MoonfoxErIch

Mein 12-jähriges Ich grinst mir vom Display entgegen, ein Pappbecher in der einen Hand, die andere winkt in die Kamera. Eine dieser elenden Eurodance-Songs dudelt mir ins Ohr, Haddaway oder Dr. Alban, längst vergessene Lieder – außer man ist einer dieser Nostalgiker, die sich nach diesen Zeiten zurücksehnen. Das kann man mir kaum vorwerfen.
„Wenn‘S abheben, dann klingelt’s vielleicht nimmer. Nur so ois Idee“, ich sehe zum Kellner auf. Der typische Ober eines Wiener Cafés – unhöflich und sarkastisch. Und selbst dann genervt, wenn man ihn zum Zahlen ruft.
„Nicht mein Handy“, ich sage es leise, bleibe defensiv. Nur nicht auffallen, nicht heute, nie.
„Warum liegt‘s dann vor Ihna?“
Guter Punkt. Dem Mädel, mit dem ich hier bin, gehört es nicht. Ihres hat ein rosa Cover mit Glitzersteinchen darauf, sie hat es demonstrativ mitgenommen, als sie zu den Toiletten stolziert ist. Vielleicht denkt sie, ich wäre zu neugierig. Ich besitze keines dieser Dinger. Zu auffällig. Zu einfach nachverfolgbar. Außerdem lenkt es ab. Also, wieso liegt es vor mir? Und seit wann? Mag sein, dass ich mit dem Gespräch mit der Kleinen beschäftigt war, aber dass es jemand direkt vor mich legen kann, ohne dass ich es bemerke? Dafür bin ich zu aufmerksam.
„Hören‘S, mir wurscht, wem das Ding g‘hört. Hauptsache das Gebimmel hört auf. Das Verbotsschild hängt da net umasunst beim Eingang.“
Ich blicke den Kellner argwöhnisch an. Er hätte die Möglichkeit gehabt, es mir unterzuschieben. Auf der Servierplatte meines Kaffees zum Beispiel. Seine Miene wirkt genervter als zuvor, also schau ich wieder auf das Display zurück. Unterdrückte Nummer, natürlich. „What is love? Baby, don’t hurt me“, brüllt mir entgegen, Ich-12 grinst weiterhin. Dieses Foto ist in meinem Familienalbum und ich kann mich nicht erinnern, es je digitalisiert zu haben. Also lasse ich die Neugier gegenüber meiner Widerwilligkeit gewinnen und hebe ab.

„Wird auch Zeit, Champ“, die Stimme ist verzerrt, wirkt metallisch und doch hört sie sich seltsam bekannt an. Ich merke, wie sich die Härchen auf meinen Armen aufstellen. Eine vage Erinnerung kommt empor, ich schlucke.
„Ruhig, Champ, nicht hyperventilieren. Pass auf, in deiner rechten Hosentasche ist ein Hörstöpsel, der mit dem Telefon verlinkt ist. Für die Dinge, die wir heute noch tun werden, wirst du beide Hände brauchen.“
Ohne nachzudenken greife ich in die Hose, fische den Hörer heraus und stecke ihn mir ins Ohr. Erst jetzt regt sich in mir ein angewidertes Gefühl: „Moment, wer bist du?“
„Alles zu seiner Zeit, Champ. Das mag jetzt ein wenig abgedroschen sein, aber wir werden ein kleines Spiel spielen. Ich verspreche, der Schlüssel ist nicht hinter deinem Auge“, ein metallisches Kichern.
Ich hebe die Augenbraue. Ein alberner Popkulturhinweis. Könnte von mir sein, nur hört mir meist keiner zu. „Schlüssel?“, wiederhole ich wispernd, als würde ich mit mir selbst sprechen.
„Wenn man so will. Oder eher Passwort. Kommt auf dasselbe raus, denke ich“, eine kurze Pause, „Geh mal in die Galerie.“
Ich gehorche beinahe automatisch. Mein Finger tippt auf das Icon mit der Blume und sofort erscheint ein Bild. Und wieder zeigt es mich. Es ist allerdings um ein Vielfaches aktueller. Mein erster Impuls ist es, den Kopf zu heben, um nach rechts zu sehen. Ich blicke zurück auf das Foto. Vom Winkel her müsste es von dem Tisch vor dem zweiten Fenster geschossen worden sein. Auf der Aufnahme sitze ich dem Mädel gegenüber. Sie führt gerade ihre Gabel zum Mund, die rötlichen Spaghetti hängen locker an den Zinken, während ich ihr schmeichelnd zu lächle und meinen Cappuccino umrühre. Kurz nach diesem Schnappschuss wird ihr die Tomatensoße zwischen die Brüste tropfen. Der Gedanke, wie die rote Flüssigkeit langsam hinunter rinnt, erregt mich. Mein Blick wandert zu den Toiletten. Wo ist sie eigentlich? Soll ich ihr nachgehen?

„Hey, Champ. Konzentration. Das Mädel spielt mit, keine Sorge.“
Ich blicke mich alarmiert um. Also kann er mich sehen. Wo ist der Bastard?
„Auf dem Handy spielt die Musik“, ein lapidarer Kommentar, „Wisch mal zum nächsten Bild.“
Wieder gehorche ich nahezu ohne Zögern. Warum verdammt noch mal? Warum wehre ich mich nicht? Diese Stimme – irgendetwas in ihr lässt mir keine Wahl. Das Display verschwimmt, ein neues Fenster öffnet sich: Passwort eingeben.
„Dieser Schlüssel demnach,“ meine Kehle fühlt sich rau an, ich trinke ein Schluck Wasser und räuspere mich.
„Sehr schlau, Sherlock“, es kracht ein wenig in der Leitung, „Sieh dir nochmal das andere Bild an. Du wirst schon rausfinden, was fehlt.“
Was fehlt? Ich wische zurück. Mir fehlt zu aller erst das Mädel vor mir, aber ich denke nicht, dass er das meint. Ein kurzer Frustrationsschub kommt in mir hoch. So sollte der Abend nicht laufen. Ganz und gar nicht. Ich hasse es, wenn nicht alles nach Plan läuft. Ich schaue auf das Foto. Ihr Gesicht ist eigentlich nichts Besonderes. Das Kleid gibt so ziemlich alles preis, was man sehen will, viel Fantasie wird hier nicht mehr benötigt. Es ist vorne geknöpft, die obersten zwei Knöpfe sind beim Schließen wohl vergessen worden. Ein leichtes, schmerzhaftes Pochen meldet sich in meiner Hose. Ich drücke mir den Fingernagel in die Hand. Nicht der richtige Zeitpunkt. Ich sehe wieder zu den Toiletten. Keine Regung bei den Türen. Mein Blick schweift weiter. Es ist dieses klassische Wiener Kaffeehaus – fast schon ein Klischee: winzige Tische, altbackenes Design, arrogante Kellner. Der meinige blickt mir missmutig entgegen und gibt mir das Gefühl, es wäre ihm lieber, wenn ich ihn nicht rufen würde. Als er meinen Blick bemerkt, sieht er konsequent zu einem anderen Tisch. Auch gut. Was fehlt? Ich schaue wieder auf das Display. Im Hintergrund steht der Kellner und kassiert bei einem anderen Gast ab. Eine kleine alte Frau hat einen grünen Schein gezückt. Ich wende meinen Blick hinüber und sehe, dass sie noch da sitzt und ein Stück Kuchen mit einem Gäbelchen malträtiert. Das Gemälde über ihr… Moment. Ich blicke erneut auf das Handy. Auf dem Foto ist dieses Gemälde nicht da. Ich runzle die Stirn. Es fehlt etwas im Bild, was in der Realität da ist? Das erscheint mir unlogisch. Ich hebe meinen Kopf wieder. Ein Boot mit roten Segeln, die Wellen sind erhoben, ein Blitz zuckt in der Dunkelheit der Nacht. Eine Erinnerung drängt sich schmerzhaft in mein Gehirn.

Er betrachtete seinen Vater, der wie immer an dem Schreibtisch saß und seine Bücher studierte. Nie hatte er Zeit für ihn, schien es Ich-12. Er spürte, dass der Wellengang rauer wurde, und sah aus dem Bullauge. Es wurde dunkler, möglicherweise zog ein Sturm auf. „Papa“, weiter kam der Junge nicht, sein Vater hob die Hand und wiegelte ab. Ich-12 seufzte deutlich und stapfte betont langsam aus der Kajüte. Er holte den Fischspeer von der Wand hinter seinem Bett und betrachtete eine Weile seine Mutter, die darin lag. Eine Flasche Wein stand am Boden, eine Schachtel Kopfschmerztabletten war achtlos daneben geworfen worden. Sie kuschelte sich oft zu ihm, wenn Vater sich um seine Arbeit kümmerte – häufig roch ihr Atem nach Alkohol, aber immer hatte sie einen penetranten Zimtgeruch. Er verspürte ein dezentes Unwohlsein. Geräuschlos verließ er sie und schlich die Treppe hoch. Es nieselte, als er begann Kampfbewegungen zu üben, die er einmal in einer Dokumentation über römische Gladiatoren gesehen hatte. Er schwang den Speer hin und her und stach mehrmals heftig zu. Plötzlich hörte er einen Schrei. Er ließ den Spieß fallen und rannte die Stufen hinunter, zurück in die Arbeitskajüte seines Vaters. Er war nicht da, die Bücher mit den roten Bändern lagen am Boden verstreut. Donner erklang und ein Blitz erhellte die Kajüte. In der zweiten war seine Mutter und schlief. Sie lag noch immer so da, wie er sie verlassen hatte. Ich-12 lief hoch auf das Deck. Er rief beinahe die ganze Nacht nach seinem Vater. Aber Papa war weg. Seine Mutter erwachte erst am Morgen. Es sollte die letzte Ausfahrt sein, die sie auf diesem Boot getan hatten. Wie hatte es noch einmal geheißen? Der Griechin gehört die spanische Krone, hatte sein Vater oft gescherzt – Sophia.

„Sophia“, die Stimme kracht in meinem Ohr, „Das klingt richtig.“
Ich wische nach links und tippe den Namen in das Passwortfeld. Es verschwindet und das Foto wird scharf. Sehr scharf, diesem Gedanken kann ich mich nicht erwehren. Er zeigt das Mädel. Sie hat ein halbleeres Weinglas in der Hand, doch daran bleibt mein Blick nicht lange hängen. Die Knöpfe ihres Kleides sind bis zum Bauchnabel geöffnet. Keine Unterwäsche, auf diesem Foto lächelt mir zweierlei entgegen. Ihr Gesicht und ihre Brüste. Sie hat ein wenig Rotwein verschüttet, die Flüssigkeit benetzt ihre Haut. Die Konturen des Weinschleiers bildet ein verzerrtes Grinsen. Nur mit Mühe kann ich mich auf den Rest des Bildes konzentrieren und spüre ein eiskaltes Gefühl im Nacken. Das ist mein Wohnzimmer, in dem sie da sitzt. Wie zum Teufel…
Ein Knarzen lässt meinen Kopf hochschnellen. Die Tür zu den Toiletten hat sich geöffnet. Das Mädel lächelt mir entgegen und stolziert zu mir. Ihr Lippenstift ist leicht verzogen, als würde etwas aus ihrem Mundwinkel tropfen.
Das Mädel spielt mit – das hat die Stimme doch eben gesagt? Macht Sinn, wie soll dieses Foto sonst entstanden sein. Nicht mit mir, das ist mein Abend.

Ich halte ihr das Handy vor die Nase, als sie sich setzt.
„Was soll das? Was willst du von mir?“, flüsternd neige ich mich weiter vor, ich möchte bedrohlich wirken, „Und wer ist dein Freund?“. Sie neigt ihren Kopf und blickt mir in die Augen, das Telefon scheint sie nicht zu interessieren. Ich wedele noch einmal damit herum, nachdem sie nicht reagiert.
„Ich habe mich einmal von einem bekannten Fotografen ablichten lassen – keine Ahnung mehr, wie er heißt“, jetzt hält sie mir ihr Handy vor die Nase, „Denkst du, ich bin fotogen?“
Ich starre auf das Display ihres Telefons. Das Mädel liegt auf dem Sofa, ein durchsichtiges Nachthemd um sich geschlungen, ihr linker Arm zwischen ihren Beinen, ihren rechten hält sie vor die Brust. Ich merke, wie sich die Wärme im Bauch ausbreitet, ich vergesse meine Frage.
Sie lächelt und beugt sich keck nach vor: „Genug Vorspiel. Zu mir oder zu dir?“
Ich schlucke kurz und sehe auf das Telefon in meiner Hand.
„Zu mir.“

Ihre Küsse schmecken nach Zimt und Apfelkuchen. An den Weg hier her erinnere ich mich kaum. Ich weiß nur, dass ich zwischen Neugier und Lust geschwankt bin, wie ein Boxer, den man einmal zu oft getroffen hat. Sie beißt mir ins Ohrläppchen, als er sich meldet.
„Na, Champ, schon vergessen? Wir sind hier nicht nur zum Vergnügen.“
Eine Kälte breitet sich in mir aus und ich drücke das Mädel sanft von mir weg. Im Gedächtnis krame ich nach dem Bild, das sie in meinem Wohnzimmer gezeigt hat. Ihre Hände fummeln an meiner Hose, aber ich halte sie auf. Was fehlt?
„Wein?“
Sie schmollt, es folgt ein Nicken. Ich stehe auf, gehe hinter die Bar und fische das Handy aus der Hosentasche, um die Gegebenheiten zu kontrollieren. Ich betrachte sie aus den Augenwinkeln, während ich die Flasche öffne.
„Hängt da ein Speer über deinem Fernseher?“, sie lehnt sich räkelnd zurück und beobachtet mich. Sie will meine Aufmerksamkeit und das erreicht sie.
„Fischspeer, Familienerbstück“, mehr muss sie nicht wissen.
„Sie sitzt falsch“, ich verfehle beinahe das Glas vor Schreck, als sich die Stimme meldet, „Wein allein wird nicht reichen. Denk an das Foto.“
Ich blicke kurz auf das Display und sehe, dass er Recht hat.
Sie sitzt auf meiner Couch, im Bild auf dem bequemen Sessel daneben. Während ich sie beobachte, beginnt sie ihr Kleid aufzuknöpfen. Den Punkt kann ich abhaken. Schnelles Mädel, die Kleine. Ein warmes Gefühl breitet sich in meiner unteren Region aus, ich versuche, es zu unterdrücken. Zuerst das Wesentliche, der Spaß kommt später. Ich nehme einen Mutschluck aus der Flasche, dann ihr Glas. Mit drei Schritten bin ich bei ihr, ziehe sie hoch, küsse sie gierig und werfe sie auf den Fernsehsessel.
„Das war rüde“, ihr Kichern lässt mich annehmen, dass sie durchaus Gefallen daran hat.
„Hast du etwa Angst vor mir?“, ich versuche ein Knurren.
„Nur, wenn’s sein muss“, ein weiteres Glucksen. Ich reiche ihr das Weinglas, ziehe es spielerisch wieder weg. Sie bekommt den Stiel zu greifen und verschüttet den Wein. Direkt auf ihre Brust. Sie zeigt ein verschämtes Lächeln, beugt sich vor und packt das Glas. Klick, exakt wie am Foto.
„Komm runter, Champ“, die Stimme lässt mich zurückzucken, „Du bist nah dran“.
Mit Bedauern und pochender Körpermitte, versuche ich mich auf den Rest des Bildes zu konzentrieren. Was fehlt? Ich habe das Foto lange genug angesehen, um die Einzelheiten im Kopf zu haben, also fokussiere ich mich auf den Hintergrund. Die Audio-Anlage ist aus, die Lampe neben ihr leuchtet dumpf, damit das Zimmer in sanftes Licht getaucht ist. Manche würden sagen schummrig, aber bisher hat sich keines der Mädels beschwert. Der CD-Ständer ist hell erleuchtet, die sechs Alben in ihrer üblichen Reihenfolge geschlichtet. Ihre Hand legt sich zwischen meine Beine, ich lege meine darauf, um sie zu stoppen und blicke auf. Sechs CDs? Im realen Ständer sind sieben. Ihren Protest bekomme ich nur am Rande mit. Ich möchte sie nicht vergraulen, also lächle ich ihr zu: „Sorry, aber ich finde, ein wenig Musik kann nicht schaden. Einen kurzen Augenblick.“
Ich lasse das enttäuschte Seufzen hinter mir und knie mich vor das Regal. Mein Finger wandert über die Hüllen. Die siebente CD ist neu. Ich entnehme sie dem Gestell. Ein Ring mit rotem Stein auf dem Cover, keine Schrift. Der Rubin scheint im Licht zu funkeln und blendet kurz meine Sinne.

Ich-16 rollte den Teig mit dem Nudelholz aus, seine Mutter kam leise summend in die Küche. Ein melancholisches Lied. „Love Hurts“ von Nazareth. Der Song, den sie bei der Beerdigung hat spielen lassen. Sofort versteifte sich Ich-16. Eigentlich mochte er es für Weihnachten zu backen. Mama hatte seit seiner Kindheit Apfelzimtkuchen mit ihm gebacken, doch nachdem Vater gestorben war, hatte sich das Ganze verändert.
„Erinnerst du dich, als wir noch jedes Jahr nach Italien gefahren sind. Mit Papa?“, er hörte die Traurigkeit in ihrer zitternden Stimme, „Bevor er diesen Job an der Uni annahm und sich zu Tode geschuftet hat.“
Natürlich erinnerte er sich. Es war die schönste Zeit seiner Kindheit gewesen. Wenn er Trost brauchte, zog er sich in Gedanken dorthin zurück. Er antwortete nicht, es war sowieso mehr ein Selbstgespräch.
„Ich hab ihm immer gesagt, wir sollten wieder dorthin fahren. Wo waren wir da immer, Liebling?“
Er bekam Gänsehaut aber versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Mit geübten Bewegungen schnitt Ich-19 den Teig zu Streifen. Ihre Hand legte etwas neben ihn auf die Küchenzeile – ihren Ehering, der rote Stein funkelte ihn bedrohlich an. Ihr Körper drückte sich an seinen Rücken, ihr Atem legte sich warm in seinen Nacken.
„Ich vermisse deinen Vater so sehr“, hauchte sie ihm ins Ohr, ihre Hand glitt an seinem Bauch hinab. Er hielt kurz die Luft an. Hör auf, schrie er innerlich, doch Ich-16 wusste es besser und blieb stumm. Es widerte ihn an. Er drehte sich um. Seine Mutter ließ sich sofort schlaff in seine Arme fallen. Leise, fast als würde sie einschlafen, sagte sie: „Du bist jetzt der Mann im Haus.“
Ihr Kuss schmeckte nach Zimt, Äpfeln und Alkohol. Ich-16 schloss die Augen und seine Gedanken wanderten nach Italien.

„Elba“, entfährt es mir.
„Na klar. Dein Rückzugsgebiet“, die Stimme in meinem Ohr klingt genervt, „So viel habe ich vergessen.“
„Wie bitte?“
„Nicht der Rede wert, Champ, wir sind sowieso bald fertig. Tipp ein.“
Das nächste Bild fokussiert sich und ich blicke unvermittelt zu meinem Fang heute Abend. Dem Kleid hat sie sich nun gänzlich entledigt, sie ist vom Sessel aufgestanden und trommelt mit ihren Fingern auf ihrem Bauch. Ich schaue auf das Foto: Hier ruht sie in meinem Bett, ihre Augen geschlossen, ihr Mund weit offen. Die Bettdecke schimmert rötlich nass, das Weinglas liegt achtlos neben ihren Schenkeln.
Dorthin hätte uns der Abend so oder so führen sollen. Mit einem Ruck hebe ich sie hoch und eile mit ihr ins Schlafzimmer, wo ich sie aufs Bett werfe. Die Lust verschleiert meine Sinne, ich lasse mich völlig in den Augenblick fallen.

Ihr Quieken ist bei den ersten Stößen noch laut und schrill, geht in leises Winseln über und erstirbt zuletzt in einem Keuchen. Ich stoße weiter zu, bis mich der Moment befriedigt, anschließend krabble ich vom Bett und betrachte schwer atmend die Szenerie. Was fehlt? Das Mädel liegt regungslos vor mir, ihr Mund weit geöffnet. Ich schließe kurz die Augen, um mich zu sammeln, lege den Kopf in den Nacken und atme tief ein. Mein Blick fällt nach oben an die Decke. Statt dem Spiegel, der für gewöhnlich dort über dem Bett positioniert ist, ist eine rote Blume gemalt. Amaryllis. Die Erinnerung trifft mich diesmal nicht überraschend, ich bleibe ruhig und sehe zu.

Ich-19 lächelte dem Mädel entgegen, die schüchtern nach unten blickte. Sie war das erste Mädchen, dem er Blumen schenkte.
„Sehr schön“, flüsterte sie, „Du kennst meine Lieblingsblumen?“
„Ich habe versucht, dich besser kennen zu lernen, also habe ich deine Freunde gefragt.“
Ihre Wangen erröteten, sie sah sich um: „Ich war noch nie in einem Baumhaus.“
Er hatte das Häuschen eigenhändig gebaut. Es war ein guter Ort fürs erste Mal. In der Kiste im Eck waren Decken für diesen Moment verstaut, durch die kleinen runden Fenster waren Sterne zu sehen. Er wandte sich ihr wieder zu.
Das Mädel war 3 Jahre jünger als Ich-19 und er wusste, dass sie noch keinen Freund gehabt hatte. Er sollte der Erste sein. Sie sollte die Erste sein. Ohne Zögern küsste er sie. Ihr Kuss schmeckte nach Zimt, das befeuerte seine Vorfreude. Sie wehrte sich einen Moment, die Blumen fielen ihr aus der Hand. Sie ließen sich auf die feuchten Holzbretter nieder.

„Tanja“, diesmal ertönt die Stimme hinter mir, nicht in meinem Ohr. Ich wirble herum und blicke in den großen Spiegel, der eigentlich an der Decke hängen sollte. Ich sehe mich selbst, wie ich grinse, „Das erste Mädel. Die letzte, deren Namen wir noch kennen.“
Nein, ich grinse nicht. Mein Spiegelbild grinst. Er grinst. In seinen Augen blitzt Belustigung auf.
„Hallo, Champ“, er klingt nicht mehr metallen verzerrt, es ist meine Stimme, die da mit mir spricht. Ich lasse mich auf die Bettkante nieder, spüre die Feuchte des Lakens unter mir, während Spiegel-Ich mich unverhohlen fixiert.
„Jetzt erinnere ich mich langsam“, er neigt den Kopf, taxiert mich, „Aber du nicht, was? Lass mich dir helfen.“
Im Spiegel schaltet sich hinter ihm ein Fernseher ein.
„Hier hast du mich das erste Mal erschaffen“, er drückt auf eine Fernbedienung. Am Bildschirm erscheint Ich-12, den Fischspeer in der Hand. Das andere Ende des Speeres blitzt blutrot auf, es ragt aus dem Rücken meines Vaters. Er starrt den Jungen vor sich ungläubig an. Das Bild verändert sich: Ich-12 wirft den Körper über die Reling.
„Das war ich. Für Zusammenräumen warst du zu schwach“, das Spiegelbild macht eine wischende Handbewegung.
Der Fernseher wird kurz schwarz, Ich-16 erscheint. Das Ausstechmesser in seiner Hand hat er tief in die Seite von Mama gedrückt.
„Mamas letzte Backstunde, Champ. Auch hier war das Wegräumen meine Aufgabe.“
Tanja, mit weit aufgerissenen Augen, das Messer genau zwischen ihren Brüsten gerammt, die Amaryllis liegen am Boden in einer roten Lache. Ich sehe mein 19-jähriges Selbst, wie es im Blut sitzt und lächelt.
„Beim ersten Mal kommt man immer zu früh“, Spiegel-Ich scheint durch mich durchzublicken. Ich drehe mich um und sehe das Mädel. Das war kein Rotwein auf dem Foto, ihr Blut hat das Bett getränkt. Ich rutsche von der Kante.
„Sie war unsere Letzte bisher. So willig, wie du sie heute dargestellt hast, ist sie eigentlich nicht gewesen, aber du warst schon immer gut darin, dir etwas vorzumachen. Nach ihr warst du der Meinung,“ seine Stimme verändert sich, schreit beinahe, sein Gesicht verzerrt sich vor Wut, „dass du aufhören musst. Du hast mich in deinem verdammten Gedankenpalast eingesperrt – so hast du das doch immer genannt hier, oder nicht? Der Ort, in dem du deine Erinnerungen aufbewahrst. Ein hübsches Verlies für deinen alten Freund. Seit Jahren sehe ich nur drei Bilder vor meiner Zelle. Ich hatte schon vergessen, wer ich bin!“ Speichel schoss aus seinem Mund. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich je so wütend gewesen bin. Spiegel-Ich schon. Er-Ich ist immer der emotionalere von uns gewesen. Ich hebe den Kopf: „Erich?“
„Immerhin kennst du noch meinen Namen, Champ! Aber daran musste ich dich auch erst erinnern, hm?“
Tatsächlich fallen etliche Erinnerungen über mich herein. Viele Mädels, viele Momente, in denen Erich hatte aufräumen müssen – so hat er es immer genannt. Aufräumen. Meinen Dreck wegmachen.
„Ich musste aufhören, Erich“, ich flüstere, kleinlaut beinahe, „Es waren zuviele. Du wurdest schlampig beim Aufräumen.“
„Schlampig?“, er spuckt mir dieses Wort entgegen, „Ich war schlampig? Du warst es, der seine Lust nicht mehr im Griff hatte. Du warst gierig. Am Ende hast du fast täglich nach einer gesucht! Ihnen nachspioniert. Die Kleine da am Bett hat dich sogar bemerkt! Dass sie sich von deinem Interesse geschmeichelt gefühlt hat, war verdammtes, perverses Glück! Als ich diesen Dreck wegmachen musste, hattest du plötzlich beschlossen, mir in den Rücken zu fallen und mich weg zu sperren. Irgendwo da hinten in deinem Kopf.“
Ich nicke nur: „Sie tat mir Leid.“
„Leid?“ Er lacht mich aus, „Du bist ein Feigling, Champ. Wenn du an die Mädels zurückgedacht hast, hast du dir immer vorgelogen, dass ich es gewesen war, der das Messer geführt hat. Weil es dir Leid getan hat. Am Ende bist du zu diesem Psychoheini gelaufen und hast mich eingesperrt.“
Der Gedanke trifft mich wie ein Schlag. Ich habe meinem Psychiater immer nur von meiner unbändigen Lust erzählt, aber er wollte die Ursache erkunden. Warum habe ich mich auf das Experiment mit der Hypnosetherapie eingelassen? Die Gefahr, die Kontrolle zu verlieren, ist enorm. Zeit, es zu beenden. Erich grinst mir wieder aus dem Spiegel entgegen.
„Ich glaube, dafür ist es zu spät, Champ“, er tritt näher, sodass wir uns gegenüberstehen, „erinnerst du dich an dieses lustige Mathematikrätsel, das wir im ersten Semester gehört haben. Als wir neben dem Mädel mit dem Arschgeweih saßen? Wahrscheinlich hab nur ich zugehört, hm? Das Rätsel mit dem Löwen? Eine Lösung war, dass man, wenn man im Käfig sitzt, diesen als außen definiert. Und schwupps, ist der Löwe der Gefangene. Gute Nacht, Champ.“ Es wird dunkel.

Die Augen öffnen sich und ich sehe meinen Psychiater. Im Spiegel hinter ihm kann ich erkennen, wie mein Körper sich von der Couch erhebt. Ich höre meinen Nacken knacken, als sich der Kopf ruckartig bewegt, mein Blick fällt wieder auf den Doktor. Er ist bleich. Meine Hände reiben aneinander, ich verstehe nicht, wieso.
„So wie du aussiehst, hast du alles mitgehört, Champ“, höre ich meine Stimme, mein Körper erhebt sich. Ich kann nicht verhindern, was nun geschieht. Er ist ich.

2 thoughts on “ErIch

  1. Okay, deine Geschichte regt auf jeden Fall zum nachdenken an. Ich musste die ganze Zeit konzentriert bleiben um eben auch die Story zu verstehen. Aber deine Ideen sind super, ich freue mich mehr von dir zu lesen! Lg Lia 🙂

  2. Hallo Moonfox,

    Sehr interessante Geschichte. Die Art, wie du die einzelnen Ichs beschreibst, ist irgendwie kurios, aber ganz cool. Man muss aber dadurch sehr konzentriert lesen, um nichts zu verpassen und alles zu verstehen.
    Ich habe zwar recht früh gemerkt, wer Erich sein könnte, aber das macht jedoch nichts. Das Ende war trotzdem überraschend und das fand ich super.
    Etwas irritiert hat mich anfangs nur, dass er behauptet, es wäre nicht sein Handy, auch wenn sein Bild drauf ist…. Also gegenüber dem Kellner.
    Und die Gedankenwelt im Verhältnis zur Realität ist manchmal total verschwommen… Aber, dass soll ja vermutlich so sein 🙂

    Mein Like hast du, war mal was anderes. Danke dir!

    Schade, dass du bisher so wenig Likes hast – hast du dir überlegt, dich mal bei wirschriebenzuhause auf Instagram vorzustellen?

    Liebe Grüße,

    Jenny /madame_papilio

    Ich freue mich natürlich, wenn du noch Zeit und Luft hast meine Geschichte zu lesen. https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/nur-ein-kleiner-schluessel

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