf ein Smartphone, welches ihr zu erkennen gab, dass es einen Anruf in Abwesenheit von »Keine Rufnummer« erhalten hatte. Ihr Blick wanderte auf die Halterung am Armaturenbrett. Von dort grüßte sie fröhlich ihr eigenes iPhone.
4
»Echt jetzt? Wenn ich mein Handy verloren hätte, meinste nicht, ich hätte Dich da schon gefühlte 17 Mal angerufen? Mann, da wäre ich schon in psychologischer Intensivbehandlung. Nee, meins ist das nicht.«
»Stimmt«, erwiderte Silvana, » das klingt logisch. Aber Du warst die letzte Möglichkeit, Sara. Keine Ahnung, wo das Ding herkommt.«
»Die letzte Möglichkeit? Lieb von Dir, Danke. Erzähl mir später, was rausgekommen ist.«
»Mach ich«, sagte sie und legte auf.
Sie saß an ihrem Schreibtisch im Büro und starrte auf das vor ihr liegende Handy. Wie war das verdammte Ding in ihr Auto gekommen? Sie hatte alle abtelefoniert, die jemals in ihrem Auto gesessen hatten. Sogar ihre Mutter hatte sie angerufen …
»Wer auch immer das Telefon bei Dir im Auto verloren hat, ich bin ihm sehr, sehr dankbar, mein Kind. Immerhin meldest Du Dich jetzt mal bei Deiner alten Mutter. Vielleicht ist es ja von einem jungen Mann, den Du mal mitgenommen hast und …«
»Nein Mama. Kein junger Mann, keine Enkelkinder am Horizont. Tut mir Leid …«
Ohne Vögeln keine Kinder. Das war ja durchaus bekannt. Aber das hatte sie ihrer Mutter dann doch nicht gesagt. Dem Gedanken seufzend folgend, machte sie einen erneuten Versuch, das Smartphone zu entsperren und gab ›666666‹ ein. Offensichtlich hatte das Handy mit Sechs genauso wenig zu tun wie sie und verweigerte das Entsperren.
Noch einmal ging sie ihren ganzen Bekanntenkreis in Gedanken durch. Hatte sie vielleicht irgendeinen Idioten vergessen, der den passenden, kranken Humor für einen derart dämlichen Scherz hatte? Aber welchen Sinn sollte es haben, ihr ein Handy ins Auto zu legen? Und wie, zur Hölle, war das Ding überhaupt in ihr Auto gekommen?!
Resigniert warf Silvana das Handy in ihre Handtasche, in der Hoffnung, dass es in den unendlichen Tiefen verschwinden und nie wieder auftauchen würde. Sie machte sich einen energischen Knoten in die Haare, reckte ihr Kinn und wendete sich demonstrativ ihrem Bildschirm zu. Zeit, die Sache zu vergessen und sich auf wichtigere Dinge zu konzentrieren. Es sollte ein überaus unproduktiver Tag werden.
5
Silvana kickte die Wohnungstür mit der Hacke ins Schloss, warf ihre Lederjacke an der angepeilten Stuhllehne vorbei, ließ sie mit einem Schulterzucken auf dem Küchenboden liegen und öffnete den Kühlschrank. Eine Flasche Bier lachte sie an, sie lachte zurück, man hatte sich gefunden.
Nach dem ersten Schluck schloss sie kurz die Augen und seufzte wohlig. Das versöhnliche Ende eines beschissenen Tages war angebrochen.
Sie fixierte ihre Handtasche, gab einen resignierten Seufzer von sich und griff hinein, in der Hoffnung, das Handy nicht zu finden. Aber wider jeder Logik lag es noch da, wo sie es hingefeuert hatte: Oben auf. Sie nahm es in die Hand, drehte und wendete es, als gäbe es einen geheimen Zugang und starrte schließlich wieder auf den gesperrten Bildschirm.
Happy Birthday von Stevie Wonder — wer bestrafte sich selbst mit so einem Klingelton aus der Hölle? Einer plötzlichen Eingebung folgend, tippte sie ›190487‹ und warf das Handy unmittelbar mit einem spitzen Schrei auf den Schreibtisch, als hätte sie sich daran verbrannt. Der 19. April 1987 war ihr eigener Geburtstag. Und von dem Home-Screen, der sich folgsam öffnete, blickte ihr eine junge Silvana Schuler direkt in die Augen.
Silvana stieß die Luft aus den Lungen und nahm drei tiefe Atemzüge. Langsam beugte sie sich vor und schob langsam die Hand über die Tischplatte auf das Handy zu, als rechnete sie damit, dass es jeden Moment zuschnappen könnte. Erneut schaute sie ihrem jüngeren Ich in die Augen. Kaum 16, schätzte sie, mit dem trotzig-arrogantem Blick eines hübschen Teenagers, der der festen Überzeugung war, dass die Welt da draußen nur auf ihre Ankunft gewartet hatte. Das Bild war körnig, ganz offensichtlich ein stark vergrößerter Ausschnitt und ihr absolut unbekannt. Sie riss sich los und begann, das Telefon nach irgendwelchen Hinweisen auf den Besitzer zu durchsuchen.
Neben den standardmäßigen Apps fand sie unter den Kontakten lediglich eine Nummer ohne Namen. Sie widerstand dem Impuls, die Nummer sofort anzurufen und suchte weiter. Im Foto-Ordner waren genau zwei Bilder: Ihr Konterfei auf dem Homescreen und das Bild, aus dem diese Vergrößerung stammte. Sie klickte es an und beugte sich gespannt über den Bildschirm.
Das Foto zeigte mehr oder weniger fröhlich feiernde Menschen auf einem Fest unter freiem Himmel. Die meisten saßen an Bierbänken, aßen, tranken, lachten — oder schauten trotzig-arrogant direkt in die Kamera. Sie erinnerte sich sofort. Ein Feuerwehrfest in ihrer Geburtsstadt. Miefige Provinz, ein kleinbürgerliches Gefängnis für die exzessiv pubertierende, 16jährige Silvana Schuler. Ein schwüler Sommerabend in bigotter Fröhlichkeit, der durch seinen, in den Augen einer Teenagerin, aufgesetzten Frohsinn die alltägliche Langeweile umso deutlicher machte. Auch ohne den weißen Kreis um ihr Gesicht hätten ihre Augen sofort die Stelle gefunden, an der ihr jugendliches Ich an einem der Biertische saß, umgeben von der üblichen Clique. Für einen kurzen Moment konnte sie es riechen, gegrilltes Fleisch, schales Bier, Schweiß und die züngelnden Pheromone Heranwachsender.
Ein Mann in den Vierzigern stand im Hintergrund am Grill und winkte linkisch mit der Grillzange. Sein Name fiel ihr nicht mehr ein, aber sie meinte sich zu erinnern, dass er Grundschullehrer und Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr gewesen war. Ihr Blick wanderte nach unten, streifte noch einmal ihr umkreistes eigenes Gesicht und heftete sich wie ein Magnet auf das Zitat am unteren Bildrand:
Feig, wirklich feig ist nur, wer sich vor seinen Erinnerungen fürchtet. (Elias Canetti)
Ihre Nackenhärchen richteten sich auf, beinahe glaubte sie, das elektrische Knistern an ihrem Haaransatz zu hören. Falls das alles ein Scherz sein sollte, war er meilenweit entfernt von ihrem Komikzentrum. Sie richtete sich auf, holte tief Luft und tippte auf ›Kontakte‹. Es war Zeit, reinen Tisch zu machen. Kurz schwebte ihr Finger über dem Bildschirm, dann drückte sie entschlossen auf das Anrufsymbol. Trotzdem erschrak sie, als endlich ein Freizeichen ertönte und hielt instinktiv den Atem an. Beinahe erleichtert wollte sie nach dem fünften Läuten gerade auflegen, als sich eine verschnupfte weibliche Stimme meldete.
»Hallo …?«
›Hallo…?‹? Das war’s?! Wie züngelnde Lava stieg die Wut in Silvana hoch, bereit zur Eruption.
»Ich bin’s. Also: Was soll der ganze Scheiß?!«
»Ich … was …? Wer ist denn da?«
Hielt die Schlampe sie für komplett dämlich? Sie wollte boxen?! Kein
Problem.
»Schätzchen, Du hattest jetzt Deinen Spaß, aber die Vorstellung ist durch«,
sagte Silvana und wechselte das Ohr. »Also: Was willst Du von mir?! Was soll das mit dem Handy und der pseudointellektuellen Nachricht?!«
Initiative. Sie fühlte sich besser, viel besser. Sie nahm einen tiefen Schluck aus der Bierflasche und schob gleich noch einen linken Haken hinterher. »Dir ist schon klar, dass man Dich mit Deiner Nummer problemlos auffinden kann…? Oder hast Du Dich heute Morgen mit der Bohrmaschine geföhnt? Das würde dann einiges erklären …«
»Warum tun sie das …? Wie kann man nur so …«
Die letzten Worte gingen in ein unkontrolliertes Schluchzen über und Silvana wurde schlagartig ihre brachiale Fehldiagnose klar: Nicht verschnupft, verweint. Staffelübergabe. Jetzt war es an ihr, zu stammeln.
»Ich … Das Handy in meinem Auto und …« Weiter kam sie nicht.
»Schämen Sie sich nicht?! Was sind Sie nur für ein Mensch?!! Ich habe gerade meinen Mann beerdigt und Sie … Sie … Miststück!«, presste die Frau heraus und legte auf.
Silvana glotzte das Handy an und legte es zurück auf den Tisch. Das war nicht ganz so gelaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Erneut checkte sie die Telefonnummer und registrierte erst jetzt, dass es sich um eine Festnetznummer handelte. Und die Vorwahl war ihr durchaus bekannt. Sie wählte sie jedes Mal, wenn sie ihre Mutter anrief. Sie klappte ihren Laptop auf und gab die Nummer bei Google ein. ›Das Örtliche‹ spuckte umgehend einen Namen aus und das Sofa, auf dem sie saß, schien mit einem Mal einen halben Meter abzusacken. Siegfried Häußler.
Siggi, der Mann am Grill, die Grillzange erhoben zum Gruß aus dem Jenseits …
6
»Also, ich fasse noch mal zusammen:« Polizeiobermeister Moritz Gerke betrachtete seine Notizen, kratzte sich am Kopf und hob den Blick. »Sie haben ein altes Handy in Ihrem Wagen gefunden, …«
»Kein Altes, ein Unbekanntes«, fuhr Silvana dazwischen.
»War es denn neu?« Der Beamte griff zu seinem Kugelschreiber.
»Ich weiß nicht, ob es neu ist, denn es ist mir ja unbekannt.« Silvanas Puls
rappelte sich auf und begann zu steigen.
»Ah … gut. Also es lag in Ihrem Wagen, an dem, wie Sie sagten, keinerlei
Einbruchsspuren zu erkennen waren. Dann klingelte es, Sie gaben Ihren Code ein, …«
»Nicht meinen Code, meinen Geburtstag. Der Code war mein Geburtstag, verstehen Sie …?«
Der Polizist legte die Faust an seine Unterlippe und zog die Brauen belehrend zusammen. »Sie wissen schon, dass das ein üblicher Fehler vieler Bürgerinnen und Bürger ist, ihren eigenen Geburtstag als Passwort …«
War der Kerl debil?
»Es ist ja nicht mein Handy!« Sie beugte sich vor, sprach jedes Wort langsam und deutlich aus und lächelte ihn aufmunternd an. So was half ja bei Kindern schon mal.
»Sicher. Nun, anschließend fanden Sie ein Foto mit einer Nachricht von einem Herrn – …« Er senkte den Blick und zog seine Notizen zurate, wobei er offensichtlich Schwierigkeiten mit seiner eigenen Handschrift bekam. » …ah, hier. Von einem Herrn Elias Canetti, mit dem Wortlaut: ›Feig, wirklich …‹«
Sie schlug mit der Hand auf den Schreibtisch, der glücklicherweise zwischen ihnen stand. Obermeister Moritz Gerke zuckte hoch und seine rechte Hand glitt in Richtung Hüfte, wo seine Dienstwaffe im Holster steckte.
»Ein Zitat. Das ist ein Zitat. Von Elias Canetti. Der ist aber tot.« In dem Augenblick, wo sie dies aussprach, wusste sie, dass sie ein überaus unnötiges, weiteres Fass aufgemacht hatte und schloss in der Erwartung des Unvermeidlichen seufzend die Augen. Moritz Gerke enttäuschte sie nicht.
»Ach? Der ist auch tot? Das hatten sie bis jetzt nicht erwähnt …« »Nicht so tot. Anders tot.«
Moritz Gerke zog die Stirn in Falten und beäugte sie verständnislos.
Eigentlich sah er ganz flott aus … Mitte 30, dunkle Haare, Dreitagebart, durchtrainierter Körper — halt nicht die hellste Kerze im Leuchter. Eher die, die vor sich hin glimmt. Aber sagte der Volksmund nicht, dass andere positive Eigenschaften diesen Makel bisweilen ausgleichen? Silvana dachte an das Kondom in ihrer Handtasche, verscheuchte aber sämtlichen Latex sofort wieder aus ihren Gedanken.
»Elias Canetti war ein Schriftsteller und Nobelpreisträger und ist seit über 25 Jahren tot. Natürliche Todesursache, soweit ich weiß … Er wurde zitiert.« Sie hob die Augenbrauen und schaute den Polizisten erwartungsvoll an. Hatte er es verstanden?
»Mmmh«, brummte dieser unverbindlich und ließ Silvanas fragenden Gedanken unbeantwortet. Er blickte wieder auf seine Notizen. »Auf jeden Fall war in der Nachricht ein Foto, auf dem Sie selbst und ein gewisser Herr — …«
Gehörte das zur Polizeiausbildung? Vor jedem Namen eine dramatische Nachlesepause einzulegen, so als ob man den nächsten Lottomillionär verkündete? Gott sei Dank hatte sie keine weiteren Namen von Personen auf dem Foto genannt, sie hatte keine Zahnbürste dabei.
»… Herr Siegfried Häußler zu sehen sind. Dieser ist, wie Sie anschließend in Erfahrung brachten, tot. Korrekt?« Er schaute ihr rhetorisch fragend in die Augen.
»Etwas knapp zusammengefasst, aber im Großen und Ganzen: Ja«, sagte sie und lehnte sich erschöpft zurück.
»Wir haben Ihre Angaben diesbezüglich inzwischen überprüft. Siegfried Häußler ist tatsächlich verstorben.« Sie setzte sich ruckartig auf und schaute ihn erwartungsvoll an. »Er ertrank vor zwei Tagen im Schlobusch-See in seinem Heimatort Rigendorf. Nach den untersuchenden Kollegen vor Ort ganz offensichtlich ein Badeunfall. Man geht schwimmen, überschätzt sich, kriegt Krämpfe … So was passiert leider sehr häufig. Sehen Sie, …« Er reckte das Kinn nach vorn und schaute, anscheinend auf der Suche nach den passenden Belehrungen ob des richtigen Schwimmverhaltes der Bürgerinnen und Bürger, auf einen Punkt über ihrem Kopf. Zeit, zügig zu intervenieren!
»Gut, aber jetzt sieht die Sache doch sicher anders aus, oder? Jetzt wird man die Sache doch sicher noch mal genauer untersuchen. Spurensicherung, Autopsie und all das Zeug …«
Verärgert über die Unterbrechung seines Vortrags ob des angemessenen Verhaltens beim Schwimmsport als Freizeitvergnügen, zog er die Brauen zusammen und schaute ihr wieder in die Augen.
»Frau Schuler. Der Tot des Herrn Häußler«, er hatte offensichtlich beschlossen, die Denkpausentaktik bei Namensnennungen ab hier zu vernachlässigen, »ist abschließend untersucht. Es gab keinerlei Verdachtsmomente. Daran ändert auch ein Foto, auf dem Herr Häußler zu sehen ist, vorerst nichts. Natürlich werden wir die Sache mit angemessener Ernsthaftigkeit überprüfen, aber um ehrlich zu sein, glaube ich, …«, er schaute demonstrativ beiläufig auf seine klobige Armbanduhr, » … dass Sie einem dummen Scherz aufgesessen sind. Ich bin sicher, das Ganze wird sich sehr bald aufklären.«
Silvana konnte es nicht fassen. Das war’s?! Sie schaute Moritz Gerke ungläubig an.
»Also, unternehmen Sie, alle Aspekte inbegriffen, — Nichts?«
»Ganz so kann man das nicht sagen, Frau Schuler. Natürlich werden wir die Sache weiter beobachten und Sie informieren, sollten wir noch …«
Weiter ließ sie ihn nicht kommen. Sie stand abrupt auf, nahm, ihn nich aus den Augen lassend, ihre Jacke von der Stuhllehne, warf sie sich, nach kurzem Zögern, nur über die Schulter und marschierte Richtung Ausgang. Im Türrahmen drehte sie noch einmal leicht den Kopf und sagte »Wenn Ihnen das nächste Mal beim Training wieder eine Hantel auf die Birne fällt, dann lassen Sie das besser behandeln. Zum Wohle aller Bürgerinnen und Bürger, die in Zukunft gezwungen sind, dieses Büro aufzusuchen.«
Dann knallte sie die Türe hinter sich zu.
7
»Und Du hast Dir nicht seine Telefonnummer geben lassen?« Saskias Empörung ob dieser Nachlässigkeit flog durch den Hörer.
Silvana verschluckte sich an ihrem Feierabendbier und richtete sich auf. »Saskia, hast Du mir nicht zugehört?! Zum einen hatte der Typ einen IQ wie mein Brotmesser, zum anderen geht es doch darum überhaupt nicht!«
»Naja, aber man sagt doch, dass dämliche Typen rattengeil im Bett …«
»Saskia, ich werde mit dem Tod bedroht!« Silvana knallte die Bierflasche auf den Tisch, die Bierflasche schäumte vor Wut.
»In erster Linie wirst Du mal mit nem Handy bedroht … Und nem alten Foto. Ist jetzt nicht gerade der Stoff für einen Horrorstreifen. Also, wenn Dich der scharfe Bulle mal wieder so richtig auf links drehen würde, dann wärest Du sicher entspannter und die Sache wäre erledigt — war so mein Gedanke ….«
Silvana verdrehte die Augen. Sie hätte gleich wissen müssen, dass man solche Dinge mit Saskia nicht zu besprechen braucht. Verbrannte Zeit. Alles, was man sich nicht anziehen oder für sich ausziehen konnte, spielte für ihre beste Freundin eine überaus untergeordnete Rolle.
»OK, Saskia, ich denk drüber nach«, log sie und beendete das Gespräch.
Sie wischte den Tisch mit einem Ärmel sauber, legte die Füße darauf und lehnte sich zurück. Eine Erinnerung arbeitete in ihr, die sie aber nicht richtig zu fassen bekam. Seit Saskia Obermeister Moritz ›Mucki‹ Gerken erwähnt hatte. Und Mann, hatte sie den erwähnt … In Gedanken ging sie noch einmal zurück zum denkwürdigen Gespräch mit dem Polizisten. Irgendwas hatte er gesagt, etwas Wichtiges … Und wenn Moritz Gerken mal etwas Wichtiges sagte, sollte es eigentlich nicht schwer zu identifizieren sein. Die Rose im Blumenkohl. Sie starrte auf das fremde Smartphone, das vor ihr auf dem Tisch lag, konzentrierte sich und versuchte die Enden des Gedankens zu fassen.
Da begann das Handy zu klingeln.
8
Das Telefon tanzte zu Stevie Wonders Happy Birthday fröhlich über die Tischplatte. Mit einem spitzen Schrei sprang Silvana von der Couch, drückte sich ein Kissen vor die Brust und betrachtete das singende Handy wie einen exotischen Käfer, während das Display sie blinkend dazu aufforderte, den Anruf anzunehmen. Nach kurzem Zögern ergriff sie beherzt das Telefon. Ihr Zeigefinger schwebte für einen Moment in der Luft, dann wischte sie das Hörersymbol nach rechts und hielt sich das Handy ans linke Ohr.
»Hallo …?«, fragte sie und registrierte verärgert, dass ihre Stimme dabei weitaus weniger resolut klang, als beabsichtigt.
Am anderen Ende vernahm sie nur Stille, unterbrochen von regelmäßigen, schnellen Atemzügen. Dann begann eine männlich Stimme zu sprechen.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass das nicht Ihr eigenes Handy ist, mit dem Sie gerade telefonieren?«, fragte der Mann, was nicht ganz dem entsprach, was Silvana erwartet hatte.
Von der Frage überrascht, stammelte sie nur ein »Ja, das — das stimmt …« zurück.
»Wo haben Sie Ihres gefunden?«, fuhr die männliche Stimme fort und Silvanas anfängliche Ablehnung wich einer tröstlichen Verbundenheit mit ihrem unbekannten Gesprächspartner, der ganz offensichtlich eine ähnliche Erfahrung wie sie gemacht hatte.
»In meinem Auto. Und Sie?«, fragte sie zurück.
»In meinem Spind, auf der Arbeit.« Er schien noch etwas sagen zu wollen, ließ es dann aber. Beide Seiten schwiegen, ließen die Erkenntnis sacken und schienen sich uneinig, wer nun wie die Initiative übernehmen sollte. Silvana fasste sich als Erste ein Herz und brach die Stille.
»Ein altes Foto, auf dem ich zu sehen bin. Und eine Telefonnummer — mehr war nicht drauf …«
»Feuerwehrfest Rigendorf, 2002«, erwiderte der Mann und Silvana richtete
sich abrupt auf.
»Genau!«, rief sie. »Das Jahr wusste ich nicht mehr, aber, ja, 2002 kommt
hin. Sie haben das gleiche Bild? Sind sie darauf etwa auch zu sehen?« »Am linken Bildrand. Ich bin der pickelige Jüngling mit der Matte, der
gerade das Bierglas hebt«, sagte er mit einer seltsamen, ironischen Betonung, die sie jedoch nich einordnen konnte. »Ich heiße übrigens Dahlmann. Lorenz Dahlmann.«
Silvana war sich sicher, diesen Namen schon mal gehört zu haben, konnte ihn jedoch nicht einordnen. Allerdings war das kein Wunder, wenn sie beide aus dem selben, kleinen Kaff kamen.
»Silvana Schuler«, sagte sie. »Ich bin die arrogante, selbstverliebte Blondine, zwei Tische weiter rechts.«
»Ah, la Silvana!«, rief der Mann mit melancholisch-schmachtendem Unterton und stieß ein kurzes Lachen aus. »Ich kannte keinen der Jungs, in dessen Träumen Du nicht hin und wieder eine tragende Rolle gespielt hast«, fuhr er fort und verfiel, offensichtlich von den Erinnerungen getragen, vom Sie ins Du. Ein kurzes, peinliches Schweigen folgte, dass er schließlich brach.
»Tut mir Leid, sorry. Ich dachte nur gerade an die gute, alte Zeit, in der die Dinge irgendwie sehr viel leichter waren, auch wenn wir damals dachten, von unseren Problemen hinge das Schicksal der Welt ab …«
»Schon gut, kein Ding.« Silvana hatte sich wieder gefasst. Ihre Gedanken kreisten noch immer wie durchgeknallte Elektronen durch ihren brummenden Kopf. Aber hier war die Chance, ein bisschen Licht in das dunkle Chaos zu bringen.
»Hast Du die Nummer angerufen?«, fragte Lorenz Dahlmann.
»Ja«, sagte sie und erzählte ihm von dem Telefongespräch mit Frau Häußler. Als sie geendet hatte, fühlte sie sich seltsam erleichtert. Dahlmann schwieg eine ganze Weile und schien die Informationen zu verarbeiten.
»Verdammte Scheiße«, stieß er dann hervor und Silvana hob, von dem plötzlichen Ausbruch überrascht, die Augenbrauen. »Siggi Häußler ist tot? Das wusste ich noch nicht. Wir müssen uns treffen, Silvana. Siggi hat mich angerufen. Er hatte nämlich auch ein Handy gefunden und in dem war meine Nummer gespeichert. Er war mächtig aufgeregt, hat ziemlich wirres Zeug gelabert, ist aber nie konkret geworden. Wollte irgendwie nicht richtig mit der Sache rausrücken. Ich hatte dann – », er zögerte kurz und fuhr dann fort, »irgendwann keinen Bock mehr und habe ihm gesagt, er solle wieder anrufen, wenn er was Vernünftiges zu erzählen hätte. Ich habe nie mehr von ihm gehört … Wenn es stimmt, was Du sagst, dann muss das der Tag gewesen sein, an dem er ertrunken ist.«
Eine Ameisenstraße führte über Silvanas Wirbelsäule, vom Steißbein bis zum Nacken.
»Du glaubst, er wusste was?«, fragte sie.
»Ja, und ich habe auch langsam so eine Ahnung. Aber … Mann, das wäre wirklich ein bisschen abgedreht …« Lorenz Dahlmann schien sich in seinen eigenen Grübeleien zu verlieren. Gerade als Silvana etwas erwidern wollte, sprach er weiter.
»Egal. Wir sollten reden. Aber sicher nicht an diesem verfluchten Handy. Face to Face. Außerdem muss ich los. Wo wohnst Du jetzt?«, fragte er.
»In Köln«, antwortete Silvana.
»Gut, das ist ja nicht so weit. Du weißt doch sicher noch, wo die alte Stammkneipe zu finden ist, oder?«
»Sicher.« Bei der Erinnerung musste sie lächeln. »Früher hieß das Ding Zur alten Post.«
»So heißt es immer noch, wie alle alten Dorfkneipen, habe ich das Gefühl. Morgen Abend, 8 Uhr. Schaffst Du das?« Er schien jetzt ganz offensichtlich in Eile zu sein.
»Äh … Ja, klar«, stammelte sie überrumpelt.
»Prima, dann bis morgen«, sagte er, und bevor Silvana noch etwas sagen oder fragen konnte, hatte er aufgelegt.
9
»Ach, das ist ja schön, dass Du noch mal kommst!«, rief Silvanas Mutter durchs Telefon. Trotz der offensichtlichen Freude war der vorwurfsvolle Unterton nicht zu überhören und mit Sicherheit auch gewollt. »Wie lange bleibst Du denn? Ich hab doch jetzt gar nicht eingekauft. Das musst Du mir doch früher sagen!« Die Muttermaschine kam auf Touren.
»Mama, ich komme nur …«, wollte sie einwerfen, bekam aber nicht den Hauch einer Chance.
»Dass Du nie früh genug Bescheid sagen kannst. Jetzt muss ich
improvisieren. Soll ich Dir nen schönen Hackbraten machen? Den isst Du doch so gerne. Ach, da muss ich gleich noch zum Metzger …« 3. Gang, 4. Gang, die Maschine wurde warm.
»Mama, ich bin Vegetarierin seit ich 17 bin und …«. Vergebens.
»Ja, sicher. Über Deinen Job reden wir dann, wenn Du hier bist. Das hat Zeit. Ich mach Dir Dein altes Zimmer zurecht. Du bleibst doch sicher ein paar Tage? Fein. Ich freu mich!« Klick!
Silvanas Mutter hatte aufgelegt, bevor sie etwas erwidern konnte und sie hatte mehr als einen Verdacht, dass auch dies mit absoluter Absicht geschehen war.
Silvana seufzte. Sie konnte maximal eine Nacht bleiben. Es würde ihrer Mutter sicher wieder das Herz brechen, aber Silvana war fest entschlossen, sich dieses Mal durchzusetzen. Sie war schließlich keine 12 mehr!
20 Minuten später schickte sie die Email mit ihrem Urlaubsantrag an die Personalabteilung. Vielleicht würden die ja ablehnen. Dann hätte selbst ihre Mutter keine Chance.
10
Silvana stocherte auf ihrem Teller nach einer halbwegs soßenfreien Kartoffel und schob sie sich in den Mund.
»Das hättest Du mir ja ruhig mal vorher sagen können, dass Du jetzt keinen Hackbraten mehr magst«, schmollte ihre Mutter und schnitt sich demonstrativ noch ein Stück ab. »So was kann ich ja nicht wissen.«
»Mama, ich esse seit 15 Jahren kein Fleisch mehr.« Silvana legte das Besteck beiseite und versuchte satt auszusehen.
»Überhaupt kein Fleisch?!« Ihre Mutter schaute sie so entsetzt an, als hätte sie ihr gerade eröffnet, einem internationalen Drogenkartell anzugehören. »Ist das denn nicht ungesund? Also der Herr Brammertz, der Metzger, der sagt immer, dass Fleisch ganz wichtig für die Ernährung ist. Und der sieht auch immer sehr gesund aus. Immer ganz rosige Wangen, hat der. Überhaupt ein sehr stattlicher Mann.« Dabei zog sie die Augenbrauen hoch und schaute auf ihre Hand, die ein paar unsichtbare Flecken von der Tischdecke strichen. Eine kleine Schwärmerei?! Gott bewahre …
»Mir geht es aber um die Tiere«, erwiderte Silvana lahm, da ihre Gedanken
bereits zum bevorstehenden Treffen drifteten.
»Also der Herr Brammertz sagt, sein Fleisch wäre nur von glücklichen
Kühen und Schweinen. Da legt der Wert drauf«, antwortete ihre Mutter mit einem Blick, der klar machte, dass an dieser brammertzschen Aussage hinsichtlich der mentalen Verfassung des Schlachtviehs keinerlei Zweifel bestehen konnte. Silvana betrachtete den Hackbraten und fragte sich, was wohl einen glücklichen von einem unglücklichen Hackbraten unterschied, verwarf den Gedankengang aber zügig wieder. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie langsam los musste, wenn sie pünktlich zum Treffen mit Lorenz Dahlmann erscheinen wollte.
»Das klingt sehr beruhigend«, bereitete sie ihren Abgang deeskalierend vor, »ich muss jetzt aber los, ich bin noch verabredet.«
»Ach!« Die Augenbrauen ihrer Mutter versuchten, noch ein Stück höher zu rutschen. »Mit wem denn? Doch wohl hoffentlich nicht mit Deiner alten Flamme, dem Winkelmanns Jens! Lass bloß die Finger von dem. Der hurt sich komplett durch die Gemeinde. Die arme Frau von dem, die …« Ganz offensichtlich setzte sie gerade zu einer detaillierten Beschreibung des ausschweifenden Sexuallebens des Winkelmanns Jens an, was Silvana umgehend unterbrechen musste, wollte sie noch die Haustür erreichen.
»Gott, das ist doch hundert Jahre her. Nein, mit einem Herrn Dahlmann«, sagte sie und schob noch ein gelogenes »Den kenne ich von der Arbeit« hinterher.
Jetzt konnten die mütterlichen Brauen nicht mehr höher und senkten sich daher zu einem ablehnenden V. »Lorenz Dahlmann?! Na, Du hast ja schöne Kollegen …«, sagte sie überraschend, stand auf und begann den Tisch abzuräumen. »Dann mal viel Spaß.«
Dieses Mal hätte Silvana gerne nachgebohrt, aber sie musste los und ihre Mutter hätte sich sicherlich nicht auf einen Monolog unter 15 Minuten eingelassen. Also verließ sie die Küche, zog sich ihre Jacke über und machte sich auf den Weg zur Zur alten Post.
11
Sie öffnete die Tür, betrat den Schankraum und die Zeitreise begann.
Tische, Stühle, Lampen, der Tresen, die Tischdecken, die Salz- und Pfefferstreuer — alles sah aus wie vor 15 Jahren. Selbst die Uhr über der Theke — ein Zifferblatt mit lauter Vieren, darunter der Spruch: Kein Bier vor Vier! Hahaha … — war noch immer die Selbe. Und auch die Gäste machten den Eindruck, als wären sie seit anderthalb Dekaden hier in einem Zeitloch hängen- und daher einfach sitzengeblieben. Silvanas Blick glitt prüfend zu ihrem Spiegelbild in einer Fensterscheibe. Fast erwartete sie, sich selbst im Alter von zarten 17 darin zu sehen, in knallenger Jeans und grell geschminkten Lippen, auf dem Weg zum großen Tisch in der Ecke, an dem sich ihre alte Clique immer getroffen hatte. Erleichtert stellte sie fest, dass sie ihr 32jähriges, gewohntes, leicht zerzaustes Ich erblickte. Noch mal 17? Auf keinen Fall!
Silvana schaute auf die Uhr über dem Tresen, sah, dass es 4 Uhr war, Zeit für ein Bier. Sie schaute auf ihre Armbanduhr, die ihr dagegen bestätigte, dass es gerade 8 Uhr war.
Vier Bier im Rückstand, damit kann man arbeiten.
Sie schaute sich um, ob Lorenz Dahlmann schon da war, wobei ihr schlagartig bewusst wurde, dass sie nur ein altes, körniges Bild zum Vergleich hatte. Das menschliche Inventar schaute neugierig prüfend zurück, was ihr die Sache durchaus einfacher machte. Nach der improvisierten Gegenüberstellung war sie sich sicher, dass sie ausnahmsweise mal auf ihre Verabredung warten musste und setzte sich an einen freien Tisch am Fenster. Ein eindeutiges Stichwort, Auftritt Wirt.
»N’abend, junge Frau. Was darf’s denn sein?«, brummte er und warf dabei einen Bierdeckel vor Silvana auf den Tisch.
»Ich nehme eins vom Fass«, sagte sie und streckte die Beine aus.
»Groß oder klein?«, erwiderte der Wirt und ließ dabei den Bleistift arbeitsbereit über einem weiteren Bierdeckel schweben, den er in der linken Hand hielt.
Silvana horchte kurz in sich rein, wägte die Notwendigkeit eines klaren Kopfes im Dialog mit ihrem Abendessen, geschätzte zweieinhalb Kartoffeln, ab und traf eine Entscheidung.
»Ein Großes, bitte!«, sagte sie, schob dann aber noch ein besonnenes: »Kann man hier auch eine Kleinigkeit essen?« hinterher.
Der Wirt kratzte sich mit dem Bleistift kurz am Kopf, als müsse er erst die kulinarischen Alternativen gegeneinander abwägen. »Schnitzel mit Pommes und Salat, kann ich empfehlen.«
»Und was Vegetarisches?«, fragte sie, wobei ihr bewusst wurde, dass ihr das in dieser anachronistischen Umgebung beinahe peinlich war.
»Pommes mit Salat«, erwiderte der Wirt ohne Zögern und ohne jedwede erkennbare Ironie.
»Nehme ich«, sagte Silvana resignierend und der Wirt machte sich auf den Weg, um der Küche diesen, mit Sicherheit außergewöhnlichen Wunsch darzulegen.
Silvana schaute erneut auf die Uhr. Schon fast viertel nach 8. Unwillig nahm sie das gefundene Smartphone in die Hand und checkte das Display. Keine neuen Anrufe, keine Nachrichten. Als sie es beinahe angewidert zurück in ihre Handtasche warf, kam der Wirt an den Tisch und brachte ihr Bier. So machte das Warten immerhin mehr Freude. Sie nahm einen großen Schluck und drehte sich so, dass sie die Türe im Auge behalten konnte. Als ein Mann um die 30 schließlich durch die Türe trat und sich umschaute, richtete sie sich erwartungsvoll auf. Aber sein Blick glitt über sie hinweg und schritt dann zielstrebig und lächelnd auf einen Tisch mit zwei Männern zu, die scheinbar sehnsüchtig auf den dritten Mann zum Skat spielen warteten.
Als der Wirt ihr schließlich mit unverkennbarem Stolz einen Teller Pommes mit sichtlich bemüht arrangiertem Salat brachte, entschloss sie sich, den Mann nach Lorenz Dahlmann zu fragen. Wenn einer was weiß, dann der Wirt …
»Der Lorenz?«, fragte der Wirt sichtlich überrascht. »Den hab ich bestimmt schon zwei Tage nicht gesehen. Der ist nur noch selten hier. Schlechter Einfluss, denke ich. Gerade nach der Sache, damals … Hat früher gerne Einen gehoben, aber, das machen wir ja alle, ne?!«, rief er und schaute augenzwinkernd auf ihr fast leeres, großes Bier. »Gut, dass der noch die Kurve gekriegt hat.«
Silvana horchte auf. »Was für eine Sache …?«, hakte sie nach und schob sich eine Pommes in den Mund. Endlich mal was mit Kartoffeln …
»Na, die Sache mit dem Unfall, damals …«, der Wirt schien jetzt unangenehm berührt und war offensichtlich der Meinung, dass er gegenüber einer Fremden etwas zu viel gesagt hatte. »Aber, fragen Sie ihn am besten selbst, wenn Sie ihn sehen. Vielleicht kommt er ja noch. Möchte da jetzt auch nicht zu viel erzählen, ne … Noch’n Bierchen?«, wechselte er abrupt das Thema und strich sich nervös über den Mundwinkel.
»Klar. Danke.« Irgendwie musste sie ja den Salat über die Pommes spülen. »Wissen Sie denn vielleicht, wo er wohnt?«
»Nein, keine Ahnung.« Der Wirt schaute prüfend zu den anderen Tischen, wobei nicht zu erkennen war, ob er nach optionalen Bestellungen oder möglichen Lauschern Ausschau hielt. »Aber versuchen Sie es mal in der Autowerkstatt Schwerdtfeger. Da arbeitet Lorenz als Mechaniker, soweit ich weiß.«
12
So lange hatte er es gezähmt, aber jetzt war es wieder da, das Tier in seinem Kopf. Mit lautem Gebrüll grub es seine Krallen in die weiche Masse seines Hirns und verbiss sich geifernd in seine Sehnerven, fraß sich immer weiter in Richtung seiner Pupillen. Sein Schädel war ein einziger Schmerz. Das war immer der schlimmste Moment, das Erwachen danach. Nach der Kapitulation. Nach dem ersten Schluck. Nach dem Trinken — dem Saufen.
Warum hatte er es wieder getan? Sieben Monate war er trocken gewesen. Die Erinnerungen kam nur langsam, tropften zäh wie Leim an ihren Platz.
Er lag auf dem Rücken, auf hartem Grund, die Augen immer noch geschlossen. Er wollte sie nicht öffnen, noch nicht. Zu groß war die Angst vor dem unweigerlichen Schmerz, wenn das Licht zurück kam. Er lauschte, aber er hörte nur Stille. Irgendetwas bedeckte seinen Körper bis zu den Schultern, weich, wärmend, aber doch so schwer, dass er offenbar nicht in der Lage war, sich zu rühren. Er versuchte die Finger zu bewegen, aber es gelang ihm nicht. Die Signale seines pochenden Hirns drangen nicht durch, verloren sich auf dem Weg zu seinen Händen, verglühten wir Irrlichter auf dem Weg zum Ziel. Langsam hob er die Lider, doch der Schmerz blieb aus. Schwärze umgab ihn. Nur direkt über sich, blickte er durch ein mannshohes, rechteckiges Fenster direkt in den klaren Nachthimmel.
Schritte auf lehmigem Untergrund durchbrachen die Stille und völlig unvorbereitet traf er ihn doch, der schneidende Schmerz, als ein grelles Licht direkt seine Augen traf. Jemand holte tief Luft und stieß einen Seufzer aus, so, als ob nun die Zeit gekommen wäre, das Unvermeidliche zu vollenden. Die Endgültigkeit dieser Geste vertrieb den Anflug von Hoffnung, den er im ersten Moment verspürt hatte und eine nie gekannte Panik durchflutete ihn.
»Fast hättest Du mich ins Wanken gebracht, weißt Du?«, begann eine weibliche Stimme, ruhig und leise. »Ich hatte echt angefangen, Dich zu mögen. Natürlich war das ein perfider Trick, eine Täuschung. Aber ich war vorbereitet. Der Herr hat mich gelehrt, die Lüge und den Verrat zu erkennen. Auch wenn sie im Gewand eines gebrochenen, hilfsbedürftigen Alkoholikers daherkommt. Das Böse kann mich nicht täuschen. Nicht mehr!« Die letzten Worte spie sie aus, wie um sich selbst an eine vergangene Naivität zu erinnern.
Und dann kamen die Erinnerungen, als hätte ihre Stimme eine Tür in seinem Kopf geöffnet, kamen die Bilder, kam die Erkenntnis. Und unwillkürlich musste er über die Ironie ihrer Worte lachen.
»Ausgerechnet Du sprichst von Verrat und Täuschung?!«, rief er, viel mehr wollte er es, aber er brachte nicht mehr als ein krächzendes Nuscheln zustande. Auch seine Zunge wollte ihm nicht gehorchen. Was hatte sie ihm verabreicht? Irgendetwas durchströmte seine Adern und das war nicht der Alkohol — nicht nur. Trotzdem schien sie seine Worte verstanden zu haben.
»Feuer muss mit Feuer bekämpft werden«, sagte sie nachdrücklich, aber die Verärgerung war ihrer Stimme anzuhören und sie wechselte das Thema. »Du warst zäher, als ich dachte. Ich hätte nicht geglaubt, dass es so schwer werden würde, Dich wieder an die Flasche zu bekommen. Ich musste tatsächlich noch etwas nachhelfen. Aber wer seine Seele einmal diesem Dämon verkauft, der lässt sich immer wieder verführen.« Sie schwieg und kurz überkam ihn der irrationale Gedanke, dass sie gegangen war, ihr Werk beendet hatte. Aber er wusste, dass es so nicht war. Er wusste, was sie bereits getan hatte und noch tun würde. Und doch trafen ihn die nächsten Worte wie ein Schlag in den Magen, so unvermeidlich sie auch waren.
»Es wird Zeit, Lorenz. Zeit, Dir zu nehmen, was Du genommen hast. Denn Du weißt natürlich, warum Du hier bist, nicht wahr?«
Ja, das wusste er. Viel zu spät hatte er es begriffen, hatte viel zu spät die Verbindungen gesehen, die so offensichtlich gewesen waren. ›La Silvana‹ fiel ihm plötzlich wieder ein. Sie würde die nächste und Letzte sein. Hätte er ihr doch nur mehr gesagt …
»Nichts bringt ihn zurück«, krächzte er, doch sein vorangegangenes Schweigen war ihr scheinbar Antwort genug gewesen und das Gespräch war für sie beendet. Er hörte ein hartes, kratzendes Geräusch, Metall auf Stein und Lehm. Dann fiel etwas auf seinen Bauch und im jetzt nur noch diffusen Licht, welches durch das Fenster zum Himmel fiel, erkannte er zum ersten Mal, wo er sich befand. Er lag auf lehmigem Boden, umgeben von Wänden aus Erde, in einem akkurat rechteckig ausgehobenen Loch. Der Blick in den Himmel war der Blick hinaus aus seinem eigenen Grab, hinaus in den kurzen Rest seines Lebens. Eine einzelne Träne rann langsam über seine Wange und versickerte ungehört im kalten Boden. Sein Körper begann unkontrolliert zu zittern, er öffnete den Mund, wollte noch etwas sagen, irgendwas, was das Unvermeidliche hinauszögern würde. Aber sein Rachen füllte sich mit Erde und Schaufel um Schaufel ließ seine Stimme für immer verstummen.
13
Silvana schlug die Augen auf und Justin Timberlake, eingehüllt in eine US- amerikanische Flagge, lächelte sie fröhlich an. Sie hörte ihre Mutter in der Küche rumoren und roch den verlockenden Duft nach frisch aufgebrühtem Kaffee. Für einen kurzen Moment schloss sie noch einmal die Augen und fühlte den Hauch von Geborgenheit und Wärme, denen man als Kind kaum Beachtung schenkte, nur um sie dann den Rest des Lebens zu vermissen.
Sie gähnte, schwang die Beine aus dem Bett, warf dem alten *NSYNC- Poster eine Kusshand zu und schlurfte ins Badezimmer. Sie schaute in den Spiegel, fand das Ergebnis ansatzweise akzeptabel und ließ die letzten beiden Tage Revue passieren.
Lorenz Dahlmann war am Mittwochabend nicht mehr aufgetaucht, hatte sich auch nicht mehr gemeldet. Und das verfluchte Handy war seit dem letzten Kontakt ebenfalls stumm geblieben. Von Dahlmanns Chef in der Autowerkstatt hatte sie am Donnerstag erfahren, dass er bereits den zweiten Tag unentschuldigt fehlte. Und das war, wie er betonte, recht ungewöhnlich.
»Aber wer weiß, vielleicht hat er es am Ende doch nicht gepackt. Hört man ja immer wieder. Täte mir echt Leid; ich mag den Lorenz«, hatte er am Ende des Gesprächs gesagt und aufgelegt, bevor sie nachhaken konnte. Anschließend hatte sie versucht, Polizeiobermeister Gerken zu erreichen, um ihm die neuesten Entwicklungen mitzuteilen und zu fragen, was Moritz
›Mastermind‹ Gerken denn nun zu tun beabsichtigte. Stattdessen war sie bei Polizeimeisteranwärterin Maja Henschel in der Zentrale gelandet, die ihr mit piepsiger Stimme darlegte, dass Polizeiobermeister Gerken — an der Stelle meinte Silvana eine ehrfürchtige Erregung wahrzunehmen … — nicht im Hause wäre, sie aber gerne eine Nachricht übermitteln könnte. Aber nachdem Silvana sich bei ihrem folgenden Vortrag selber zugehört hatte, war sie sich relativ unsicher, ob die gute Maja der fehlerfreien Übermittlung mächtig wäre. Sie drückte der Wasauchimmer-Anwärterin die Daumen und legte auf. Aber bis jetzt hatte Super-Moritz noch nichts von sich hören lassen.
»Trödel nicht wieder rum, komm runter! Frühstück ist fertig!«, riss sie ihre Mutter aus ihren Gedanken. Fehlte eigentlich nur noch das ›Sonst kommst Du zu spät zur Schule!‹. Wurde wirklich Zeit, dass sie wieder nach Hause fuhr. Aber vorher musste sie ihrer Mutter definitiv deutlich machen, dass sie inzwischen eine erwachsene Frau und kein kleines Mädchen mehr war.
»Sorry, Mama! Schon unterweeegs …«, rief sie und rannte die Treppe zur Küche hinunter.
14
Silvanas Mutter stellte eine Schüssel dampfendes Rührei und einen Teller mit gebratenem Speck auf den Tisch, wobei sie Beides demonstrativ mit dem größtmöglichen Abstand positionierte. Sie hatte zwar inzwischen akzeptiert, dass Silvana kein Fleisch aß, ließ aber auch keinen Zweifel daran, dass sie den Vegetarismus als gefährliche Strömung gegen die Gesellschaft im Ganzen und gegen Metzger Brammertz im Speziellen hielt.
»Spätestens am Sonntag muss ich wieder nach Hause fahren«. Silvana schob sich eine Gabel Rührei in den Mund.
»Hat sich der Dahlmann immer noch nicht gemeldet?«, fragte ihre Mutter und wieder meinte Silvana, eine ungewöhnliche Anspannung bei ihr zu erkennen. Sie hatte überlegt, ob sie ihrer Mutter die ganze, seltsame Geschichte erzählen sollte, aber davon Abstand genommen, um sie nicht unnötig aufzuregen.
»Nein«, sagte sie und fügte nach kurzem Überlegen hinzu: »Was ist eigentlich mit Lorenz Dahlmann? Alle machen so seltsame Andeutungen, aber keiner redet Klartext.«
Ihre Mutter setzte die Kaffeetasse ab, drehte sie ein paar Mal am Henkel hin und her und sah Silvana in die Augen.
»Der Mann war ein Trinker — nein, eigentlich war er ein Säufer! Ich kann mich nicht erinnern, ihn in den letzten Jahren auch nur ansatzweise nüchtern erlebt zu haben. Ich kann mich nicht mal erinnern, ob ich ihn jemals habe halbwegs aufrecht stehen sehen … Dann plötzlich — so vor einem guten, halben Jahr, hat er von heute auf morgen aufgehört. Hat keinen Tropfen mehr getrunken. Hat sogar einen Job in der Werkstatt bekommen. Keiner weiß, wie er das geschafft hat. Vorher waren wir alle der Meinung, dass er sich totsäuft. Und vielleicht wollte er das ja sogar …«
Wieder dieser seltsame Unterton. Nichts als Andeutungen. Silvana platzte der Kragen.
»Warum wollte er das denn, verdammt noch mal?! Rück doch endlich mal raus mit der Sprache.«
»Weil er damals den Krankenwagen gefahren hat, in dem der kleine Behringer lag. Nach dem Unfall am Schlobusch-See — Gott, müssen wir denn beim Frühstück darüber reden?« Ihre Mutter kniff die Lippen zusammen, verschränkte die Arme und schaute Silvana anklagend an.
Aber Silvana nahm das schon gar nicht mehr wahr. Die Erinnerungen kamen in dicht aufeinander folgenden Wellen, einzelne Bilder setzten sich langsam zusammen und um ihren Magen begann sich ein Ring aus Stahl zu legen, der sich sachte aber unnachgiebig zusammenzog. Der Winter 2002. Der extrem kalte Winter, der auf den heißen, schwülen Sommer folgte, in dem das Foto entstanden war, welches nun seit einer guten Woche ihr Leben bestimmte.
Sie war 15 und hatte sich durch Babysitten ein paar Euro dazuverdient. Und eines der Kinder, auf das sie eine zeitlang aufgepasst hatte, war Jonas Behringer gewesen. Ein 4jähriger, schon in diesem zarten Alter übergewichtiger Junge mit einem durchdringenden, leeren Blick. Einfältig und still. Sie wusste nicht warum, aber sie hatte sich in seiner Gegenwart immer unwohl gefühlt, irgendetwas an ihm machte ihr Angst. Und dann, an einem späten Winterabend in der Adventszeit, war er scheinbar unbemerkt ausgerissen, auf das zu dünne Eis des Schlobusch-Sees gelaufen und eingebrochen. Zwar hatte man ihn noch rausziehen und wiederbeleben können, doch da war er schon mindestens eine dreiviertel Stunde im eiskalten Wasser unter dem Eis gefangen gewesen. Sein Zustand war extrem kritisch und er sollte mit einem Rettungswagen ins nächstgelegene Klinikum transportiert werden. Doch der Tod hatte scheinbar nicht vor, seinen Griff zu lösen. Der Krankenwagen kam auf der eisglatten Straße ins Schleudern, überschlug sich und blieb auf einem angrenzenden Feld liegen. Die Besatzung überlebte mehr oder weniger schwer verletzt. Aber für Jonas Behringer kam jede Hilfe zu spät. Er verstarb noch am Unfallort.
»Hast Du nicht damals ab und zu auf den Kleinen aufgepasst?«, riss sie ihre Mutter zurück in die Gegenwart.
»Was …? Ja.« Silvana hatte Mühe sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Etwas zerrte an ihr, etwas, dass sie lange Zeit weggesperrt und verdrängt hatte. Etwas, dass sie noch niemandem erzählt hatte, nicht einmal ihrer Mutter. An diesem Abend hätte sie eigentlich auf Jonas aufpassen sollen. Doch sie hatte kurzfristig abgesagt und vorgegeben, krank zu sein. Stattdessen hatte sie sich mit Jens verabredet, ihrem damaligen Freund und später sogar mit ihm geschlafen. Das Erste Mal. Später hatte sie sich eingeredet, dass sie es unbedingt gewollt hatte, dass nur das der Grund gewesen war, ihre Krankheit vorzutäuschen. Aber etwas tiefer, da, wo Selbstbetrug keine Überlebenschance hat, da wusste sie, dass dies nicht die Wahrheit war. Es gab nämlich etwas, dass ihr Angst gemacht hatte. Große Angst. Viel größer, als es der kleine Behringer je vermocht hätte.
15
Silvana saß an einem kleinen Ecktisch und schaute auf das abendliche Rigendorf. Der leichte Regen machte die Aussicht noch trostloser als sie im Normalfall eh schon war. Die fast leere Straße vor dem Fenster, auf der nur vereinzelt Menschen mit eingezogenen Köpfen, griesgrämig von A nach B hasteten, strahlte eine Resignation aus, die zäh und klebrig bis in den Schankraum drang und die Gespräche an den vereinzelt besetzten Tischen ersterben ließ.
Während der Wirt ihr ungefragt ein großes Bier vor die Nase setzte und
mit sichtlichem Stolz erklärte, dass er heute auch Bratkartoffeln ohne Speck im Angebot hätte, fragte sie sich zum wiederholten Male, wie man eine Gaststätte Zur alten Post nennen konnte. Da fiel einem ja schon das Verabreden schwer. »Wollen wir uns heute Abend in Zur alten Post treffen?« »Gestern hatten wir einen echt tollen Abend in Zur Alten Post!« Idiotisch.
»Die probiere ich gerne, die revolutionären Bratkartoffeln, und dazu hätte ich gerne einen Salat – auch ohne Speck, wenn es geht.« Silvana lächelte, der Wirt nicht. Er nickte nur und zog die Stirn in Falten, und für einen kurzen Augenblick hatte Silvana das Bild vor Augen, wie er in der Küche mit einer Pinzette Speck aus dem Salat sortierte. In Zur Alten Post wohl durchaus nicht unrealistisch.
Während sie an ihrem Bier nippte und auf das Essen wartete, ließ sie den Tag noch einmal Revue passieren. Nachdem sie sich gefangen hatte, hatte sie ihre Mutter am Frühstückstisch noch gefragt, was denn aus dem Rest der Familie Behringer geworden war.
»Hellmuth, der Vater, ist kurz danach verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Hat die Familie wohl sitzen lassen. Die Meisten waren aber eh der Meinung, dass er denen keinen besseren Gefallen hätte tun können. Ganz unangenehmer Zeitgenosse, war das. Auch ein Säufer. Und man erzählt sich, dass er seine Frau regelmäßig verprügelt hat. Naja, so oft, wie die bei jedem Wetter eine Sonnenbrille aufhatte …« Ihre Mutter hatte eine gewohnt spektakuläre Augenbrauen-Choreographie zum Besten gegeben und dann weiter ausgeführt: »Renate, die Mutter, hat sich dann aber einige Wochen später im Keller erhängt. Hat ihr Schicksal wohl nicht mehr ertragen. Ja und Maren, die ältere Tochter, die ist dann wohl wieder in ein Sanatorium gekommen. War ja eh ein seltsames Mädchen … Ich kann mich erinnern, dass sie mit 13 oder 14 schon mal für ein paar Jahre in sowas untergebracht war. War wohl nicht ganz richtig im Kopf. Naja … Trotzdem: Armes Ding«, fügte ihre Mutter dann noch schnell hinzu. Schließlich war man in Rigendorf, trotz aller Vorbehalte gegen alles Fremde, voller Nächstenliebe.
Und dann hatte Silvana die entscheidende Frage gestellt, die, die ihrer Ahnung den Sinn geben würde, vor dem sie sich doch so fürchtete.
»Hatte Siegfried Häußler irgendwie mit der Sache was zu tun?«, hatte sie so teilnahmslos wie möglich gefragt. Aber ihre Mutter konnte sie nicht täuschen. Das hatte sie noch nie gekonnt. Bis auf das eine Mal, vielleicht, damals, vor 17 Jahren.
Sie richtete sich auf und blickte Silvana misstrauisch an. »Wieso fragst Du?«
»Nur so …«, erwiderte Silvana lahm. »Keine Ahnung. Vielleicht habe ich mal sowas gehört …«
»Nach der Sache mit dem Jonas war der Siggi nicht mehr derselbe. Alle haben sich gefragt, warum ihm das so nahe ging. Manche munkeln, er wäre der anonyme Anrufer gewesen, der damals den Notruf abgesetzt hat. Der wohnte ja nicht weit vom See. Aber gesagt hat er nie irgendwas. Wer weiß … So oder so: Ist schon tragisch, dass er nun auch im selben See ertrunken ist.« Ihre Mutter hatte ihr noch einen prüfenden Blick zugeworfen und dann begonnen, den Tisch abzuräumen. Das Gespräch war beendet, die Vergangenheit nicht länger erwünscht.
Aber Silvanas Hirn lief da bereits auf Hochtouren. Das war es, was Obermeister Gerken damals erwähnt hatte und sie einfach nicht greifen konnte: Der Schlobusch-See. Ein Puzzlestück nach dem anderen fügte sich zusammen, und während die Lücken immer kleiner wurden, begann das Unbehagen zu wachsen.
Von der Theke aus beobachtete der Wirt besorgt, wie Silvana gedankenverloren in den Bratkartoffeln rumstocherte. Ganz offensichtlich sah er seine vegetarischen Expansionsgedanken in akuter Gefahr, daher nickte sie ihm kurz ermutigend zu, um den zarten Knospen dieses gewagten Vorhabens zu schmeicheln. Der Wirt lächelte erleichtert zurück und fuhr fort, Gläser zu polieren.
Am frühen Nachmittag hatte auch Moritz ›The Brain‹ Gerken zurückgerufen, um ihr mitzuteilen, dass seinem untrüglichen polizeilichen Scharfsinn zufolge Lorenz Dahlmann mit Sicherheit einen Rückfall hatte und somit irgendwo delirierend in seiner eigenen Kotze liegen dürfte. Ganz so hatte er es natürlich nicht ausgedrückt, aber unmissverständlich so gemeint. Ihre Einwände hatte er nachsichtig brummend zur Kenntnis genommen, um ihr anschließend nahezulegen, nicht so viele Krimis zu schauen und sich zu entspannen. Er würde die Lage natürlich weiterhin im Auge behalten. Das sei sehr beruhigend, hatte sie in den Hörer gehaucht und das Gespräch mit dem Mittelfinger beendet.
Sie starrte auf das Handy, das neben ihrem iPhone auf dem Tisch lag und
nahm es schließlich zögerlich in die Hand. Lorenz Dahlmann hatte sich immer noch nicht gemeldet und sie war sich inzwischen sicher, dass, wo immer er auch rumlag, er es nicht delirierend tat. Ihm war etwas zugestoßen. Und alles sprach dafür, dass sie die Nächste war. Es war Zeit, sich der Vergangenheit zu stellen. Sie entsperrte das Smartphone, öffnete das Foto und betrachtete es ganz genau, zwang sich, jedes Gesicht bewusst wahrzunehmen. Und dann sah sie ihn. Halb im Schatten eines Sonnenschirms, der trotz der bereits untergegangene Sonne noch immer geöffnet war. Er saß an einem Tisch, die rechte Hand umklammerte ein leeres Bierglas, die Linke verschwand unter dem Tisch. Das Hemd war weit geöffnet, das Haar klebte ihm verschwitzt an der Stirn. Links neben ihm saß seine Tochter Maren, farblos, die Lippen verkrampft aufeinandergepresst, den Blick starr geradeaus. Sein Blick fixierte etwas, schräg gegenüber. Silvana wusste, was es war — wer es war. Sie selbst. Silvana Schuler. 15 Jahre, lasziv und selbstverliebt.
Sie vergrößerte den Ausschnitt und biss sich auf die Unterlippe. Man konnte nicht eindeutig erkennen, wo Hellmuth Behringers linke Hand war. Aber Silvana wusste in diesem Moment genau, dass sie an einem Ort war, wo die Hand eines Vaters niemals sein durfte.
Dezember 2002
Silvana saß im Schneidersitz auf Jonas’ Bett und las ihm eine Geschichte vor. Der Junge lag wie immer auf dem Rücken, die Decke bis ans Kinn, die Arme unter der Decke und schaute mit leerem Blick durch sie hindurch. Wahrscheinlich hätte sie ihm auch aus dem Telefonbuch vorlesen können, es hätte keinen Unterschied gemacht. Sie warf einen Blick durchs Fenster und sah den Schnee leise aus dem abendlichen Himmel fallen. Alle anderen Kinder, bei denen sie babysittete, waren in der Vorweihnachtszeit aufgeregt und aufgedreht, kaum zu bändigen, der Mund stand niemals still. Sie wurden nicht müde zu erklären, wie brav sie ja das ganze Jahr gewesen waren und dass Silvana das doch bitte auch bestätigen sollte, falls der Weihnachtsmann bei ihr anrief, um nachzufragen. Das würde sie natürlich tun, falls Benny jetzt die Zähne putzen, Sara die Augen zumachen und Pia das Zimmer aufräumen würde — für einen Babysitter war die Vorweihnachtszeit großartig.
Aber bei Jonas war das alles nicht notwendig. Er tat, was immer sie ihm
auch sagte. Ihm schien nichts wichtig, weder Geburtstag, Ostern noch Weihnachten. Jonas machte nur stumm, was man ihm auftrug. Ohne Widerworte. Sowieso sprach er so gut wie kein Wort, als wäre er leicht zurückgeblieben. Im Grunde also der Traum eines jeden Babysitters, wäre da nicht dieser undefinierbare Blick, mit dem er einen ständig anstarrte. Vorwurfsvoll? Resignierend? Sie konnte es nicht sagen, aber er verursachte ihr immer wieder eine Gänsehaut.
Plötzlich sog Jonas scharf die Luft ein und schloss verkrampft die Augen. Silvana sah ihn überrascht an, als sie von der leicht geöffneten Türe des Kinderzimmers ein Geräusch hörte. Ihre Nackenhaare richteten sich auf und sie wendete langsam den Blick.
Hellmuth Behringer stand in der Tür und schaute ins Zimmer. Aber er blickte nicht zu seinem Sohn, wie es ein fürsorgender Vater tun würde. Schwer atmend, mit gerötetem Kopf, starrte er Silvana an, die linke Hand am Türrahmen, die Rechte tief in seiner Hosentasche. Sie folgte seinem Blick und wurde sich schlagartig bewusst, dass er ihr direkt unter den Rock stierte. Sie sprang auf, strich mit den Handflächen den Rock so tief wie möglich und griff nach ihrer Jacke und ihrem Rucksack.
»Ich muss dann jetzt auch mal nach Hause«, sagte sie zu Jonas, der weiterhin reglos im Bett lag, die Augen fest geschlossen. Silvana ging zur Zimmertüre, aber Hellmuth Behringer machte keine Anstalten, den Weg freizumachen. Sie zwang sich, ihn direkt anzusehen und versuchte ein halbwegs neutrales Lächeln zustande zu bringen. »Ich bin spät dran, meine Mutter wartet schon auf mich.« Sie nahm allen Mut zusammen und machte einen Schritt auf ihn zu. Nach kurzem Zögern machte er gerade so viel Platz, dass sie sich vorbeidrücken konnte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Die leichte Berührung, als sie sich an ihm vorbeidrängte, ließ Panikwellen ihren Körper durchlaufen. Kurz glaubte sie aus dem Augenwinkel zu sehen, dass er die Hand hob, so, als wolle er sie zurückhalten. Aber er ließ sie gehen. Wie in Trance hastete sie zum Ausgang, fixierte die Haustüre wie eine Ertrinkende die Wasseroberfläche.
»Warte kurz!«, rief er plötzlich mit heiserer Stimme. Silvana erstarrte.
»Was ist mit Deinem Geld?«, fragte er und fing an an seiner Gesäßtasche zu nesteln.
»Machen wir beim nächsten Mal!«, rief sie über die Schulter und öffnete die Haustüre.
»Nächsten Donnerstag? Wie immer?«, fragte er hinter ihrem Rücken und sie glaubte eine Mischung aus Enttäuschung und erregter Erwartung in seiner Stimme zu hören.
»Klar«, sagte sie und verließ das Haus. Die ersten Meter zwang sie sich, nicht in Trab zu fallen. Aber als sie die nächste Hausecke erreicht hatte, begann sie, zu rennen.
16
Das war am 12. Dezember 2002 geschehen. Silvana sah plötzlich alles klar vor ihrem inneren Auge. Jedes Detail, die Gerüche, ihre Panik — sie sah alles so deutlich vor sich, als wäre es erst gestern geschehen. Sie hatte Niemandem davon erzählt. Nicht ihren Freundinnen, nicht ihrer Mutter und schon gar nicht Jens. Stattdessen hatte sie vorgegeben, keinen Bock mehr zu haben, auf den kleinen Schwachkopf Jonas aufzupassen, hatte zu laute Witze über den Jungen gemacht. Sehr zur Freude ihrer Clique.
Am folgenden Donnerstag hatte sie Renate Behringer, die Mutter von Jonas angerufen, ihr gesagt, dass sie leider nicht kommen könnte, da sie krank wäre, hatte sich mit der Truppe verabredet, rumgehangen, getrunken und schließlich mit Jens gevögelt. Einfach machen, worauf sie Lust hatte, hatte sie sich eingeredet. Das Geschehene hatte sie langsam ausgeblendet, verklärt, verharmlost und schließlich ganz nach hinten in ihren Kopf geschoben, Tür zu, Licht aus.
Bis heute. Jetzt saß sie hier, 17 Jahre später, nur einen Steinwurf entfernt von den Orten, wo sich diese Dinge zugetragen hatten und sah alles wieder ganz deutlich vor sich. Jonas Behringer in seinem Bett, Hellmuth Behringer in der halb geöffneten Zimmertüre, Jens, der sich, massive sexuelle Erfahrungen vortäuschend, sensationell blöd anstellte. Zwei Minuten Schmerz und Ernüchterung. Sie erinnerte sich, wie sie neben ihm lag, eine Zigarette rauchte, weil man danach eben eine Zigarette rauchte und an das Geräusch des Martinshorns, anschwellend und schließlich verstummend. Das war der Abend des 19. Dezember 2002 gewesen. Der Abend, an dem sie ihre Jungfräulichkeit verlor — und Jonas Behringer sein Leben.
17
Stevie Wonder riss sie aus ihren Gedanken und die entsetzten und genervten Blicke, die von den Nachbartischen kamen, machten ihr deutlich, dass er wohl schon eine ganze Weile über glückliche Geburtstage trällerte. Sie griff das Handy, nahm das Gespräch an und lauschte.
»Hallo Silvana«, sagte eine weibliche Stimme.
»Hallo Maren«, erwiderte Silvana. »Gerade hab’ ich an Dich gedacht.« Kurze Stille.
»Seit wann weißt Du es?«, fragte Maren Behringer dann.
»Ich würde mal schätzen, so seit 3 Minuten«. Silvana war überrascht, wie
ruhig sie mit einem Mal war.
»Ich habe Dich die letzten Tage beobachtet. Habe mich gefragt, wie lang
Du wohl brauchst …« Maren stieß einen kurzen Seufzer aus. »Naja, egal. Wir sollten es jetzt dann auch zu Ende bringen, meinst Du nicht auch?«
Silvana lachte kurz und humorlos. War die Frau komplett durchgeknallt?
»Was bitte schön soll mich denn davon abhalten, jetzt die Polizei zu verständigen und in Ruhe abzuwarten, bis sie Dich eingebuchtet haben?«
»Ach, Silvana«, Maren klang beinahe mitleidig. »Du warst noch nie die Hellste, oder? Was sagt man noch über hübsche, blonde Frauen …?« Sie wartete die Antwort nicht ab. »Wir sehen uns, bis später«, sagte sie und legte auf.
Silvana starrte ungläubig auf das Handy, als ihr eigenes iPhone auf dem Tisch den Eingang einer Nachricht signalisierte. Sie öffnete die Mitteilung und augenblicklich gefror alles Blut in ihren Adern. Entsetzt starrte sie auf ein Foto, ganz offensichtlich mit einer Handykamera aufgenommen. Es zeigte einen alten Bürostuhl auf Rollen, an dem ein Seil befestigt war, das auf den Betrachter zulief und dessen Ende nicht zu sehen war. Auf dem Stuhl stand, geknebelt und mit einer Schlinge um den Hals, die an einem Haken in der Decke befestigt war, ihre Mutter und schaute panisch ins Objektiv. Unter dem Bild stand ein Text:
›Komm nach Hause, Silvana. Mama wartet auf Dich. Und bring keine unangemeldeten Freunde mit. Du weißt doch, sie mag das nicht.‹
Silvana sprang so schnell auf, dass ihr Stuhl nach hinten kippte und das halb volle Bierglas vom Tisch fiel, wo es splitternd zerbarst. Sämtliche Geräusche in der Kneipe erstarben und alle Augen richteten sich auf sie. Aber das interessierte sie nicht. Sie riss ihre Jacke von der Lehne am Boden, griff nach ihrer Tasche und rannte nach Hause, so schnell sie konnte.
18
»Schön, dass Du es so schnell einrichten konntest.« Maren Behringers verkniffene Lippen umspielten ein ironisches Lächeln. Sie saß im Lieblingssessel ihrer Mutter und Silvana stellte erstaunt fest, dass um sie herum die Polster der Gartenmöbel ihrer Mutter lagen.
Maren hielt das gestraffte Seil in der Hand, während ihre Mutter versuchte das Gleichgewicht zu halten. Ihre Gesichtsfarbe deutete darauf hin, dass sie Mühe hatte, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Mit Entsetzen stellte Silvana fest, dass ihre Mutter keine Schlinge, sondern einen Kabelbinder um den Hals hatte. Die Lasche hatte ein kleines Loch, an dem das Drahtseil mit einem Haken befestigt war. Was auch passieren würde: Sollte ihre Mutter fallen, würde sich der Kabelbinder unbarmherzig zuziehen und nichts könnte sie dann noch retten.
Silvana kämpfte mit den Tränen. »Ich bin hier, also lass meine Mutter von dem verdammten Stuhl runter.«
Maren war höchstens 3 Jahre älter als Silvana, sah aber mindestens 10 Jahre älter aus. Ihre Haut war blass, die schon ergrauenden, schwarzen Haare umrahmten dünn und leblos ihr verlebtes Gesicht. Nur in ihren ruhelosen Augen funkelte ein fiebriges Feuer. Sie wirkte wie eine auslaufende Schwarz- Weiß-Fotografie, die zäh aber unaufhaltsam die fröhlichen Farben im Wohnzimmer ihrer Mutter überdeckten.
»Halt den Mund, Du Flittchen!« Maren Behringer sprang auf. Mit wutverzerrtem Gesicht machte sie einen Schritt auf die völlig überraschte Silvana zu, das Seil in ihrer rechten Hand straffte sich, der Stuhl auf dem ihre Mutter stand, begann sich sacht zu drehen. Mit weit aufgerissenen Augen versuchte ihre Mutter verzweifelt das Gleichgewicht zu halten. Silvana schrie auf und hob abwehrend die Hand, als könne sie den Sturz durch diese Geste verhindern, als Marens linke Hand blitzschnell vorschoss und Silvanas Hals traf. Sie spürte einen kurzen, stechendend Schmerz, öffnete überrascht den Mund, um etwas zu sagen. Dann drehte sich der Raum, sie sackte zusammen und die Welt um sie herum wurde schwarz.
19
Das erste, was sie wahrnahm, war der Geruch von Kunststoff in abgestandener, warmer Luft. Sie versuchte, sich zu bewegen, aber ihr Körper gehorchte ihr nicht. Auch das Atmen fiel ihr ungewohnt schwer. Silvana öffnete die Augen und blickte auf den Wohnzimmerteppich ihrer Mutter. Aber irgendwas stimmte mit ihren Augen nicht. Egal, wie oft sie blinzelte, das Bild blieb seltsam verschwommen. Zwei billige, schwarze Halbschuhe erschienen direkt vor ihrem Gesicht. Silvana versuchte den Kopf zu drehen, um nach oben zu schauen, aber auch das gelang ihr nicht, so sehr sie sich auch anstrengte. Nur ihre Augen konnte sie bewegen, also schielte sie hinauf, schaute in Maren Behringers Gesicht, das zufrieden und erwartungsvoll auf sie hinabsah. Was war mit ihrer Mutter? Lebte sie noch?
»Was hast Du mir gegeben, Du durchgeknallte Hexe?!«, wollte sie rufen, aber über ihre Lippen kamen nur gekrächzte Worte.
»Toxiferin. Oder Curare, wenn Dir das besser gefällt. Wenn man weiß, wie es geht und mit ein bisschen Übung, lässt es sich ganz gut selbst herstellen. Aber die Dosierung ist überaus knifflig. Ich musste einige missglückte Versuche hinnehmen, bis ich den Dreh raushatte«, erwiderte Maren mit unüberhörbarem Stolz und Silvana wollte sich gar nicht ausmalen, was ›einige missglückte Versuche‹ zu bedeuten hatten.
Die Luft wurde immer stickiger und durch den Kunststoffgeruch begann ihr übel zu werden. Jetzt bloß nicht auch noch kotzen!
»Warum Siggi Häußler?«, brachte Silvana mühsam hervor. Ihr Blick wollte einfach nicht klarer werden. »Hat er nicht den Rettungswagen gerufen?«
»Doch, das hat er«, antwortete Maren. Ihre Stimme klang gedämpft und sie war nur schwer zu verstehen. »Aber viel zu spät, die feige Ratte!« Die kalte Wut war zurück. »Wusstest Du, dass der Idiot zum Eisangeln auf dem See war? Er hatte ein Loch ins viel zu dünne Eis geschlagen und seine Angel reingehängt. Hat nichts von den Rissen bemerkt, die er verursachte. Erst als Jonas neugierig zu ihm aufs Eis gelaufen kam und beide einbrachen, hat er es geschnallt. Aber hat er Jonas geholfen? Nein!«, spie sie aus und ihre Stimme troff vor Verachtung. »Er hat seinen eigenen Arsch gerettet, ist an Land gekrochen und hat sich heulend in seiner Garage versteckt. Erst nach einer halben Stunde hat er es für nötig gehalten, den Notruf zu wählen. Anonym, natürlich …« Maren stieß die Luft durch die Zähne aus. »Ich habe ihn in eine Eistonne gepackt und ihm gezeigt, wie es für Jonas war. Ich habe ihm genau in die Augen geschaut, als er seine letzten Atemzüge nahm. Er wusste, dass er es verdiente. Ich kenne jetzt den Blick der Gerechtigkeit.«
Silvanas linker Daumen begann zu zucken und sie konnte es spüren. Ließ das Gift nach? Hatte Maren sich mit der Dosis verkalkuliert? Aber wieso wurde es immer schwerer zu atmen? Sie musste Zeit gewinnen.
»Wo ist Lorenz Dahlmann?«, fragte sie und versuchte ihre anderen Finger zu spüren. Es kribbelte, aber sie konnte sie nicht bewegen. Was war mit ihrer Mutter? Sie schielte in die Richtung, wo sie den Drehstuhl vermutete, konnte aber nichts erkennen.
»Ha, Lorenz!«, lachte Maren auf und es klang, als erinnere sie sich an eine amüsante Anekdote aus ihrer Jugend. Dann änderte sich ihr Ton und Verbitterung schwang in ihrer Stimme. »Weißt Du eigentlich, wie dreckig es mir ging, Silvana?«, änderte sie plötzlich das Thema und Silvana überlegte, was sie antworten sollte. Aber bevor sie reagieren konnte, fuhr Maren fort. »Während Du weiter rumgehurt und Dein Leben genossen hast, als ob nichts geschehen wäre, bin ich gefallen. Tiefer und immer tiefer. Mein Leben war die Hölle. Das Einzige, was mir je etwas bedeutet hat, habe ich in einem kleinen Sarg in die Erde fahren sehen. Ich habe mir alles eingeworfen, alles gesoffen, was in der Lage war, mein Bewusstsein für einen kurzen Moment zu betäuben. Ich war Dreck, nichts wert, hab auf der Straße geschlafen, bin auf den Strich gegangen und schließlich im Bau gelandet. Der Richter hat mich zu den Anonymen Alkoholikern geschickt und keinen Hehl draus gemacht, dass er mich sofort wieder einbuchten würde, wenn ich nicht hinginge. Also bin ich hin. Und was glaubst Du, wer mir dort über den Weg läuft? Lorenz Dahlmann! Der Idiot hat mich nicht erkannt. Wahrscheinlich, weil er früher 24 Stunden am Tag dicht war. Ich wusste, das musste ein Zeichen sein. Ich wusste nur nicht, wofür. Also habe ich mich mit ihm angefreundet, hab sein Vertrauen gewonnen. Der Hohlkopf war so dankbar …« Sie lachte gehässig und schien für einen Moment in Erinnerungen zu schwelgen, bevor sie weiterredete. »Und irgendwann hat er mir dann auch die Geschichte mit dem Unfall erzählt. Und dass er auch an dem Abend, als er den Krankenwagen fuhr, komplett dicht war. Aber offensichtlich hat in dem ganzen Chaos niemand daran gedacht, einen Alkoholtest zu machen. Es hat mich zerrissen. Aber ich habe mir nichts anmerken lassen. In diesem Moment habe ich zu Gott gefunden, Silvana.« Sie beugte sich etwas herab, um zu prüfen, ob Silvana die spirituelle Wucht dieses Moments verstanden hatte. »Gott hat mich dort hingesandt. Er wollte Gerechtigkeit. Auge um Auge. Und mich hatte er als sein Werkzeug auserwählt.«
Und auch, wenn Silvana immer noch alles verschwommen wahrnahm, konnte sie den Wahnsinn sehen, der nun endgültig von Maren Besitz ergriffen hatte. Er drang ihr aus jeder Pore.
»Er hat mir das auch mit dem Häußler erzählt. Den anderen ist es nicht aufgefallen, aber er hatte am See sofort gesehen, dass sich vorher jemand am Eis zu schaffen gemacht hatte. Und er wusste, dass Siggi ein dilettantischer aber passionierter Eisangler war.« Maren verstummte und ihr Blick flackerte einen Moment, dann wurden ihre Züge hart und sie beugte sich noch ein bisschen näher zu Silvana am Boden.
»Aber mit Dir, Silvana, mit Dir hat alles begonnen. Du trägst die Hauptschuld. Und jetzt wird es mit Dir auch enden. Dann ist meinem kleinen Bruder endlich Gerechtigkeit widerfahren.«
»Deinem kleinen Bruder, oder Deinem Sohn?«, fragte Silvana.
20
Maren zuckte zurück und richtete sich abrupt auf. Für einen kurzen Moment entspannte sich ihr Gesicht und nahm fast zärtliche Züge an.
»Er war das einzig Gute, was mir je widerfahren ist«, sagte sie leise, als spräche sie zu sich selbst. »Aber meine Mutter hat ihn gehasst, mein Vater hat ihn gehasst. Jonas war für ihn eine widerliche Missgeburt, ein Makel, das die Familie besudelte.« Sie lachte kurz auf und ihr Blick wurde wieder klar und hart. »Dabei war er der Parasit, der Teufel im eigenen Haus. Er hat mich besudelt, seit er nachts das erste Mal in mein Zimmer kam. Als ich schwanger wurde, hat er mich angeschrien, mich ein Flittchen genannt, behauptet, ich hätte mit der halben Stadt gevögelt. Er hat mich regelmäßig verprügelt, wohl in der Hoffnung, dass ich das Kind verliere. Als das nicht funktionierte, hat er mich in eine geschlossene Einrichtung einweisen lassen. Nach der Geburt hat er mich dort die nächsten Jahre vergammeln lassen und zu Hause hat er den Hengst markiert. Spätes Vaterglück.«
»Was war mit Deiner Mutter?«, fragte Silvana. »Warum hat sie das alles mitgemacht?« Sie glaubte inzwischen wieder den Kopf bewegen zu können, aber aus Angst, Maren könnte es bemerken, unterließ sie den Versuch, es auszuprobieren.
»Die Schlampe war froh, dass er sie in Ruhe ließ«, stieß Maren hervor. »Wahrscheinlich war sie sogar der Meinung, ich hätte es verdient. Hat die glückliche Hausfrau gespielt und den Kopf eingezogen.« Maren ging tief in die Knie, um Silvana direkt in die Augen zu schauen. »Aber Du warst es, die er haben wollte, Silvana. Seit dem ersten Mal, an dem er Dich gesehen hatte.« Ihre Stimme hatte einen vorwurfsvollen Ton angenommen und Silvana traute ihren Ohren kaum. »Ab dem Zeitpunkt ließ er mich in Ruhe. Interessierte sich nicht mehr für mich. Ich konnte mein Glück kaum fassen …« Für einen kurzen Moment huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. »Er war besessen von Dir. Wartete auf Dich. Und als meine Mutter ihm an dem Abend dann sagte, Du hättest abgesagt, da ist er komplett ausgerastet. Hat meine Mutter quer durch die Wohnung geprügelt, sich besoffen und dann hat er sich mit mir beschäftigt …« Maren beugte sich jetzt ganz nah zu ihr, ihre Augen waren kaum 10 Zentimeter voneinander entfernt. »Jonas muss fürchterliche Angst bekommen haben. Und es war keiner da, der sich um ihn kümmerte. Also lief er weg — direkt zum See …«
Maren schlug mit den flachen Händen auf ihre Knie, drückte die Beine durch und verschwand wortlos aus Silvanas Sichtfeld. Die Zeit des Redens war offensichtlich vorbei. Silvana versuchte den Kopf zu drehen und es funktionierte, wenn auch unerträglich langsam. Sie sah Maren mit etwas Kastenförmigem aus dem Nachbarraum zurückkehren und als sie das Ding erkannte, fielen ihr die im Wohnzimmer verstreuten Polster der Gartenmöbel wieder ein.
Augenblicklich wusste sie, wo sie war, woher der Geruch nach Kunststoff kam und warum sie immer noch nicht klar sehen konnte. Und das Entsetzten traf sie wie ein Vorschlaghammer.
Im letzten Herbst hatte ihre Mutter einen Aufbewahrungsbeutel für die Gartenpolster gekauft. Extra groß, durchsichtig, luftdicht verschließbar und der Clou: Ein Ventil, an den man den Staubsauger anschließen konnte, um die Luft abzusaugen. ›Vakuum Jumbo Cube XXL‹. Sie hatte keine Ahnung, warum ihr der Name in diesem Moment wieder einfiel, aber sie wusste definitiv, dass das Ding, welches Maren soeben neben ihr abstellte, Mutters guter, alter Staubsauger war.
Für einen Moment war sie nicht mehr in der Lage zu atmen, nur um anschließend hektisch zu hyperventilieren.
Großartig, Silvana. Du machst genau das, was man in dieser Situation auf keinen Fall tun sollte!
Mühsam versuchte sie, ihre Atmung unter Kontrolle zu kriegen, was ihr nur unzureichend gelang. Sie versuchte zu strampeln, aber ihre Muskeln fühlten sich an, als wäre sie 100 Jahre alt, jede Bewegung schlapp und in Zeitlupe. Darüber hinaus registrierte sie jetzt, dass ihre Hände und Füße ganz offensichtlich fixiert waren. Der Kabelbinder um den Hals ihrer Mutter fiel ihr wieder ein und die Resignation drängte vehement darauf, die Kontrolle zu übernehmen.
Maren fixierte den Schlauch des Staubsaugers am Ventil, rollte das Kabel aus und verband es mit einer Steckdose. Jede Bewegung war ruhig und kontrolliert, so als beabsichtige sie, den Wohnzimmerteppich zu saugen.
»Auge um Auge, Zahn um Zahn«, begann sie und klang dabei, wie eine Laienpredigerin. »Du trägst Schuld an Jonas’ Tod. Du nahmst ihm die Luft zum Atmen. Nun ist es an Dir, dafür auf gleiche Weise zu sühnen.« Sie hob den Fuß und ließ ihn für einen Moment über dem Schalter am Staubsauger schweben. Dabei verlor sie für einen Augenblick das Gleichgewicht, was dem dramatischen Moment etwas surreal Komisches gab. Dann fing sich Maren und ließ den Fuß sinken. Der Staubsauger heulte auf, Silvana tat es ihm gleich. Augenblicklich begann ihr transparentes Gefängnis zu schrumpfen. Die dicke Kunststofffolie knisterte laut, warf Falten, näherte sich unaufhaltsam ihrem Körper — und ihrem Gesicht. Die Luft wurde immer dünner und stickiger. Als das Plastik ihre linke Wange berührte, schrie Silvana laut auf und zuckte entsetzt zurück, als hätte sie die Wange an eine glühende Herdplatte gelegt. Das Geräusch des Saugers wurde höher, seine Arbeit schwieriger. Der Kunststoff begann sich an ihre Stirn und die andere Wange zu pressen, Atmen wurde beinahe unmöglich, sie hielt die Luft an und Panik verdrängte jede andere Regung in ihrem Körper.
21
Alois Brammertz war ein Kavalier der alten Schule. Einer Dame in den Mantel zu helfen oder ihr die Türe zu öffnen, war für ihn eine Selbstverständlichkeit. Aber seit seine Frau vor 8 Jahren viel zu früh von ihm gegangen war, hatte er sich keine Gedanken um eine neue Partnerin gemacht. Zu tief saßen Verlust und Schmerz. Bis zu dem Tag, an dem Elisabeth Schuler seine Metzgerei betreten hatte. Sie war adrett, gepflegt, hatte Humor, war unverheiratet und vor allem: sie konnte ein gutes von einem falschen Filet unterscheiden. Sein Interesse war geweckt und er meinte zu spüren, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte.
Aus diesem Grund hatte er heute auch Hemd und Jackett angezogen, um ihre Bestellung — etwas Aufschnitt und ein Kilo feinsten Rinderbraten — persönlich auszuliefern. So stand er also jetzt vor Elisabeth Schulers Haustüre, in der Linken frisch verpackte Fleischerkunst und klingelte zum zweiten Mal. Anfangs hatte er sich noch überlegt, ob er noch einen Strauß Blumen besorgen sollte, hatte die Idee dann aber als zu offensiv verworfen. Er wollte der Ernsthaftigkeit seiner Absichten durch kecken Übermut keinen Schaden zufügen. Mal ganz abgesehen von den Blicken und erhobenen Augenbrauen, die er dann auf dem Weg mit Sicherheit geerntet hätte.
Auch nach dem zweiten Klingeln öffnete niemand die Haustüre, aber er konnte deutlich den Staubsauger im Inneren des Hauses hören. Zuerst wollte er wieder gehen und es später erneut versuchen, aber ihn überkam plötzlich eine unerklärliche Unruhe und einem Impuls folgend, drückte er auf die Klinke. Die Haustüre schwang auf und das Heulen des Staubsaugers wurde augenblicklich lauter. Er runzelte die Stirn. Ganz offensichtlich hatte sich das Gerät irgendwo festgesaugt, aber niemand schien diesen Missstand beheben zu wollen.
Vorsichtig lief er in Richtung des Geräuschs, sich wohl bewusst, dass er sich über alle Maßen ungehörig verhielt. Sollte Fräulein Schuler in diesem Moment um die Ecke kommen und ihn entdecken, er würde vor Scham im Boden versinken.
Er erreichte die geöffnete Tür des Raums, in dem der Staubsauger lief, klopfte an den Türrahmen und räusperte sich vernehmlich. Nichts geschah. Vorsichtig blickte er um die Ecke und was er sah, ließ ihn etwas tun, was er unter allen anderen Umständen als unverzeihlichen Frevel angesehen hätte: Er ließ den Rinderbraten fallen.
22
Alois Brammertz stürzte in den Raum, direkt auf den Drehstuhl zu, auf dem Elisabeth Schuler noch immer an einer Schlinge balancierte. Die Situation ließ ihn jede Zurückhaltung vergessen. »Lisbeth! Um Gottes Willen!«
Der Schrei riss Maren Behringer aus ihrem tranceähnlichen Zustand, in dem sie fasziniert beobachtet hatte, wie das Leben aus Silvana gesaugt wurde. Wer war denn der alte Idiot, der Gottes Vergeltung so respektlos störte? Als sie sah, dass er die Mutter von der Hexe vom Stuhl holen wollte, sprang sie vor und riss an dem Seil, das noch immer um die Stuhllehne gebunden war. Dabei stolperte sie über das Kabel des Staubsaugers und riss den Stecker aus der Steckdose. Der Motor lief langsam aus und fast hörte es sich an, als würde der Sauger nach der anstrengenden Arbeit erleichtert aufatmen.
Silvana versuchte, den kargen Rest Luft im Beutel in ihre Lunge zu pressen und rollte leicht zur Seite. Die neue Perspektive gab ihr freie Sicht und durch die Folie des Beutels starrte sie ungläubig auf die Szene, die sich im Wohnzimmer abspielte.
Ein seltsamer Mann im Jackett und mit auffällig rosigen Wangen, hatte ihre Mutter blitzschnell an den Hüften gepackt, kurz bevor der Stuhl unter ihr wegglitt. Ihre Mutter an seinen Körper gepresst tanzte er nun beachtlich geschickt auf einem Bein, während er mit dem Anderen nach Maren Behringer trat, die mit wutverzerrtem Gesicht auf ihn zulief. Der Tritt traf sie direkt in den Solar Plexus, und mit einem Ausdruck ungläubigem Erstaunens fiel sie der Länge nach rückwärts auf den Boden. Mit geweiteten Augen drehte sich Maren auf den Bauch und versuchte, mit hängendem Kopf, wieder Luft zu bekommen. Dieser Augenblick der Freude währte für Silvana jedoch nicht allzu lang. Maren rappelte sich hoch, verharrte kurz auf allen Vieren und nahm ein paar tiefe Atemzüge. Der Mann hielt derweil immer noch ihre Mutter fest im Griff, aber unfähig sich vom Platz zu bewegen, ohne Elisabeth Schuler loszulassen. Dann hob Maren Behringer den Kopf und schaute Silvana direkt in die Augen. Ihre Blicke bohrten sich ineinander. Maren streckte das Kinn nach vorne und riss entschlossen die Augen auf. Dann nahm sie den Stecker, steckte ihn zurück in die Steckdose und sprang auf. Der Staubsauger protestierte kurz und setzte heulend seine Arbeit fort.
Augenblicklich entwich der letzte Rest Luft aus dem Beutel. Der transparente Kunststoff schmiegte sich an Silvanas Beine, Arme, ihr Gesicht, ihre Augen, ihre Nase, ihren Mund. Sie versuchte noch einmal Luft zu holen, aber da war nichts, ihre Lungen blieben leer und begannen panisch zu protestieren. Eine seltsame Ruhe überkam sie, ihre verkrampften Muskeln entspannten sich.
Lass es nur schnell vorbeigehen ..
Sie meinte einen lauten Knall zu hören, war sich aber nicht sicher, ob es vielleicht ihr implodierender Kopf war, wobei sie der Gedanke nicht im Mindesten erschreckte. Sie nahm es eher mit erstauntem Interesse wahr. Ihr Sichtfeld verengte sich, die Farben verschwanden, langsam kroch von allen Seiten die Dunkelheit heran.
Ein dumpfer Aufschlag war zu hören, etwas fiel direkt neben ihr zu Boden. Und als sie mit größter Kraftanstrengung ein letztes Mal den Blick fokussierte, starrte sie in die weit aufgerissenen, leblosen Augen von Maren Behringer.
Echt jetzt?! Das Letzte, was ich sehe, ist diese durchgeknallte Irre?!, war ihr letzter Gedanke, dann kam die Finsternis, überraschend warm und weich.
23
LUFT!
Silvana riss den Mund auf, füllte gierig japsend ihre verkümmerte Lunge. Ihr Brustkorb hob sich, verharrte einen kurzen Moment, unwillig, seine Beute wieder freizugeben. Erst als jedes Sauerstoffmolekül in ihren Körper gedrungen war, stieß Silvana die Luft aus den Lungen, begleitet von der lähmenden Furcht, dass es keinen weiteren Atemzug mehr geben könnte. Aber die Angst war unbegründet. Langsam, Zug um Zug, beruhigte sich ihre Atmung und ihre zur Faust geballten Hände öffneten sich vorsichtig.
»Ja, Hallo! Schön, dass se wieder bei uns sind«, sagte eine fröhliche Stimme
direkt über ihr.
Sie hob vorsichtig die Lider und blickte auf eine Hand, die ihr eine Maske
über Mund und Nase hielt. An der Hand hing ein Sanitäter, der ihr unbekümmert zuzwinkerte.
Silvana drehte leicht den Kopf und durch die geöffneten Türen des Rettungswagens sah sie, wie zwei Männer eine zugedeckte Bahre aus dem Haus ihrer Mutter trugen.
»Mama?!« Sie riss sich die Maske vom Gesicht und richtete sich auf.
Der Sanitäter drückte sie sanft zurück auf die Liege. »Ihrer Mutter geht es gut.«, sagte er und versuchte, ihr die Maske wieder aufzusetzen. »Die ist schon auf dem Weg ins Krankenhaus, hat aber offensichtlich nur nen Schock. Ihr Mann ist bei ihr und lässt sie nicht aus den Augen. Der hat die Kollegen derart rumkommandiert, dass der Notarzt kurz davor war, ihn zu sedieren …«
Silvana runzelte die Stirn. »Ihr Mann? Meine Mutter ist nicht verheiratet …«
»Nicht? Ja, dann aber sicher bald.«, erwiderte der Sanitäter grinsend und fühlte ihren Puls.
Silvanas Blick fiel wieder auf die Bahre, die gerade in einen Leichenwagen geschoben wurde. Der Sanitäter folgte ihrem Blick und sein Gesichtsausdruck wurde ernst.
»Sie hatten verdammtes Glück, junge Frau«, sagte er und nickte in Richtung einer Gruppe von Polizeibeamten, die vor einem Streifenwagen standen und einem gut aussehenden Mann Mitte Dreißig einen Plastikbeutel hinhielten. Moritz Gerken nahm seine Waffe aus dem Schulterholster und ließ sie vorsichtig in den Beutel gleiten.
»Keine Ahnung, wo der plötzlich herkam, aber wenn der nicht gewesen wäre, lägen Sie jetzt auf der Bahre.« Der Sanitäter war mit ihren Vitalwerten inzwischen offensichtlich zufrieden und nahm ihr die Maske vom Gesicht. »Diese Irre ist wohl mit ner Giftspritze auf ihn los, da hat er geschossen. War tot, bevor sie auf dem Boden aufschlug.« Er öffnete den Mund, als wolle er noch etwas hinzufügen, schwieg dann aber.
Moritz Gerken verabschiedete sich von den Beamten und kam zur geöffneten Türe des Rettungswagens. Im Licht der Innenbeleuchtung erkannte Silvana, dass er blass und müde aussah.
»Mal ganz ehrlich, Obermeister Gerken:« Silvana richtet sich halb auf und schaute ihm in die Augen. »Wer von uns beiden sieht beschissener aus?«
Gerken lächelte schief und blickte kurz prüfend in die Scheibe der Fahrzeugtüre. »Keine Frage: Sie.«
Silvana sank zurück auf die Liege und lächelte. »Charmant. Und warum sind Sie hier? Haben Sie sich etwas Sorgen um mich gemacht?«
Moritz Gerken kratzte sich verlegen an der Brust und räusperte sich umständlich. »Neue Ermittlungsansätze, geänderte Spurenlage … sowas halt …«, brummte er lahm und errötete.
»Beeindruckend!«, erwiderte Silvana und schloss grinsend die Augen. »Davon müssen Sie mir unbedingt mal bei einem Bier erzählen.« Dann schlief sie ein.
Hi, es hat Spaß gemacht, Deine Geschichte zu lesen. Gut geschrieben und echt spannend. Musste auch das ein oder andere mal schmunzeln 🙂
Vielleicht hast Du ja Lust, mal einen Blick über meine Story zu werfen, würde mich über Feedback freuen.
“ der Spiegel “.
Liebe Grüße 🙂
Sehr gute Story. Hat mich richtig mitgerissen. Hast nen like ;).
Das einzige, was mich etwas gestört hat, sind die Absätze WÄHREND einzelner Sätze gewesen. Also wenn die Sätze eigentlich zusammen gehören. Das stört echt den Lesefluss! Aber sonst topp :).
Würde mich auch über Leser freuen. Meine beiden Stories heißen “Leos Geheimnis” und “verlorene Identität”.
Vielleicht lässt du mir auch ein Feedback da? (Oder ein like, wenn sie dir gefallen?)
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll und wie ich meine Meinung begründe.
Egal.
Ich versuche es einfach.
Also, deine Geschichte hat mir leider überhaupt nicht gefallen. Sie war langweilig und öde …..
Sorry.
Ich kann so was nicht.
Das war natürlich ein Scherz.
Ich habe jetzt etwa 60 bis 70 Kurzgeschichten dieses Projektes gelesen, und deine Story war das absolut Beste, was mir die letzten Tage vor die Augen gekommen ist.
Was für eine unfassbar gute, herausragende, einmalige, perfekt umgesetzte Geschichte.
Na ja.
Eigentlich ist das ja fast schon ein kleiner Roman.
Fitzek hätte es definitiv nicht besser hingekriegt.
Verdammt!
Warum bitteschön gehörte deine Geschichte nicht zu den 10 Siegertiteln?
Haben da die Juroren gepennt?
Egal.
Du hast einen unglaublich tollen Stil. Deine Sprache ist geschliffen, gereift, ausgereift, perfekt und einzigartig. Dein Humor ist sensationell.
Deine Ausdrucksweise grandios.
Ohne Mist.
Ich erkenne das alles komplett neidlos an, denn bisher hat mich keine der teilweise guten bis sehr guten Stories so dermaßen begeistert.
Du bist ein Könner. Ein Vollprofi.
Definitiv.
Man spürt es in jeder Sekunde, in jeder Zeile.
Die Geschichte ist gnadenlos cool ausgedacht, erarbeitet. Das Verbrechen in 2002 in sich stimmig, schlüssig, hart, kreativ.
Und die Ereignisse im Hier und Jetzt ebenfalls.
Sehr, sehr gut.
Deine Geschichte ist ein Diamant, ein Juwel.
Sende sie ein, verlange nach einem wachen Juror, und das Ding wird entweder veröffentlicht oder direkt verfilmt.
Ich könnte noch so viel schreiben.
Weil ich einfach so dankbar und so begeistert bin.
Ich lass es aber.
Hinterher denken andere Leser noch, ich sei gekauft oder bestochen.
Also, ich hoffe, dass deine Geschichte nicht ins EBook kommt.
Ich hoffe, dass dich über diesen Weg hier jemand entdeckt und dir direkt einen Solo-Buchvertrag anbietet. Und dann kommt diese Story hier in dein Buch.
Verdient hättest du es.
Aber so wie du schreiben kannst, hast du diesen Vertrag bestimmt schon längst (habe dich nicht gegoogelt, weiß also nicht, an wen ich meine Worte gerade richte).
Vielen Dank für diese unfassbar geile Geschichte.
Ich wünsche dir das Glück der Welt …… und schreib weiter und weiter und weiter.
Und wenn dein Buch veröffentlicht wird, melde dich.
Liebe, hochachtungsvolle und kollegiale Grüße.
Swen Artmann (Artsneurosia)
Es wäre mir eine Ehre, wenn einer wie du meine Geschichte lesen würde. Vielleicht hast du ja Lust und Zeit.
Sie heißt: “Die silberne Katze”.
Ich mache es kurz… Herausragend!
Sei ehrlich… Du bist ein Profi, gell? 🙂
LIKE!