Sonja KrennEngelsblut

Mit seinem Fahrrad fährt Winfried durch die hektischen Straßen der Stadt hinaus in den Speckgürtel, wo allmählich die Menschen weniger und die Bäume mehr werden. Der Herbst hat das Laub in warme Farben getaucht. Orange, rote und braune Blätter regnen über den in die Jahre gekommenen Mann. Er freut sich schon auf seine abendliche heiße Tasse Tee und seine Katze Engelchen, mit der er die restlichen Stunden des Tages kuschelnd auf seinem Schaukelstuhl verbringt. Seit dem ihn seine Frau vor über 20 Jahren verließ, ist seine Katze sein einziger Gefährte. Am Ende des Feldweges, nahezu einen Kilometer von der letzten Siedlung entfernt, erreicht er sein Zuhause.

Gedankenversunken stellt er sein Fahrrad an seinem quietschenden Hoftor ab und sammelt die Briefe im Postkasten auf. Der Briefträger ist seither, der einzige der den Weg zu seinem Haus findet.
„Engelchen, du begrüßt mich heute gar nicht!“, stellt er enttäuscht fest. „Engelchen, wo du bist du denn?“ Aber trotz seiner zahlreichen Rufe, keine Reaktion. Seine Katze bleibt verschollen.

Winfried öffnet die Haustüre, legt seine Sachen ab und befüllt wie jeden Tag den Wasserkocher in der Küche. Im Wohnzimmer schaltet er auf dem Fernseher den Nachrichtensender an. Bevor er sich bequeme Kleidung überstreift, verharrt er alltäglich einige Minuten vor seiner Vitrine im Flur, in der er drei Engelsfiguren aufbewahrt. Kein Staubkorn wird je Platz auf ihnen finden, denn Winfried kommt dem mit seiner täglichen Säuberung zuvor.
„Bei mir bist du in besten Händen!“, verspricht er einer jeden und gibt ihnen einen Kuss auf den Kopf, alsdann er sie zurückstellt und sachte die gläserne Türe schließt.
Im Schlafzimmer befreit er sich von seinem engen Anzug. Er löst gerade die Krawatte, als ihn der Blick zum Fenster kommt. Auf seiner Haut stellen sich die Haare auf, Gänsehaut überdeckt ihn von Kopf bis Fuß. Auf der Außenseite der Scheibe läuft frische, rote Farbe entlang. Jemand kritzelte in seiner Abwesenheit in einer schlechtleserlichen Schrift Wörter daran. Er nimmt seinen ganzen Mut zusammen und geht ins Freie, um den Schriftzug entziffern zu können.

„Ich weiß alles über dich!“, liest er laut. Er blickt sich um, aber er kann niemanden sehen. Es musste jemand in seinem Garten gewesen sein. Im Gras hat sich eine rote Pfütze gebildet. Langsam dämmert ihn, dass es keine Farbe ist.
„Das ist ja Blut!“, stellt er angewidert fest, beruhigt sich sogleich selbst. „Bestimmt ein blöder Jugendstreich!!“
Winfried säubert die Scheibe, lässt sich nicht weiter von dem kurzen Schrecken beeindrucken. Das Einzige was ihn weiterhin beunruhigt: Seine Katze Engelchen ist noch immer nicht aufgetaucht.

Mit den ersten Sonnenstrahlen wacht Winfried am nächsten Morgen auf. Neben sich versucht er das weiche Fell seines Engelchens zu erspüren. Eigentlich wird er täglich von dessen Schnuren aus dem Schlaf geholt, aber seine Katze blieb die ganze Nacht fern. Sie kratzte weder ans Fenster, noch vernahm er ihr Miauen.  
„Engelchen, wo bist du nur?“, murmelt Winfried noch schlaftrunken und wankt in die Küche. Aus Gewohnheit bereitet er zuerst das Futter zu, danach erst sein Frühstück. Weil seine tierische Freundin verschwunden bleibt, geht er ein Stück hinaus aufs Feld um sie zu suchen. Er blickt unter Büschen, in den Lücken aufgestapelter Baumstämme und in den kleinen Vertiefungen in der Erde. „Engelchen!“, ruft er mit einem Hauch von Weinerlichkeit in seiner Stimme. „Papa, wartet auf dich!“
Eine Weile bleibt er stehen. Er wartet, aber seine Katze bleibt unauffindbar. Winfried unterdrückt sich die Tränen und gibt vorerst die Suche auf. Vor der Haustüre sammelt er die Tageszeitung ein, die ein Teil seines tatsächlichen Morgenrituals ist.
Er legt die zusammen gerollte Zeitung auf den Tisch, brüht sich einen Kaffee auf und geht seiner weiteren täglichen Routine nach: Die morgendliche Begrüßung seiner Elfenfiguren.
„Na ihr Hübschen, ich hoffe ihr habt gut geschlafen!“ Mit seinem Zeigefinger streicht er sanft über ihre Wangen und schließt die Türe der Vitrine wieder. Noch im Morgenmantel setzt er sich an den Tisch und betrachtet die Tageszeitung genauer: „2000? Wir haben doch 2020. Die haben sich wohl vertippt.“
Seine Theorie hat lediglich einen Harken: Die Schlagzeile!

„Drei Frauen, drei Selbstmorde innerhalb weniger Wochen – Fluch oder Zufall?“

„Wieso bekomme ich eine Zeitung aus dem Jahre 2000?“, überlegt er, während er sie aufrollt. Mit der anderen Hand hebt er die Tasse zum Trinken an, doch dazu kommt es nicht.
„Was zur Hölle!“, schreit er auf. Seine Finger lösen sich von dem Henkel der Tasse, sodass sie zu Boden fällt. Ein Teil des heißen Getränkes ergießt sich auf seinen nackten Beinen und hinterlässt rote Brandflecken.
„Engelchen! Wieso steckt dein Schwanz in der Zeitung?!“ Weinend sinkt er zusammen. „Und wo ist der Rest von dir?“
Darunter findet er einen Zettel mit einer Schrift, die ihm bekannt vorkommt…
„Büße für deine Taten!“ bedroht ihm dieselbe Person, die am Vortag seine Fensterscheibe beschmierte.
Der Appetit auf Frühstück ist ihm gänzlich vergangen. Er legt den Schwanz in eine Kiste, die er neben die Vitrine stellt. Enttäuscht öffnet er den Glasschrank. Er holt eine Figur nach der anderen heraus und drückt eine jede fest an seine Brust.
Mit seiner rauen Stimme flüstert er ihnen zu: „Zumindest habe ich euch noch, ihr ersetzt mir mein Engelchen nicht, aber euch liebe ich auch.“
Er verweilt einige Minuten und entscheidet sich einen Spaziergang im Freien zu machen. Er braucht dringend frische Luft, der Schock sitzt tief in seinen Knochen. Er schlüpft in eine Hose und in ein frisches Oberteil. Eine warme Jacke soll den kühlen Herbstwind abhalten. Mit einem flüchtigen Blick überprüft er das Fenster. Glück gehabt! Keine neuen Blutspuren! Darüber erleichtert, verlässt er das Haus, aber ihn ereilt dennoch das Gefühl beobachtet zu werden. Ein Blick nach links, ein Blick nach rechts. Niemand. Zur Sicherheit holt er sich eine Kappe und einen Schal aus den Haus, worin er sein Gesicht verbergen kann. Mit schnellen Schritten verlässt er das Grundstück in Richtung des kleinen Waldstückes, in dem er seine gewohnte Runde dreht. Er kennt dort jede Blume, jeden Baum. Am besten gefällt ihm die Ruhe, die völlige Abstinenz anderer Menschen. Kaum jemand kennt dieses Fleckchen Natur, es ist viel zu abseits der Stadt. An dem heutigen Tag fühlt er sich nicht alleine. Auch wenn er niemanden sehen oder hören kann, ihn lässt das Empfinden verfolgt zu werden einfach nicht los. Über seine Wangen laufen kleine Tränen. Der Verlust seiner Katze geht ihn sehr nah und zugleich ängstigt ihn der Gedanke, dass ihm eine fremde Person dicht auf den Fersen sei. So spaziert er durch die Natur und ringt mit dem Verlust seiner tierischen Freundin, unterdessen er ständig anhält um seinen vermeintlichen Verfolger zu entdecken. Nach einer Stunde kehrt er nass geschwitzt am Hoftor zurück. Es steht einen Spalt offen.
„Wahr wohl doch jemand auf meinem Grundstück!“, murrt er genervt. „Diese Jugendlichen sollen mich in Ruhe lassen!“ Er schließt das Tor hinter sich und kehrt einige Blätter zur Seite. Ihm wird stetig mulmiger. Beim Blick zur Türe rutscht ihn sein Herz in die Hose, sein Verfolger hat erneut zugeschlagen.
„WIESO!!!“, schreit Winfried auf. „Wer tut so was?!“
Vor seiner Haustüre baumelt der vom Fell befreite Körper seiner Katze Engelchen an einem an den Füßen befestigten Strick herunter. Dahinter prangern an der Türe blutige Worte: „WIE DU MIR, SO ICH DIR!“
Sein Schlucken ist laut zu hören. Er schweigt. Bedrückt nimmt er den Rest seiner Katze ab und legt ihn zum Schwanz in der Kiste.
Seinem Gesicht sind die Geschehnisse deutlich an zu sehen, er ist kreidebleich, seine Mundwinkel reichen bis zum Boden, seine ohnehin schon tiefen Falten durchschneiden sein Gesicht. Den restlichen Tag verbringt er im Schaukelstuhl des Wohnzimmers. Er schaukelt hin und her, isst nichts, lässt den Fernseher aus. Er ist in Gedanken ganz bei seinem Engelchen…
…und bei seinem Verfolger. Wer tut ihm so etwas Schreckliches an?

Am nächsten Morgen wird er mit einem lauten Schlag aus seinem Schlaf gerissen. Klirren. Scherben fallen zu Boden.
Er springt aus dem Bett, lässt den Morgenmantel liegen und hastet in die Küche, wo er den Lärm vermutet. Das Fenster ist komplett zersprungen. Ein mit Blut verschmierter Stein liegt auf den Fliesen. „Bereust du deine Taten schon?“ steht mit kleinsten Buchstaben darauf geschrieben. Gelächter! Jemand ist in seinem Garten. Flugs rennt er nach draußen, aber er findet keine Menschenseele.
„Verdammt“, flucht Winfried. Einmal um die eigene Achse drehend, sucht er nach dem Täter. Niemand ist zu sehen! Stattdessen entdeckt er etwas Seltsames im Laub. Das Licht der Morgensonne spiegelt sich unter einem braun gefärbten Eichenblatt. Vorsichtig greift er nach dem Gegenstand. Ein Mobiltelefon!
„Sie haben ihr Handy verloren!“, ruft er. Vielleicht hört ihn der Besitzer. Wie erwartet, keine Antwort. Zu seinem vermeintlichen Glück hat der Eigentümer keine Tastensperre eingerichtet. Winfried durchsucht die Kontakte, aber keine einzige Nummer ist hinterlegt. Nachrichten sind ebenso keine empfangen worden. Erst in der Galerie wird er fündig. Er stößt auf Fotos… überraschende Fotos!
„Das ist ja mein Engelchen!“, sagt er voller Freunde. Zugleich ist er enttäuscht. Zu sehr plagt ihn die Sehnsucht. Beim Versuch über Engelchens Gesicht zu streicheln, springt der Bildschirm zum nächsten Bild. Sein Herz bleibt beinahe stehen.
Auf den ersten Fotos sieht man ihn im Garten mit seiner Katze auf dem Arm, dann eines mit ihm im Schaukelstuhl mit Engelchen auf dem Schoß. Auch bei der rituellen Pflege seiner Engelsfiguren wurde Winfried abgelichtet. Seine Knie werden weich. Irgendwer verfolgt ihn seit Wochen!
„WAS WILLST DU VON MIR!!!“, schreit er in die Leere seines Gartens. „LASS MICH IN RUHE!“
Auf einmal vibriert das Handy in seiner Hand, leise Glöckchen erklingen. Ein Anruf! Die Nummer ist unterdrückt.
„Ja bitte?“, meldet er sich kleinlaut. Es fällt ihm schwer, dass Handy an sein Ohr zu halten. Seine Hand zittert unaufhörlich.
Eine verzerrte Stimme ertönt: „Winfried. Wenn du mich kennen lernen willst, öffne heute Nachmittag um 15 Uhr deine Haustüre. Verzichte auf die Polizei, aber du weißt ja selbst, dass du dir damit keinen Gefallen tun würdest!“
Bevor er darauf antworten kann, legt der Anrufer auf. Kurz verharrt sein Blick auf dem schwarzen Bildschirm. Mit letzter Kraft wirft er das Handy über den Zaun und flüchtet sich ins Innere des Hauses. Aber wohl fühlt er sich dort längst nicht mehr.

 

Wie angewachsen bleibt er auf seinem Schaukelstuhl sitzen, wippt hin und her. Unaufhörlich starrt er auf die Uhr. Keine Sekunde lässt er sie aus den Augen. Schleppend dreht sie ihre Runden. Endlich schlägt es fünfzehn Mal. Es ist 15 Uhr! Er klammert sich an seinen Stuhl. Dann fasst er doch seinen ganzen Mut zusammen und schleicht zur Haustüre, die er zögernd öffnet. Winfried überlegt noch sie wieder zu schließen, sogleich eine Fremde in Engelskostüm sein Grundstück betritt. Lange braune Haare fallen über ihre zierlichen Schultern. Ihr schlanker, kleiner Körper ist in glänzende, weiße Stoffbahnen gehüllt.
„Winfried, es war schwer dich zu finden!“, begrüßt sie ihn mit einem tatsächlich engelsgleichen Stimmchen. „Du bist umgezogen, nicht wahr? Bist du etwa von deiner Vergangenheit geflüchtet?“
Winfried hält die Türklinke fest in seiner Hand, umfasst sie mit jedem Schritt, den sich die Fremde nähert, fester.
Kurz vor der Türe bleibt die Engelsgestalt stehen. Erst jetzt bemerkt der alte Mann das blutverschmierte Abhäutemesser, welches die junge Frau an ihrem Gürtel befestigt hat. Da sie inmitten des Türrahmens steht, hat er keine Möglichkeit zu flüchten, geschweige den die Türe zu schließen. Er versuchte mit einem tiefen Atemzug seine Angst in Griff zu bekommen.
„Du weißt doch, die Wahrheit kommt immer ans Licht!“ Sie greift in ihre Tasche und holt Fellstücke heraus, die sie vor Winfrieds Augen zu Boden fallen lässt. Schlimmer ist ihr Lachen, dass sich wie ein Nagel durch sein Mark bohrt.
„Engelchen!“, stutzt er. Er unterdrückt seine Tränen.„Wie…wie…Wieso tust du mir das an?!“
Mit einer Wucht stampft sie auf dem Boden auf: „Wieso tust du mit das an? Wieso tust du mir das an?“, wiederholt sie mit einem erhabenen Tonfall. „Das solltest du wohl selbst am besten wissen!“
„Mein Engelchen, du hast mir mein Engelchen genommen, ich hatte doch nur mehr meine Katze!“
Die Bosheit steht ihr ins Gesicht geschrieben, ihre Augenbrauen reichen ihr bis zu ihrer Nase: „Du nahmst mir mein Ein und Alles, so nahm ich dir was du am meisten liebtest!“ Winfried verstummt.
„Wegen dir musste ich im Heim aufwachsen, seitdem liebte mich kein Mensch mehr. Niemand liebte mich wie meine Mutter!“
Die Engelsgestalt macht einen großen Schritt auf den Mann zu, er kann ihren süßen Duft nach blumigem Flieder riechen.
„Bitte lass mich in Frieden!“, fleht Winfried seine Besucherin an. „Bitte!“
„Ich hole mir was mir gehört!“ Sie schiebt den alten Mann zur Seite und bahnt sich den Weg ins Innere.
„Was möchtest du?“, wimmert er. „Wieso bist du hier!“
„Meine Mutter!“, schreit sie mit einer Niedertracht, die gar nicht zu ihrem Äußeren passt. „Ich hole sie zurück zu mir!“
Bei der Vitrine angekommen, reißt sie die Türe mit einer Wucht auf, dass diese gegen die Wand stößt und in tausend Teile zerbarst. Wieder erhallt ihr gehässiges Lachen. Sogleich nimmt sie die Figur heraus, die ihr selbst am ähnlichsten sieht. Für eine Millisekunde entweicht die Boshaftigkeit und ein Lächeln huscht über ihr Gesicht: „Endlich habe ich dich wieder, Mama!“
Kurzzeitig übermahnt Winfried beim Anblick der jungen Frau ein Hauch von Mitleid, doch er besinnt sich wieder: „Da…da…das ist Diebstahl! Stell sie zurück!“
Ihr Blick verdunkelt sich wiederkehrend: „Sie gehören dir nicht! Sie gehören ihren Familien!“
Winfried sinkt weinend auf den Boden: „Du hast Recht, du hast Recht. Aber ich verspreche ich habe immer gut auf sie aufgepasst. Sie hatten es gut bei mir!“
„SIE SIND TOT! Du hast sie umgebracht. Ja DU!“ Das engelsgleiche in ihrer Stimme ist verflogen. „Du bist absolut gestört. Ist dir das bewusst? Du bist ein Mörder!“
Seine ohnehin schon tiefen Falten ziehen sich weiter nach Innen. „Woher weißt du das? Keiner kennt mein Geheimnis!“
Sie baut sich vor dem alten Mann auf, ihre Stimme trieft vor Hass: „Ich war sechs Jahre alt, als du meiner Mutter das Leben nahmst. Ich habe ALLES beobachtet!“
„Das kleine Mädchen!“, flüstert er mit nachdenklichem Gesicht. „Du bist das kleine Mädchen!“
Ihr sieht man die Kraft nicht an, die sie aufbringt den alten Mann nach oben zu ziehen. Er kann kaum atmen, sie drückt ihn fest gegen die Wand. Dabei enthüllt sich ihr Arm, der mit tiefen Kratzern versehrt ist. Seine Katze muss um ihr Leben gekämpft haben.
„Du hast mich immer mitleidig angesehen, doch eigentlich bist du ein gefühlloser Geistesgestörter!“, beschimpft sie ihn. „Wegen dir hörte ich auf, unschuldige Frauen zu töten. Ich dachte daran, wie es wohl wäre einem lieben Kind wie dir die Mutter zu nehmen…“, will sich Winfried erklären, womit er sich erneut keinen Gefallen tut. Ihr Blick verfinstert sich, plötzlich zieht die Fremde das Messer heraus. Dessen Spitze drückt sich dabei in Winfrieds Kinn. Aus ihrer Kehle entweicht ein lauter Schrei: „Genau DAS hast du ja getan…!“
Tapfer befreit er sich aus ihren Armen, windet sich zur Türe. Anstatt ihn zu folgen, steckt die Engelsgestalt ihre Waffe zurück in den Gürtel.
Winfried versucht zu seiner Furchtlosigkeit zurück zu finden: „Wa…wa…was hast du genau gesehen?“
In ihren Augen spiegelt sich ihre Gehässigkeit wieder.
„Du hast uns tagelang von deinem grauen Auto aus aufgelauert. Einst folgte ich dir bis zu deinem Haus. Von nun an besuchte ich dich beständig nach der Schule….“
„Das beweist gar nichts!“, wehrt er sich mutig.
„Schweig!“, zischt die junge Frau. „An dem Tag des Verschwinden meiner Mutter hörte ich ihre Stimme in deinem Haus. Sie schrie, sie weinte, sie kämpfte. Plötzlich Stille. Zuhause wurde ich von meiner weinenden Nachbarin empfangen, sie meinte ich müsse vorerst bei ihr wohnen!“
Winfried widerspricht der Fremden nicht, er setzt sich auf die Sitzbank neben seiner Vitrine. „Du kennst meine Geschichte…“ Ein tiefer Schluchzer entkommt seiner Kehle. „Aber wieso hast du mich dann nie verraten?“
Ihm droht die Stimme verloren zu gehen, die Fremde hingehen tobt ungehalten:
„KEINER GLAUBT EINEM KLEINEM, DUMMEN HEIMKIND! Hast du ja gut inszeniert mit deinem Abschiedsbrief! Selbstmord, ausgezeichnete Idee!“
Mit der Engelsfigur unter dem Arm schreitet sie zur Haustüre: „Zumindest weißt du nun wie es sich anfühlt, seine Liebe zu verlieren!“
„Weil ich meine Liebe verloren habe. DESHALB habe ich ES gemacht! Deshalb!“ Die Worte platzen aus ihm heraus, die Tränen fließen ungehalten über seine Wangen. In seinem Kopf spielt sich der Film seines Lebens ab, der ihn für immer veränderte. Eines Abends nach der Arbeit fand er seine seitdem verflossene Liebe Katie mit einem anderen Mann im Bett. Mit ihren langen, blonden Locken und ihren blauen Augen erinnerte sie ihn immer an einen Engel. Doch seine Wut galt nicht nur ihr, sondern jeder Frau, die ihr ähnlich sah. So mussten Katie und zwei weitere Frauen für ihren Seitensprung büßen.
„Deine Gründe sind mir Allerlei. Ich habe zurück was mir gehört, du hast was dir zusteht, aber deine Ruhe bekommst du NIE mehr!“, holt sie ihn aus seiner Erinnerung, die er stets zu verdrängen versucht.
Winfrieds Stimme erhebt sich: „Du hast mit allem Recht, aber wie kommst du darauf, dass die Engelsfigur was mit deiner Mutter zu tun hat?“
Langsam breitet sie ihre Arme aus, der Stoff ihrer Ärmel fällt wie eine Schleppe zu Boden. Kalter Schweiß tropft ihn von der Stirn: „Körper zu Asche, Asche und Blut, in dem Korpus des Engels bewahre ich’s gut!“
Sein Blick erstarrt, er kehrt in Gedanken zurück an die Fehler seiner Vergangenheit. Die Fremde holt ihn zurück, sie sticht ihren langen Fingernagel inmitten seines Bauches, wodurch ihm die Luft wegbleibt.
„Bevor mich meine Nachbarin ins Heim brachte, machte ich mich ein letztes Mal auf den Weg zu dir. Du warst gerade dabei ein Lagerfeuer zu machen. Sagtest zuerst den Namen meiner Mutter. Erinnerst du dich. Ihr Name war…“
„Sandra!“, antwortet Winfried mit einem kurzen Leuchten in seinen Augen. „Du bist genauso wunderschön wie sie!“
„Wie kannst du es wagen?!“, kreischt sie ihn an. „Du sprachst davon, was sie für eine undankbare, herzlose Nutte  sei. Dann erwähntest du die Namen der anderen Frauen. Nach Beendigung deines Rituals fülltest du ihre Asche in eine ihr ähnlich sehenden Engelsfigur!“
Mit bedrohlichen Schritten geht sie auf Winfried zu. Überraschend lässt sie von ihm ab und wendet sich Richtung Türe. Er läuft ihr nach, hält sie an dem üppigen Stoff ihres Kleides fest: „DU HAST RECHT, DU HAST RECHT. NIMM DIE FIGUR, ABER LASS MIR MEINEN FRIEDEN. BITTE!“
„Du hast den Familien ihren Frieden genommen, wieso solltest du in Frieden leben?“, haucht sie ihm ins Ohr, wodurch ihm das Blut endgültig in seinen Adern gefriert.
Ein langes, siegendes Lachen überkommt die Fremde bis sie mit großen Schritten das Haus verlässt. Mit einem eisigen Blick dreht sie sich ein letztes Mal um, worauf sie aus seinem Garten verschwindet.
Winfried bewegt sich keinen Meter von der Türe weg. Kein Wort kommt mehr über seine Lippen, kein Tropfen Schweiß rinnt aus seinen Poren. Auf der Schwelle seiner Haustüre bleibt er sitzen bis die Sonne sich dem Horizont nähert.
Am nächsten Tag taucht er nicht in der Arbeit auf. Sein Fahrrad lehnt seither am Gartenzaun. Die Herbstblätter fallen zu Boden, keiner rächt sie mehr zusammen. Auch die Tageszeitung vor seiner Haustür bleibt ungelesen. Winfried ist seit dem Tag des unliebsamen Besuches spurlos verschwunden….

 

 

2 thoughts on “Engelsblut

  1. Hallo Sonja,
    deine Geschichte hat mich gefesselt und ehrlich gesagt ziemlich verstört (ich bin selbst Katzenbesitzerin und habe mehr als gelitten als ich deine Geschichte gelesen habe, musste sie aber unbedingt fertig lesen weil ich wissen wollte wie sie ausgeht 😅)
    Mir war es teilweise etwas zu krass, aber das ist ja Geschmackssache, aber prinzipiell finde ich deine Geschichte sehr gut und vor allem spannend geschrieben.
    Auch wenn mir “Engelchen” mehr als leid tut und ich traurig über ihr krasses Ende bin. Besonders das offene Ende macht es wiederum noch spannender, finde ich, und ich frage mich ob Winfried jetzt die Tochter von Sandra sucht um sich an ihr zu rächen 🤔
    Ich lasse dir ein like da, für die Spannung 😉
    Lg Juliane Frewert

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