LillieElektrakomplex

 

1.

„Verdammt!“. Mia rüttelte energisch an der Türklinke, als würde das bei einer abgeschlossenen Tür etwas bringen. „Das kann doch echt nicht wahr sein.“ murmelte sie vor sich hin, rüttelte ein letztes Mal an der Tür und blickte sich suchend um. Kein Schlüssel zu sehen. Mit einem frustrierten Seufzer kramte sie ihr Handy aus ihrer Tasche und wählte die Nummer ihrer Mitbewohnerin Helena. Nach dem 4. Klingeln ging sie endlich mit gedämpfter Stimme ran. „Hey was gibt’s denn? Ich kann grad nicht wirklich telefonieren, ich sitz in ner Vorlesung.“ Helena studierte Medieninformatik und war vermutlich gerade umgeben von Nerds, die sie böse anschauten. „Ich brauch den Schlüssel für dieses bekloppte Sicherheitsschloss, das du angebracht hast. Das ist doch echt dämlich, ich will gar nicht wissen, gegen wie viele Sicherheitsvorschriften das verstößt, dass man ständig in der eigenen Bude eingeschlossen ist. Wie bescheuert ist das denn bitte, dass man leichter in die Wohnung reinkommt als wieder rauszukommen?! Wann kommt denn da endlich mal jemand, der das repariert? Und du hättest wirklich damals wenigstens mal zwei Schlüssel dafür machen lassen können, dann könnte jeder von uns einen haben und ich müsste…“ „Ja ja, ist ja gut!“ unterbracht Helena sie. „Ich bring heute Abend die Haken an, dann hängen wir den Schlüssel einfach immer da ran und gut ist! Den sieht dann sogar so ein Blindfisch wie du. Und der Schlüssel liegt in der Küche neben dem Toaster, so wie immer.“ „Oh…“, stieß Mia hervor, „Tut mir leid, hab ich echt voll übersehen.“ Mit rotem Kopf griff sie sich den Schlüssel und schloss die Tür auf. „Du bist echt durch den Wind in letzter Zeit.“, sagte Helena, die Sorge in ihrer Stimme wurde sogar im Flüsterton deutlich. „Wie wär‘s, ich bring heute Abend ne Flasche Wein mit und wir machen mal wieder einen Mädelsabend?“ „Du bist die Beste! Ich bin gegen 8 Uhr von der Arbeit zuhause, dann bis später!“ Mia legte auf, knallte die Wohnungstür hinter sich zu und rannte das Treppenhaus runter. Als sie aus der Tür trat, sah sie schon, wie ihr Bus von der Haltestelle wegfuhr.

Na toll, heute ist aber auch echt nicht mein Tag. Jetzt komm ich schon wieder zu spät, nur weil Helena so Schiss hat vor Einbrechern. Als würde es sich bei uns überhaupt lohnen, einzubrechen.

Sie tippte erneut eine Nummer in ihr Handy, diesmal die von ihrer Arbeit. „Hey Emilia, mir ist gerade der Bus vor der Nase weggefahren, ich komm zu spät, sorry.“ Mia blickte betreten auf den Boden, das war jetzt schon das 3. Mal in Folge. „Alles gut.“ lachte Emilia ins Telefon, „Ich halte hier so lange die Stellung, bis du da bist.“ „Danke!“ seufzte Mia erleichtert und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle.

2.

Eine Dreiviertelstunde später war sie endlich angekommen. Der Weg von Tempelhof bis Prenzlauer Berg konnte einem echt wie eine halbe Weltreise vorkommen, manchmal war ihr Berlin wirklich viel zu groß. „Da bin ich!“ Mia platzte leicht außer Atem zur Tür rein, Emilia saß schon mit gepackten Sachen am Empfangstresen und grinste sie an. „Schön, dass du uns doch noch mit deiner Anwesenheit beehrst.“ „Ha ha.“, lachte Mia sarkastisch und umarmte ihre Lieblingskollegin zur Begrüßung, „Was gibt’s Neues? Lerne ich heute endlich mal unsere neue Kollegin kennen?“ Mia arbeitete nun schon so viele Jahre für die Firma, dass sie sich fast wie ein zweites Zuhause für sie anfühlte. Deswegen passte es ihr auch überhaupt nicht, wenn jemand neues zu ihnen ins Empfangsteam kam und sie die Person nicht sofort unter die Lupe nehmen konnte. „Dafür müsstest du vielleicht mal pünktlich kommen.“ Emilia zwinkerte ihr zu und zog sich ihre Jacke an. „Wobei sie heute aber auch etwas früher gehen musste.“ „Hat gerade erst angefangen und will schon Extrawürste, na das kann ja was werden.“ brummte Mia. „Ach komm, jetzt hab dich nicht so. Und Marie ist wirklich nett, wirst schon sehen, ihr werdet euch bestimmt gut verstehen.“ Emilia lächelte ihr aufmunternd zu. „Marie…alleine den Namen kann ich schon nicht leiden, ich kannte auch mal eine Marie, die war…“. Auf einmal begann es hinter ihnen laut zu piepen und zu brummen. Emilia und Mia zuckten zusammen. „Halleluja, der Drucker funktioniert wieder!“ rief Emilia aus. „Das blöde Ding hat schon den ganzen Tag gesponnen. Viel Spaß mit dem ganzen Mist, den der jetzt ausspuckt.“ „Oh nein, das gibt’s doch nicht.“, stöhnte Mia. „Kann man das nicht irgendwie stoppen und die Leute, die ihre Ausdrucke jetzt noch brauchen, drucken es einfach noch mal aus?“ Emilia zuckte nur mit den Schultern. Kurz schauten beide etwas betreten auf den Drucker, der eine Seite nach der nächsten ans Tageslicht beförderte, dann verabschiedete Emilia sich und Mia machte sich daran, den Stapel bedruckter Blätter durchzuschauen. Alle paar Seiten seufzte sie laut und verdrehte genervt die Augen, als würde sie erwarten, der Drucker würde sich bei ihr entschuldigen und ihr einen Kaffee zur Wiedergutmachung anbieten.

Wirklich nicht mein Tag…

Plötzlich erhaschte ein Blatt Papier ihre Aufmerksamkeit. Das sah ja aus, als hätte jemand das Bild einer Frau über die komplette Seite ausgedruckt.

Jetzt wird’s interessant.

Jaja, Klatsch und Tratsch ist total niveaulos, aber es macht einfach so viel Spaß. Neugierig zog sie das Blatt aus dem Stapel hervor, um herauszufinden, wer hier wohl vielleicht aus Versehen ein Bild seines Schwarms bei ihnen an den Drucker gesendet hatte. Mia warf einen Blick auf das Bild und ihr Mund wurde augenblicklich trocken, in ihren Ohren begann es zu summen.

Scheiße!

3.

Mit aufgerissenen Augen starrte sie das blonde Mädchen auf dem Foto an. Das bauchfreie T-Shirt trug sie damals ständig, doch jetzt wo sie es 10 Jahre später sah, konnte sie nachvollziehen, warum ihre Mutter ihr immer vorgeworfen hatte, es sei nicht angebracht, so in die Schule zu gehen. Als das Foto aufgenommen wurde, mochte sie es wirklich gerne. Sie grinste fröhlich in die Kamera, ihre Augen strahlten förmlich aus dem Foto heraus. Mittlerweile verband sie mit diesem Foto allerdings nur noch Ekel und Wut und das jetzt scheinbar irgendeiner ihrer Kollegen die Nerven besaß, genau dieses Foto hier auszudrucken, machte das Ganze nicht besser.

Nein. Nicht irgendjemand!

Das konnte einfach kein Zufall sein!

Sie schnappte sich mit schwitzigen Händen das Telefon. Emilia konnte kaum „Hallo.“ sagen, da schoss Mia schon los. „Sag mal, kann es sein, dass Marie vorhin etwas bei uns ausdrucken wollte?“ „Klar, kann sein, wieso?“ fragte Emilia leicht überrascht. „Hat sie dir nicht irgendwas gesagt?“ Mias Stimme wurde immer drängender, Emilias hingegen immer verwirrter. „Nee, keine Ahnung, warum sollte…?“setzte Emilia an, wurde aber direkt von Mia unterbrochen. „Sag mal, du hast nicht zufällig ein Foto von der, oder?“ Mia umklammerte den Telefonhörer immer fester, sie wusste selber nicht genau, ob sie aus Angst oder vor Wut so angefangen hatte, zu zittern. „Doch, klar, ich hab vorhin erst ein Fotoshooting mit ihr veranstaltet.“ antwortete Emilia sarkastisch, man konnte ihrer Stimme richtig anhören, wie sie dabei die Augen verdrehte. „Oh man, na gut, trotzdem danke, bis dann.“ Mia wollte das Gespräch jetzt doch lieber schnell beenden. „Halt, warte mal!“ rief Emilia, „was ist denn los mit dir, so kenn ich dich ja gar nicht. Ich meine, so ein bisschen schizo bist du ja immer.“, Mia hörte das freche Lächeln aus Emilias Stimme heraus, konnte aber nur ein gequältes Lachen hervorstoßen, „aber so langsam mach ich mir doch ein bisschen Sorgen.“ „Mach dir keinen Kopf.“ Mia versuchte so ehrlich wie möglich zu klingen. „Ich erklär‘s dir, wenn wir uns das nächste Mal sehen, aber mach dir nicht zu große Hoffnungen, ist echt nichts spannendes.“ „Na gut…“ sagte Emilia nur halb überzeugt, verabschiedete sich dann aber von ihr.

4.

„Kipp ruhig noch mehr ein, nach dem Tag, den ich heute hatte, kann ich‘s echt gebrauchen.“. Mia hielt Helena ihr so schon sehr volles Weinglas noch einmal unter die Nase. Helena runzelte die Stirn und goss ihr noch einen kleinen Schluck ein. „Schieß los, was ist passiert?“ Mia schaute betreten auf ihr das Glas in ihrer Hand. Sie hätte nicht gedacht, dass sie doch noch mal in die Situation kam, jemandem diese Geschichte erzählen zu müssen. Vor allem, weil sie mittlerweile auch selber einsah, dass sie nicht unbedingt eine Sternstunde ihres Charakters darstellte. „Ok, also…“ sagte sie schließlich langgezogen. „Als ich ungefähr 15 Jahre alt war, da war ein Mädchen in meiner Klasse, die halt ein bisschen seltsam war. Sie hat mich ständig beobachtet und das wurde echt immer schlimmer, irgendwann hat sie angefangen, mir alles nachzumachen und hat versucht, sich bei meinen Freunden einzuschleimen. Ich weiß wirklich nicht, was ihr Problem war. Naja, wie auch immer, irgendwann ist mir dann einfach der Kragen geplatzt. Ich hab sie in der Schule zur Rede gestellt und währenddessen ist der echt ein Bild von mir aus ihrem Block gefallen. Die muss echt besessen von mir gewesen sein, keine Ahnung. Ich hab ihr dann halt meine Meinung gesagt und dass sie mich in Ruhe lassen soll. Und jetzt kommt das Schärfste. Die Irre hieß Marie! Genau wie die Neue bei mir auf der Arbeit! Ich hab mir da erstmal nichts bei gedacht, ich meine, Marie ist ja nun nicht gerade ein seltener Name, aber dann geh ich heute zur Arbeit und es liegt genau dieses Bild von mir, was sie damals mit sich rumgetragen hat, im Drucker!“ Mia wurde im Laufe der Geschichte immer lauter, sie merkte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen.

Blöde Kuh, jetzt reiß dich halt mal zusammen!

Helena nippte an ihrem Weinglas und stellte dann trocken fest: „Für mich hört sich das so an, als hättest du einen handfesten Stalker.“ „Ja, super, danke, so weit war ich auch schon.“ Mia ließ ihr Gesicht in die Hände sinken. „Und was soll ich jetzt machen?“  nuschelte sie. „Tja entweder, du sprichst sie darauf an oder du ignorierst es, ganz einfach.“ „Hmm…“ stieß Mia nur hervor. Was hatte sie auch erwartet? Um einen tatsächlich hilfreichen Ratschlag zu bekommen, hätte sie Helena auch tatsächlich die Wahrheit erzählen müssen.

5.

An das Foto von ihr, das aus dem Collegeblock von Marie direkt vor ihre Füße rutschte, konnte sie sich noch sehr gut erinnern. Genauso wie an Maries entsetztes Gesicht. Als hätte jemand Mia diese Szene dauerhaft in die Netzhaut gebrannt. Alles andere war in ihrem Kopf eher wie aus einem schlechten Traum, an den man sich nicht mehr so richtig erinnern kann. Das einzige, was nach dem Aufwachen noch übrigbleibt, ist dieses beengende Gefühl, versagt zu haben. Mia hätte Helena so gerne erzählt, was tatsächlich passiert war, aber die Angst, was sie dann über sie denken würde, war größer. Sie ekelte sich ja sogar regelrecht vor sich selbst, da konnte sie wohl kaum von anderen verlangen, dass sie da einfach drüber hinwegsehen. Gerade Helena, die moralisch immer so überkorrekt war, wäre bestimmt unglaublich enttäuscht von ihr gewesen, wenn Mia ihr die Wahrheit erzählt hätte. Die Wahrheit, dass sie Marie nicht einfach nur zur Rede gestellt, sondern sie auf dem Schulhof vor versammelter Mannschaft bloßgestellt hatte, ihr vorwarf sie zu stalken und alle anderen in Hörweite warnte, sich bloß von diesem Freak fernzuhalten. Die Wahrheit, dass sie Marie die Schulsachen, die sie umklammert hielt, aus der Hand schlug, aus denen ihr das Foto dann direkt vor die Füße segelte, als hätten sie die ganze Szene tausende Male so geprobt. Die Wahrheit, dass es sich am Ende des Tages in der kompletten Schule rumgesprochen hatte, dass Marie sich unsterblich in Mia verliebt habe und wenn man nicht am Ende Maries neuestes Stalking-Opfer werden wolle, dann solle man sich am besten so weit wie möglich von ihr fernhalten. Und auch die Wahrheit, dass das alles kompletter Bullshit war, weil Mia das Foto selber in Maries Block gelegt hatte. Warum sie das getan hatte, wusste sie bis heute nicht so genau. Vielleicht hatte Marie sie tatsächlich das ein oder andere Mal während des Unterrichts beobachtet. Vielleicht lag es daran, dass ihr Vater zu der Zeit einen der schwersten Schübe seiner Krankheit durchmachte und dadurch einfach nicht viel Aufmerksamkeit für sie übrigblieb. Vielleicht war ihr auch einfach nur langweilig oder die Planetenkonstellation war an diesem Tag besonders ungünstig oder, oder, oder…Bringt jetzt auch nicht mehr viel, sich darüber Gedanken zu machen. Der entscheidende Punkt war, sie hatte es getan und Marie hatte zum Ende des Schuljahres die Schule wechseln müssen, weil das Mobbing bis dahin so überhandnahm. Mia hatte ihr danach noch einmal eine Mail geschrieben, in der sie sich entschuldigte und versuchte, sich zu erklären. Sie hatte ihr sogar geschrieben, dass ihr Vater an einer paranoiden Schizophrenie erkrankt war und sie deshalb wahrscheinlich selber zu der Zeit kurz vorm durchdrehen stand und dass sie niemals gedacht hätte, dass es so weit kommen würde. Sie bekam auf die Nachricht nie eine Antwort, was sie als Zeichen sah, dass Marie ihr nicht verziehen hatte. Und jetzt hatte sie scheinbar einen Job bei Mias Arbeitsstelle angenommen. Das konnte einfach kein Zufall sein und sie war sich auch ziemlich sicher, dass das Foto auch nicht gerade als Friedensangebot gemeint war.

6.

Wer hat denn heutzutage kein einziges Social Media Profil? Seit gut einer Stunde durchforstete Mia nun schon das Internet in der Hoffnung, irgendetwas über Marie herauszufinden, aber keine Chance. Wenn es nach Google ging, hatte sie nie existiert. Sie legte ihren Laptop neben sich aufs Bett, drehte sich auf den Rücken und starrte die Decke an. Sie hatte gerade eigentlich wirklich besseres zu tun, als über ein Mädchen nachzudenken, dass sie seit Jahren nicht mehr gesehen und an das sie auch bis jetzt kaum mehr einen Gedanken verloren hatte. Wie zum Beispiel für diese blöde Prüfung in Forschungsmethoden lernen. Das schob sie jetzt schon seit Wochen gekonnt vor sich her, im Verdrängen war sie schon immer ziemlich gut gewesen. Schön wär‘s, wenn sie dasselbe über sich auch sagen könnte, wenn es um diesen ganzen Mathekram und analytisches Denken ging. Als sie sich damals für das Studium Rehabilitationspädagogik entschieden hatte, war sie naiverweise davon ausgegangen, dass man da so etwas nicht brauchen würde. Der nächste Versuch in dieser bescheuerten Prüfung würde ihr letzter sein, danach würde sie zwangsexmatrikuliert werden und das so kurz vor ihrem Abschluss. Verdrängen hin oder her, wenn es ums Ganze ging, hatte sie bis jetzt immer noch die Kurve bekommen. Sie raffte sich vom Bett auf und hatte sich gerade an ihren Schreibtisch gesetzt, da klopfte es an ihre Tür. „Hey, du hast Post.“ Helena steckte den Kopf durch die Tür nachdem Mia sie aufgefordert hatte, reinzukommen. Sie hielt ihr einen Stapel Briefe hin. „Wie, das alles?“ fragte Mia ungläubig. „Hast du vergessen, irgendwelche Rechnungen zu bezahlen oder so?“ kicherte Helena. „Oh Gott, nee, nicht, dass ich wüsste. Von wem sind die denn alle?“ Mia stand auf und ging zu Helena rüber. „Keine Ahnung, hab nicht raufgeguckt.“ Mia nahm ihr die Briefe aus der Hand und blätterte sie einmal durch. 10 Stück. „Danke.“ murmelte Mia geistesabwesend und schloss die Tür hinter sich. So viele Briefe hatte sie noch nie auf einmal bekommen und alle waren sie ohne Absender. Mia bekam sofort ein flaues Gefühl im Magen, dass zu einer ausgewachsenen Übelkeit wurde, nachdem sie den ersten Brief aufgerissen hatte. Er enthielt nur einen einzigen Zettel. Das gleiche Bild, wie das, was bei ihrer Arbeit ausgedruckt wurde. Wie das, was sie Marie untergejubelt hatte. Fast das gleiche zumindest. Beim Original waren die Augen nicht mit zwei X durchgestrichen, so oft, dass das Papier an der Stelle fast gerissen war, so wie es bei dem Exemplar, das sie gerade in der Hand, hielt der Fall war. Und bei allen anderen, wie sich herausstellte, nachdem sie panisch die restlichen Briefumschläge aufgerissen hatte. Sie merkte, wie es ihr die Kehle zuschnürte, ihr Gehirn fühlte sich an, als würde es pulsieren. Sie versuchte, tief Luft zu holen, ihre Lungen spielten da aber erst beim vierten Versuch mit. Sie ließ sich auf den Boden sinken und starrte stundenlang ins Nichts, zumindest kam es ihr so lange vor. Ihre Gedanken schossen währenddessen hin und her. Es muss eine Lösung geben, die gibt es doch immer. Ignorieren fiel als Option so langsam, aber sicher weg, zumindest glaubte Mia nicht, dass sie eine solche Drohung einfach so weglächeln könnte, auch wenn das vielleicht das schlaueste wäre. Wenn es sich bei ihrem Stalker tatsächlich um Marie handelte, dann wollte die sie nur provozieren. Zu mehr hatte sie gar nicht den Arsch in der Hose. Oder doch? „Quatsch!“ sagte Mia laut, um die Gedanken, was die durchgestrichen Augen so alles bedeuten könnten, direkt im Keim zu ersticken.

Und was, wenn es nicht Marie ist? kam es leise aus der hintersten Ecke ihres Kopfes. Mia wusste allerdings beim besten Willen nicht, wer es sonst hätte sein können. So viele Todfeinde hatte sie im Laufe der Jahre nun auch nicht angesammelt, zumindest nicht, dass sie wüsste. Marie war also ihr einziger Anhaltspunkt. Plötzlich kam ihr eine Idee und sie griff nach ihrem Handy, das auf dem Nachttisch lag. Das sie da vorher noch nicht draufgekommen war, war schon fast peinlich. „Hey Emilia, du hast doch bestimmt Maries Nummer, oder?“ legte Mia direkt los, nachdem Emilia fröhlich wie immer ans Telefon gegangen war. „Du schon wieder mit Marie. Was ist denn da los zwischen euch beiden? Kennt ihr euch, oder wie?“ fragte Emilia leicht genervt. „Ja. Also kann sein. Das versuche ich ja gerade rauszufinden. Weil wenn das die Marie ist, die ich kenne, hat die echt ganz schön einen an der Waffel.“ platzte es aus Mia heraus. „Meine Güte, ich glaube eher, du hast ganz schön einen an der Waffel, was ist denn los mit dir in letzter Zeit? Du bist irgendwie n bisschen paranoid, kann das sein?“ Zack, genau rein in die Wunde. Seit Mia gesehen hatte, was die Krankheit mit ihrem Vater angerichtet hatte, hatte sie unglaubliche Angst davor, selber zu erkranken. Immerhin war das Risiko bei ihr dank ihres Vaters ungefähr 10-mal so hoch, wie bei einem beliebigen Otto-Normal-Bürger. Hatte Emilia vielleicht Recht? War sie gerade wirklich dabei, durchzudrehen? Ja, vielleicht schon. Aber ein Blick auf die Bilder, die überall um sie herum verteilt lagen, sagte ihr, dass dies, wenn dann, auch absolut berechtigt war. „Hast du jetzt ihre Nummer oder nicht?“ fragte Mia ungeduldig. „Ja warte, ich schick sie dir. Aber nicht, dass du denkst, ich unterstütze dich gerne in deinem Stalker-Wahnsinn.“

Ich der Stalker? Wenn Emilia wüsste. Mia überlegte kurz, ob sie ihr von der ganzen Geschichte erzählen sollte, entschied sich dann aber doch dagegen. Sie wollte sich erst komplett sicher sein, dass es tatsächlich „ihre“ Marie war, die ihr nachstellte. Nachdem Mia und Emilia das Gespräch beendet hatten, gab Mia die Nummer, die Emilia ihr geschickt hatte ein. Kurz zögerte sie, weil sie gar nicht so genau wusste, was genau sie Marie eigentlich sagen wollte. Ach was soll‘s, ihr würde schon etwas einfallen. Es tutete. Einmal. Zweimal. Fünfmal. Niemand ging ran. Typisch. Briefchen verschicken geht, aber dann tatsächlich auch dazu stehen, dazu war sie zu feige.

7.

Fast geschafft! Eine Stunde dauerte ihre Schicht nur noch, dann könnte Mia endlich nach Hause gehen. Ihr Kopf dröhnte, sie hatte, seit sie die Bilder vor drei Tagen zugeschickt bekommen hatte, so gut wie gar nicht mehr geschlafen. Sie versuchte allerdings, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Über Flurfunk sprach sich bei ihnen in der Firma so gut wie alles rum und zwar in rasender Geschwindigkeit. Und die Genugtuung würde sie Marie definitiv nicht gönnen, wenn das am Ende bis zu ihr vordringen würde, dass Mia seit Tagen wie ein nasser Sack an ihrem Arbeitsplatz hing und zu so gut wie nichts zu gebrauchen war. Also setzte sie ihr fröhlichstes Lächeln auf und versuchte, besonders hilfreich zu sein, auch wenn ihr eher danach war, sich zu einem Häufchen Selbstmitleid in ihrem Bett zusammenzurollen. Zugegeben, ein bisschen Angst machte ihr die ganze Situation schon, aber sie versuchte die Gedanken daran, wozu Marie eventuell fähig war, so gut wie es ging zu verdrängen. Wenn Marie noch ansatzweise die Gleiche war wie damals, dann hatte sie eh nichts zu befürchten. Gerade als sie zum vierten Mal innerhalb von 5 Minuten auf die Uhr gucken wollte, klingelte das Telefon.

Matthias, ihr Chef.

Mia ging betont gut gelaunt ran, was sie sich eigentlich hätte sparen können. Matthias hatte immer den gleichen traurigen Tonfall drauf, egal, ob seinem Gegenüber die Sonne aus dem Hintern schien oder ob er von ihm wüst beschimpft wurde. „Mia, ich muss dich gleich mal in meinem Büro sehen. Komm doch bitte nach deiner Schicht noch mal vorbei.“ Bildete sie sich das ein oder klang er gar nicht so traurig wie sonst. Irgendwie eher…beschämt? „Oh je, das hört sich ja ernst an, ist was passiert?“ fragte sie unsicher. „Kann man so sagen, aber das besprechen wir lieber persönlich, bis gleich.“ Ohne zu warten, dass Mia sich auch verabschieden konnte, legte er den Hörer auf.

Das war nun doch wieder eher typisch für ihn.

Die restliche Zeit bis ihre Schicht vorbei war, saß Mia wie auf heißen Kohlen. Sie versuchte sich auszumalen, was Matthias wohl mit ihr besprechen wollte. An ihrer Arbeit kann es eigentlich nicht gelegen haben. Sie würde wahrscheinlich nicht unbedingt Mitarbeiterin des Monats werden, aber das stand wahrscheinlich auch die Monate vorher nicht wirklich zur Debatte und da hatte sich auch nie jemand beschwert.

Sobald sie bei Matthias im Büro angekommen war, kam der auch sofort zur Sache. „Mia ich habe vorhin ein Bild per Mail zugeschickt bekommen, also ein Bild von dir, mein ich.“

Oh nein, das kann doch nicht wahr sein!

„Ich möchte dir eigentlich nicht unterstellen, dass du mir dieses Bild geschickt hast. Wie du weißt, bin ich ja auch verheiratet…“ sagte Matthias bedeutungsschwer. „Verheiratet?“ rutschte es Mia raus. „Ja, das weißt du doch.“ Matthias wirkte nun doch etwas verunsichert. „Nein! Also ja klar, das weiß ich, aber was hat das denn bitte mit dem Bild zu tun?“ Mias Wörter überschlugen sich förmlich. „Naja, das Bild ist,…sagen wir mal,…not safe for work.“ Matthias lachte nervös und bekam einen hochroten Kopf. „Bitte was?!“ Mia sprang reflexartig aus ihrem Stuhl auf. Matthias drehte seinen Bildschirm in ihre Richtung, sodass sie die E-Mail inklusive geöffnetem Anhang sehen konnte. Jetzt war Mia an der Reihe, rot anzulaufen. Das war tatsächlich sie. Komplett nackt mit einem lasziven Lächeln auf den Lippen. Und das schlimmste war, sie konnte nicht mal behaupten, dass das Foto gefälscht war. „Also, wie gesagt, ich möchte dir nicht unterstellen, dass du mir das Foto gesendet hast. Weil wenn das so sein sollte, ist das natürlich komplett unangebracht, auch wenn es nur aus Versehen passiert sein sollte.“ sagte Matthias trocken. Dadurch, dass Mia jetzt so perplex war, hatte er sich scheinbar wieder gefangen. Mia wollte sich am liebsten verteidigen, allerdings brachte sie kein Wort raus und nickte deshalb nur stumm. „Ich habe erstmal nur unsere interne IT beauftragt, die Mail zurückzuverfolgen, damit wir wissen, ob sie von einem Mitarbeiteraccount verschickt wurde. Die E-Mail-Adresse, von der die Mail kam, scheint irgendwie verschlüsselt zu sein. Wenn die da nicht weiterkommen, wäre ich aber stark dafür, dass wir die Polizei einschalten.“ Wieder nur ein stummes Nicken von Mia als Antwort. „Na gut.“ Matthias merkte wohl, dass Mia nicht gerade in Plauderlaune war. „Dann mach jetzt erstmal Feierabend. Ich hoffe, bis morgen oder spätestens bis übermorgen wissen wir mehr, ich gebe dir dann Bescheid.“ „Ok danke.“ brachte Mia gerade so hervor, bevor sie förmlich aus dem Büro flüchtete.

8.

„Du hast doch auch echt den Schuss nicht gehört, oder?“ brüllte Mia in den Hörer, sobald ihr Ex-Freund Simon abnahm. Die beiden waren seit einem guten Jahr getrennt, hatten sich damals aber vorgenommen, weiterhin befreundet zu bleiben. Und das hatte bisher eigentlich auch wirklich gut funktioniert, wahrscheinlich sogar besser, als sie gedacht hätten, als sie sich damals dieses Versprechen gegeben hatten. „Hä, was hab ich gemacht?“ fragte Simon verdattert. „Tu doch nicht so blöd! Rate mal, wer mir gerade ein Foto von mir unter die Nase gehalten hat! Und rate mal, wie viel ich auf dem Foto anhatte!“. Ihre Stimme überschlug sich richtig vor Aufregung. Mia glaubte eigentlich nicht, dass Simon das Foto an Matthias gesendet hatte, aber an irgendjemanden hatte er es offensichtlich weitergeleitet, es hatte sich ja wohl kaum selbstständig dazu entschieden, es sich im E-Mail-Ordner ihres Chefs gemütlich zu machen. „Ok ganz langsam und von vorne. Was ist passiert?“ Simon war schon immer der ruhigere von ihnen beiden gewesen. Das war auch damals einer der Gründe gewesen, warum sie sich in ihn verliebt hatte. Und auch einer der Gründe, warum es dann schlussendlich nicht zwischen ihnen beiden funktioniert hatte. Gegensätze ziehen sich halt doch nicht immer an. Jetzt war sie aber doch dankbar dafür, dass Simon so gelassen blieb. Sie atmete einmal tief durch und erzählte ihm die Kurzversion von dem was passiert war.

„Ok ,krass, aber ich schwöre dir, ich hab das Foto nie an jemanden weitergeschickt. Hast du das vielleicht nach mir noch mal irgendjemandem geschickt?“ fragte Simon vorsichtig, nachdem sie alles gefühlt in einem Atemzug runtergerattert hatte. „Du hast sie doch nicht mehr alle! Ich schick doch nicht wie wild Nacktfotos von mir durch die Gegend!“ Mia war direkt wieder auf 180. „Tut mir leid, war ja nur ne Frage.“ Versuchte Simon sie zu beschwichtigen. „Ja und zwar ne ganz besonders blöde!“ feuerte Mia zurück.

„Hast du denn irgendeine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?“

„Nicht nur eine Ahnung. Das war Marie, ich bin mir ganz sicher.“ zischte Mia mehr zu sich selbst. Sie merkte, wie die Wut wieder in ihr aufstieg. Simon überlegte kurz. „Warte mal, die Mia aus der Schule, von der du mir mal erzählt hast?“ Simon war einer von den Menschen, die einem tatsächlich zuhörten, wenn man ihnen etwas erzählte. „Wie kommst du denn dadrauf?“ Simon kannte genau die gleiche Version der Geschichte, wie Helena. Und wie alle anderen, denen sie seitdem davon erzählt hatte. „Es hat ganz zufällig vor Kurzem eine Marie bei uns angefangen zu arbeiten. Und seitdem passieren, sagen wir mal, seltsame Sachen.“. „Aber das ist doch jetzt schon eine halbe Ewigkeit her. Und was meinst du mit seltsamen Sachen?“ fragte Simon mit eindeutigem Zweifel in der Stimme. „Na, Sachen halt.“ Mia hatte keine Lust, ihm jetzt haarklein zu erzählen, was alles passiert war. „Auf jeden Fall hat die Irre es echt auf mich abgesehen!“ „Du, ich weiß ja, du hörst das nicht gerne, aber das hört sich schon ein bisschen paranoid an. Nicht, dass das ganze so endet wie bei deinem Vater.“ Simon versuchte so besänftigend wie möglich zu sprechen, das brachte allerdings rein gar nichts. „Du hast sie doch echt nicht mehr alle! Weißt du was, Simon, du kannst mich mal!“ brach es aus Mia heraus. Sie war kurz davor, ihr Handy wütend vor sich auf den Boden zu pfeffern, entschied sich aber im letzten Augenblick doch noch dagegen und beendete das Gespräch lieber, indem sie einfach auflegte. Simon war nach Emilia jetzt schon der Zweite, der ihr vorwarf, an Verfolgungswahn zu leiden. Und was das Ganze noch schlimmer machte, war, dass sie sich selbst auch schon gefragt hatte, ob etwas mit ihr nicht stimmte. Klar, dass jemand Bilder von ihr durch die Weltgeschichte schickte, konnte man nicht bestreiten. Allerdings hatte sie keinen Beweis dafür, dass Marie dafür verantwortlich war. Und die letzten paar Tage hatte sie auch immer wieder das Gefühl gehabt, jemand beobachte sie. Mittlerweile sah sie überall Frauen und Mädchen, von denen sie glaubte, es sei Marie. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie auch glauben, sie würde tatsächlich wahnsinnig werden.

9.

Auch in dieser Nacht hatte Mia Schwierigkeiten, einzuschlafen. Gegen 3 Uhr war sie dann aber so erschöpft, dass ihr doch die Augen zufielen. Mittlerweile fühlte sie sich sogar in ihrem eigenen Zimmer nicht mehr sicher. Eigentlich glaubte Mia nicht an so Esoterik-Kram wie schlechte Energien, aber sie hatte auch in ihren eigenen vier Wänden dauernd das Gefühl, verfolgt zu werden. Selbst wenn Helena auch zuhause war, fühlte sie sich nicht mehr sicher. Wenn wenigstens Mal jemand kommen würde, der ihr Türschloss reparieren würde, vielleicht würde sie sich dann wieder sicherer fühlen, aber Helena meinte, sie erreiche niemanden bei der Handwerksfirma, die sie sonst immer beauftragten. Als Mia am nächsten Morgen aufwachte, fühlte sie sich wie gerädert. Die paar Stunden, die sie geschlafen hatte, wurde sie von einem Albtraum nach dem nächsten heimgesucht.

 Sie hatte sich gerade mit einem Kaffee an den Küchentisch gesetzt, da klingelte ihr Handy. „Hey Matthias, gibt’s was Neues?“ Mia wurde nervös. Wenn tatsächlich rauskam, dass Marie das Bild versendet hatte, dann steckte sie mit Sicherheit auch hinter allem anderen. Mia wollte das Ganze einfach nur endlich hinter sich lassen.

„Ja allerdings.“ sagte Matthias traurig wie immer. „Die IT-Jungs konnten die Mail zurückverfolgen. Und sie kam ganz eindeutig von deinem Account.“

Mia wurde schwarz vor Augen. Sie war so nervös gewesen, dass sie aufgestanden und in der Küche hin und her getigert war, blieb jetzt allerdings wie erstarrt stehen und ließ sich langsam auf den Stuhl neben ihr sinken. Sie war komplett sprachlos.

„Mia, ich weiß wirklich nicht, was das soll, ich hätte sowas nicht von dir erwartet. Ich hoffe, dir ist klar, dass wir dich nach dem Scherz nicht weiter bei uns beschäftigen können, sowas geht einfach nicht.“ Matthias wartete kurz ihre Antwort ab, aber Mia brachte kein Wort hervor. Als er merkte, dass vom anderen Ende der Leitung nichts mehr kam, beendete er das Gespräch mit den Worten „Wir schicken dir deine Kündigung per Post zu, bis dahin bist du beurlaubt. Ich hoffe, du lernst was draus.“.

Dann nur noch Tuten in der Leitung.

Mia brauchte eine Weile, um sich zu fangen. Ihr schossen Tränen in die Augen. Sie hatte keine Ahnung, was sie jetzt machen sollte. Geistesabweisend griff sie nach ihrer Tasse und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, verzog aber sofort das Gesicht. Der war mittlerweile eiskalt. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass eine halbe Stunde vergangen war, in der sie wie gelähmt vor sich auf den Tisch gestarrt hatte. Sie stand auf und kippte den Kaffee in die Spüle, da klingelte ihr Handy schon wieder.

Diesmal war es Emilia.

Sie überlegte kurz, ob sie rangehen sollte, aber die Chance, sich bei jemandem auszukotzen, der sie bestimmt verstehen würde, war einfach zu verlockend. „Hey Süße, sag mal was ist denn passiert, hast du gekündigt oder bist du krank? Matthias kam gerade an und hat mich gefragt, ob ich deine Schichten für die nächsten paar Wochen übernehmen kann.“ Mia hatte sich eigentlich vorgenommen, cool zu bleiben, aber als sie Emilias besorgte Stimme hörte, brach sie wie ein Kartenhaus in sich zusammen. „Ich wurde gefeuert. Angeblich hab ich eine Mail an Matthias von meinem Account gesendet, aber ich war das nicht, wirklich.“ schluchzte Mia, sie fühlte sich wie ein kleines Kind.

„Was? Das gibt’s doch nicht! Was denn für ne Mail? Ein Drohbrief oder was?“ Emilia war komplett außer sich.

„Nein, mit einem ziemlich blöden Foto von mir. Also, naja…du weißt schon.“ Emilia verstand sofort was gemeint war. „Oh man, das tut mir so leid! Kannst du das nicht irgendwie anzeigen?“

„Weiß nicht. Angeblich wurde das ja von meinem Account gesendet, ich weiß nicht, ob man da dann was machen kann. Außerdem weiß ich schon, wer das war.“ Mias Blick wurde düster.

„Ach was und wer?“ fragte Emilia ehrlich interessiert.

„Marie! Die Irre hat es total auf mich abgesehen! Aber wenn ich mit der fertig bin, wird die das noch bereuen.“ Mia erschreckte sich fast vor ihrer eigenen Stimme. Es sprach so viel Hass aus ihr, sie erkannte sich selbst kaum wieder.

„Wieso denkst du, dass Marie dahintersteckt?“ fragte Emilia vorsichtig. „Ich weiß das einfach. Ich spür das!“ antwortete Mia bissig. Sie merkte, dass Emilia ihr nicht so recht glauben wollte. „Du hör mal. Ich hab Marie letztens darauf angesprochen, ob sie dich kennt. Sie meinte, sie kennt niemanden, der Mia heißt und ich glaub ihr das auch. Sie ist wirklich ein total liebes Mädchen, du wirst sie bestimmt verwechseln.“

„Ich fass es nicht! Du stellst dich eher auf die Seite von so einer irren Stalkerin, als zu mir zu halten? Wir kennen uns jetzt schon so lange, das hätte ich wirklich nicht gedacht, dass du mir so in den Rücken fallen würdest!“ Mia kamen schon wieder die Tränen. Ob aus Verzweiflung, Wut oder Enttäuschung wusste sie selber nicht so recht, wahrscheinlich war es eine Mischung aus allem.

„Jetzt mach mal halblang, ich fall hier niemandem in den Rücken! Ich glaub nur einfach nicht, dass Marie dich stalkt. Ich meine, komm, du musst schon zugeben, dass sich deine Geschichte ein bisschen verrückt anhört.“ versuchte Emilia unbeholfen, sie zu beschwichtigen.

Da war es wieder.

Verrückt.

Mia merkte förmlich, wie bei ihr im Kopf eine Sicherung durchbrannte. „Leck mich! Auf so ne Freundschaft kann ich echt verzichten!“ Mia legte auf. Und bereute es direkt, dass sie so hart zu Emilia gewesen war. Sie wählte ihre Nummer und fing sofort an, sich zu entschuldigen, als Emilia das Gespräch endlich entgegennahm. Die unterbrach sie jedoch ziemlich schnell „Du bist in letzter Zeit wirklich komisch. Nimm‘s mir nicht übel, aber ich brauch erstmal ein bisschen Zeit, ja? Und du solltest dir vielleicht doch mal Hilfe holen. Also professionelle meine ich.“ Und mit diesen Worten legte sie auf.

10.

Mia stand im Bad in ihrer Uni und blickte sich im Spiegel an. Ihre Augenringe hätte selbst das beste Makeup nicht überschminken können. Heute war der Tag der Prüfung. Sie hatte sich die letzten Tage doch noch erstaunlich gut aufs lernen konzentrieren können. Marie hatte ihr schon so viel kaputt gemacht in den letzten zwei Wochen, sie würde sich nicht auch noch ihr Studium nehmen lassen. Sie holte noch einmal tief Luft und machte sich dann auf den Weg zum Hörsaal.

Aus Angst, zu spät zu kommen, war sie extra früh losgefahren und war dementsprechend eine der ersten. Sie legte ihre Sachen vorne ab und suchte sich einen Platz. Da es sich bei der Prüfung um ihren Drittversuch handelte, musste sie vor Beginn eine Erklärung unterschreiben, dass sie sich im Klaren darüber war, dass sie ihr Studium nicht fortsetzen durfte und mit sofortiger Wirkung exmatrikuliert werden würde, sollte sie diese Prüfung nicht bestehen. Ihre Hände zitterten wie verrückt, als sie ihre Unterschrift unter die Erklärung setzte. Sie versuchte sich damit zu beruhigen, dass sie viel gelernt hatte, viel mehr als bei den letzten beiden Versuchen. Danach trug sie sich in die Anwesenheitsliste ein. Kurze Zeit später wurden die Prüfungen ausgeteilt.

Gleich würde es losgehen.

Der Dozent erklärte kurz wie die Prüfung ablaufen würde, aber Mia hörte kaum hin, das war eh das gleiche, was bei jeder Prüfung erzählt wurde. „Na gut, wenn es keine weiteren Fragen gibt, dann wünsche ich Ihnen allen viel Erfolg.“ verkündete Professor Marten. „Ach einen Moment! Falls Ihr Mobiltelefon noch eingeschaltet sein sollte, bitte ich Sie, es auszuschalten. Auch wenn sie es nicht direkt am Platz haben, wird ein eingeschaltetes Handy als Täuschungsversuch gewertet.“ Ein Raunen ging durch den Raum, einige Studenten standen auf und huschten schnell zu ihren Taschen. Mia überlegte. Sie war sich ziemlich sicher, dass ihr Handy mindestens auf lautlos gestellt war. Aber riskieren wollte sie es lieber nicht. Schnell rutschte sie von ihrem Stuhl runter, ging zu ihrer Tasche und kramte ihr Handy hervor.

Sie hatte es auf lautlos gestellt.

Und sie hatte eine neue Nachricht.

Von einer unterdrückten Nummer.

Ihr Bauchgefühl schrie sie förmlich an, die Nachricht nicht zu öffnen.

Hätte sie mal darauf gehört.

Die Nachricht bestand nur aus einem Bild. Was auch sonst.

Ein Bild von ihr. Auch das war ja leider nichts neues.

Was dieses Bild allerdings von den anderen unterschied, war, dass sie dieses Foto noch nie zuvor gesehen hatte.

Wie auch?

Immerhin schlief sie auf dem Bild. Und dem Schlafanzug nach zu urteilen, wurde das Bild innerhalb der letzten paar Tage aufgenommen.

Das war aber noch nicht das beunruhigendste.

Das, was Mia am meisten an diesem Foto von ihr verstörte, war das Messer, dass ihr scheinbar der Fotograf an den Hals hielt.

11.

Mia begann am ganzen Körper zu zittern. Sie hatte das Gefühl, sie bekam keine Luft mehr. Zitternd drehte sie sich zu einem der Aufseher der Prüfung. „Tut mir leid, aber ich muss weg.“ Ihre Stimme klang monoton, wie die von einem Roboter.

Leite Selbstzerstörung ein in drei, zwei…

„Das geht nicht, die Prüfung ist schon ausgeteilt. Wenn Sie jetzt gehen, dann wird die Prüfung als nicht bestanden gewertet.“ Dann erst fiel der jungen Frau scheinbar auf, dass Mia kreidebleich war. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Geht’s Ihnen nicht gut?“ „Nein, nein, alles gut, sind bestimmt nur die Nerven.“ antwortete Mia mit zitternder Stimme. Die Aufseherin lächelte ihr aufmunternd zu. „Sie kriegen das schon hin, viel Glück.“ Mia nickte nur geistesabwesend und machte sich auf den Weg zurück zu ihrem Platz.

„Sie dürfen die Klausuren jetzt umdrehen.“ verkündete Professor Marten. Mia wendete die Blätter, die vor ihr lagen und starrte auf die erste Frage.

In dieser Position blieb sie sitzen bis plötzlich die Ansage von vorne kam „Sie haben noch 10 Minuten Zeit.“

Mia wurde mit einem Schlag aus ihrer Starre gerissen.

Verzweifelt versuchte sie noch schnell, die ersten beiden Fragen zu beantworten, dann war die Prüfungszeit vorbei. Da es sich bei ihrer Klausur um den letzten Versuch handelte, würde sie das Ergebnis noch vor allen anderen bekommen.

In zwei Wochen ungefähr würde sie dann also auch offiziell erfahren, dass sie zwangsexmatrikuliert werden würde. Doch das war Mia gerade egal. Sie fühlte sich leer, wie ausgesaugt.

Sie erinnerte sich nicht mehr daran, wie sie nach Hause gekommen war. Scheinbar hatte sie es irgendwie bis zur Haltestelle geschafft und war in den Bus gestiegen Vielleicht war sie auch gelaufen.

Keine Ahnung.

Egal.

Alles war egal.

Sie setzte sich an den Küchentisch, draußen wurde es langsam dunkel. Das Einzige, an das sie denken konnte, war das Bild, dass sie in ihrer Panik schon wieder von ihrem Handy gelöscht hatte.

Mit dem Messer.

Sie griff sich an den Hals.

Sie hatte doch so einen leichten Schlaf in letzter Zeit.

Wie hatte ich das nicht hören können, dass jemand bei uns eingebrochen und dann auch noch in mein Zimmer gekommen war?

Sie wartete in der Küche, bis Helena endlich nach Hause kam. Sie musste ihr erzählen, was passiert war. Auch wenn Helena nicht das Ziel der Übergriffe war, sie konnte ihr das nicht verheimlichen, dass jemand in ihre Wohnung eingedrungen war.

Sobald Helena zur Tür reinkam und Mia in der Küche sitzen sah, fragte sie „Na, wie lief die Prüfung? Alles glatt gegangen?“ Mia schüttelte nur mit dem Kopf und merkte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals formte. Das war meistens das erste Anzeichen dafür, das ein Gefühlsausbruch nahte.

Helena sah sie erst mit großen Augen an.

Dann fing sie plötzlich an, zu lachen.

12.

Mia verstand überhaupt nichts mehr. Verdattert blickte sie Helena an, der vor Lachen mittlerweile Tränen in die Augen gestiegen waren.

„Ach Mist!“ rief sie aus, nachdem sie einmal nach Luft geschnappt hatte. „Ich wollte das eigentlich ja noch ein bisschen länger durchziehen, aber dein Blick war einfach gerade zu gut. Wie kann man bitte so blind sein?! Das lief ja echt alles noch besser als in meiner Fantasie!“

Mias Blick wurde immer verwirrter.

Sie wollte Helena fragen, was bitte so lustig war und was sie mit „blind“ meinte, aber als sie den Mund öffnete, kam kein Ton heraus.

„Du checkst es echt immer noch nicht, oder? Na gut, dann halt noch mal für die ganz Zurückgebliebenen.“ Helenas Augen wurden kalt, ihr Lachen verstummte und ihr Blick war plötzlich so mit Hass erfüllt, dass es Mia kalt den Rücken runterlief.

„Jetzt hast du in letzter Zeit so viel über Marie nachgedacht und trotzdem erkennst du ihre Schwester nicht, wenn sie vor dir steht. Beziehungsweise wenn du ein Jahr mit ihr zusammenwohnst.“ Beim letzten Satz entfuhr Helena ein belustigtes Kichern, wie bei einem kleinen Kind, das glaubt, seine Eltern gehörig reingelegt zu haben.

Tatsächlich.

Es war Marie noch nie aufgefallen. Aber wenn man sich die dunklen Haare und die dicke Hornbrille wegdachte, war die Ähnlichkeit eigentlich unverkennbar.

„Ich versteh das nicht. Heißt das, du hast Marie die ganze Zeit geholfen, mir das Leben zur Hölle zu machen?“ stammelte Mia.

„Du bist doch echt zu blöd, oder?“ antwortete Helena und sah sie dabei an wie eine Mutter, die enttäuscht von ihrem Kind ist. „MARIE IST TOT!“  brüllte sie Mia plötzlich an.

Wenn die Wohnungen um sie herum bewohnt gewesen wären, dann hätten sie jetzt bestimmt eine Beschwerde wegen Lärmbelästigung am Hals. Allerdings hatten die Leute, die die Wohnungen als Büroräume nutzen, schon längst Feierabend gemacht.

„Nach deinem kleinen Scherz, den du dir damals erlaubt hast, hat sie sich das Leben genommen. Und deswegen dachte ich, ich erlaube mir mit dir auch mal solch einen kleinen Scherz. Viel machen musste ich ja gar nicht, du warst halt einfach schon immer ganz tief in dir drin ein verrückter Psycho, nur dass es jetzt endlich auch alle um dich herum gemerkt haben. Tja, ist echt scheiße, wenn man für etwas bloßgestellt und verachtet wird, was ganz natürlich in einem schlummert, was? Bei Marie war das ja im Grunde nichts anderes, sie war halt nur n bisschen verknallt…“ Helenas Stimme begann zu zittern, aber sie hatte sich schnell wieder gefangen. „Und du glaubst gar nicht, wie leicht es ist, unter einem falschen Namen einen Job anzufangen, hätte ich echt nicht gedacht.“ Jetzt sah sie beinahe stolz aus, als sie das sagte.

„Also…also bist du die Marie von meiner Arbeit? Und du hast auch das Foto von mir an Matthias verschickt?“ Mia konnte es noch nicht wirklich fassen, auch wenn plötzlich alles Sinn ergab. Immerhin war Helena mit ihrem Studium theoretisch bestens auf sowas vorbereitet.

Und kein Wunder, dass sie den Einbruch verschlafen hatte, den Einbruch, den es theoretisch gar nicht gegeben hatte.

Noch hoffte sie aber trotzdem, Helena würde plötzlich „April, April!“ rufen und sie würden beide darüber lachen und bei einer Flasche Wein Pläne schmieden, was Mia nun mit ihrem verkorksten Studium anfangen sollte. Aber statt „April, April!“ zu rufen, schrie Helena sie an „Das ist das Einzige, was dir dazu einfällt?!“

Mia zuckte zusammen, sie versuchte sich aber nicht anmerken zu lassen, was für eine unglaubliche Angst sie plötzlich vor Helena bekam.

Auf einmal wurde Helena allerdings wieder ganz ruhig.

„Eigentlich hab ich ja gehofft, dass du selber einsiehst, wie wertlos du bist und das ganze einfach alleine beendest, so wie dein nutzloser Vater. Aber scheinbar bist du ja sogar dafür zu blöd. Dann müssen wir das halt doch irgendwie anders lösen.“

Helena ging zur Besteckschublade und nahm ein Messer heraus.

In Mias Ohren begannen es zu klingeln, wie so oft in letzter Zeit.

Hätte sie die Warnsignale nur früher erkannt.

Helena kam langsam auf sie zu.

In Mias Kopf begannen die Gedanken zu rasen.

Sie ging alle Möglichkeiten durch, wie sie an Helena vorbei zur Tür kommen konnte.

Hätte sie dabei nicht wie hypnotisiert auf das Messer in Helenas Hand gestarrt, wäre ihr vielleicht aufgefallen, dass der Schlüssel, den man brauchte, um das Sicherheitsschloss aufschließen zu können, weder neben dem Toaster lag, noch am Haken neben der Tür hing.

 

One thought on “Elektrakomplex

  1. Hallo Lillie,
    ich finde die Idee zu deiner Geschichte sehr gut. Sie ist spannend geschrieben und lässt sich flüssig lesen. Auch das Ende / die Auflösung bzgl. Helena finde ich sehr gelungen.
    Wie bist du eigentlich auf den Titel Elektrakomplex gekommen? Den verstehe ich nämlich nicht so ganz.

    Vielleicht hast du ja Lust auch mal meine Geschichte zu lesen https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/der-apfel-faellt-den-stamm
    Ich würde mich über ein Like und/oder einen Kommentar freuen.

    LG
    Daniel

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