Nathalie WeyErkennung der Tatsachen

Erkennung der Tatsachen

Anna war nach ihrem harten, aber erfolgreichem Arbeitstag froh, endlich den Nachhauseweg antreten zu können. Wie immer hörte sie während der Busfahrt laut Musik, damit niemand auf den Gedanken kam, sie anzusprechen. Bei der Haltestelle zum Dorfbrunnen stieg sie aus und lief zügig nach Hause. Kurz bevor sie die Eingangstüre aufschloss, schaute sie noch in den Briefkasten. Sie stutze als sie ein iPhone darin entdeckte. Anna schaute sich um und rechnete schon damit angesprochen zu werden oder sogar des Diebstahles bezichtigt zu werden. Aber weit und breit war sie die einzige Person. Ganz langsam, als könnte es jeden Moment explodieren, nah sie es heraus. Instinktiv drückte sie auf den Homebutton, natürlich erschien das Ladesymbol. Sie hatte genug und wollte eigentlich nur ihren Feierabend geniessen und diesen nicht mit einem mysteriösen Handy verbringen. Daher entschied sie sich, das Handy und die Post mit in ihre Wohnung zu nehmen. Oben angekommen schmiss sie die Post samt dem Handy auf den Esstisch. Anna schaute sich das Handy genauer an, aber sie fand nichts. Das iPhone glich jedem anderen und machte keinen verdächtigen Eindruck. Warum auch, es ist nur ein Handy, nicht mehr und nicht weniger. Gefrustet und genervt legte sie das Handy beiseite. Anna wollte sich ihrer Post widmen, denn wirklich wichtigen Dingen im Leben. Wie immer waren das meiste Rechnungen oder unwichtige Mitteilungen. Plötzlich fiel ihr ein kleiner gelber Notizzettel auf einem der Briefumschläge auf. Sie las ihn, immer und immer wieder. Ihr Herz begann wie wild zu pochen, das was da geschrieben stand, machte überhaupt keinen Sinn, dennoch reagierte ihr ganzer Körper heftig auf die Botschaft.

Sieh dich an. Siehst du was? Nein? Schau genauer hin.

Diese vier Sätze machten ihr schreckliche Angst. Sie füllten sie mit einer ungewohnten Form der Unfähigkeit, nichts tun zu können und nichts daran zu ändern. Aber sie war sich sicher, diese Nachricht war für sie bestimmt. Sie wusste auch genau, dass es ihr Ex-Freund war, der wiederum genau wusste, wie sehr sie unter ihrem Aussehen leidet.

Anna erlitt mit 16 Jahren einen schweren Unfall. Seit einem missglückten Chemie Experiment, ist ihr Gesicht schrecklich vernarbt. Zum Glück hat sie keine weiteren gesundheitlichen Schäden davongetragen. Nur ihre Seele leidet bis heute an ihrem entstellten Gesicht. Ihr langjähriger Freund Tom wusste von all ihren Sorgen und Ängsten. Er hat sie aber immer unterstützt und sie darin bestärkt, dass sie wunderschön ist. Sie waren schon ein Paar, bevor dieser schreckliche Unfall geschah. Tom kannte die schöne, nicht entstellte Anna. Daher wusste sie immer, dass Tom in ihr nicht nur das Brandopfer sah, dass man beschützen musste, sondern, dass Anna immer noch Anna ist. Durch all die schweren Jahre hat Tom sie begleitet, wich nie von ihrer Seite. Doch nach gut zehn Jahren Beziehung haben sie sich auseinandergelebt. Anna hat die Initiative ergriffen und Tom die unschöne Wahrheit offenbart, die er nicht aussprechen wollte. Er wollte es noch einmal probieren und sich mehr Mühe geben. Doch für Anna war es klar, nur ein definitiver Schlussstrich würde ihnen das geben was beide wollten, nämlich eine Veränderung. Nicht mehr das Gefühl haben eingeengt zu sein, endlich mal wieder das Tun was man will. Tom hat mürrisch seine Sachen gepackt und ging seines Weges. Seine letzten Worte an Anna schwirren ihr bis heute im Kopf herum «Du machst einen grossen Fehler, sie dich mal an! Niemand will eine Freddy Krüger Fratze als Freundin haben!» Anna erschrak nicht nur von dem was Tom sagte, sondern auch mit welcher Boshaftigkeit er es sagte. Aber seit ihrer Trennung vor rund einem halben Jahr hat Anna nie mehr etwas von Tom gehört. Am Anfang hatte sie sich Sorgen um ihm gemacht, da auch niemand von ihren gemeinsamen Freunden etwas von Tom gehört hatte. Aber nach seiner Verabschiedung wollte sie nichts mehr mit ihm zu tun haben.

Anna war sich sicher, dass diese Notiz von ihm sein musste. Sie hatte keine Feinde. Die meisten Menschen haben Angst man könnte sie verurteilen, wenn sie etwas Böses zu Anna sagen würden. Daher kannte sie niemanden der ihr etwas Böses wünschte oder sich über sie lustig machen möchte. Langsam erhob sie sich und ging zu ihrem Fenster, lehnte ihre Stirn gegen das kühle Glas. Wenn sie Stress hat oder überfordert ist, hilft ihr die Kälte, um besser nachdenken zu können. Ein Gedanken schoss ihr in den Kopf, sie hatte das Handy ganz vergessen. Schnell lief sie zum Tisch und hob es auf. Da viel ihr wieder ein, sie musste es zuerst laden. Zum Glück hatte sie selbst ein iPhone und konnte es somit sofort aufladen. Bis es sich einschalten lies, entschied sich Anna, eine Runde Netflix zu schauen.

Am nächsten Tag erwachte Anna um acht Uhr. Panisch suchte sie irgendeine Uhr. Erleichtert stellte sie fest, dass es Samstag war und zu gleich nervte es sie, dass sie an ihrem freien Tag bereits um diese Zeit wach war. Aber wieder einschlafen konnte sie nicht mehr, deshalb beschloss sie aufzustehen. Auf dem Weg in die Küche kam ihr wieder das mysteriöse Handy in den Sinn. In wenigen Schritten war sie beim Handy. Anna drückte den Homebutton, es erschien die Mitteilung, dass keine Sim-Karte eingelegt sei. Als sie diese Mitteilung wegdrückte, wurde sie aufgefordert das Passwort einzugeben. Innerlich seufzte sie auf, diese letzten paar Stunden raubten ihr den Verstand. Die unheimliche Botschaft von Tom und dazu dieses Handy. Sie hatte eigentlich keine Lust mehr, dennoch wusste sie, dass das alles jemand bewusst inszeniert hat. Und diese Gewissheit bereitet ihr ein Gefühl von Hilflosigkeit. Sie gab irgendwelche Zahlenreihenfolgen ein, ohne Erfolg. Dann gab sie das Datum ein, an dem sie und Tom zusammengekommen waren, auch falsch. Dann das Datum des Unfalls, schon wieder falsch. Danach probierte sie das Datum ihrer Trennung, ebenso falsch. Nach diesen Misserfolgen probierte sie ihr Geburtsdatum aus. Als wäre nichts gewesen, erschienen die verschiedenen Applikationen. Nun war sie sich sicher, dass es auf jeden Fall jemand aus ihrem Freundeskreis sein musste. Und Tom war immer noch ihr Hauptverdächtigter. Sie scrollte durch das Handy, öffnete verschiedene Apps. In den Nachrichten gab es nichts, auch bei den Notizen war alles leer. Als Anna die Fotos öffnete, strahlte ihr eine junge Frau entgegen. Sie war ungefähr in ihrem Alter, sah attraktiv aus. Irgendetwas kam ihr bei dem Foto komisch vor. Es machte auf Anna einen vertrauten Eindruck, so als hätte sie die Frau auf dem Foto schon mal gesehen. Ein Gedanke schoss ihr plötzlich durch den Kopf, die Frau sieht aus wie ich, dachte Anna. So schnell wie der Gedanke auch gekommen war verschwand er auch wieder. Das kann gar nicht möglich sein, Anna konnte ja nicht wissen wie sie heute aussähe, wenn sie kein vernarbtes Gesicht hätte. Anna schämte sich für diesen Gedanken. Sie durchsuchte das Handy auf weitere Hinweise, aber nur das eine Foto war vorhanden. Anna beschloss, dass sie Hilfe von ihrer besten Freundin Rebecca brauchte. Ohne viel Hoffnung wählte Anna die Nummer von Rebecca. Wie sie erwartet hatte, nahm sie nicht ab. Rebecca schläft um diese Uhrzeit am Samstag meistens noch. Deshalb beschloss Anna zu ihr zu fahren. Auf dem Weg zu Rebecca hatte Anna die ganze Zeit das Gefühl, beobachtet zu werden. Dauernd schaute sie sich um und änderte immer wieder die Strassenseite. Von den anderen Passanten wurde sie blöd angeschaut oder mit einem irren Lächeln angesehen. Anna war froh als der Wohnblock von Rebecca endlich in Sichtweite war. Dieser eine Gedanke von vorhin kam ihr immer wieder in den Sinn, doch Anna wollte keine Zeit an ihn verschwenden. Nur noch ein paar Meter trennten sie von der offenen Strasse, als plötzlich jemand sie am Arm packte. Laut schrie sie auf und rannte schnell davon. Anna schaute sich panisch um und merkte, dass sie niemand verfolgte. Trotzdem, ihr Herz raste. Anna rannte die restlichen Meter zu der Haustür ihrer Freundin. Beim ersten Klingeln machte ihr niemand die Tür auf, aber beim dritten Mal ertönte das Summen von der Schliessanlage der Eingangstür. Immer noch voller Adrenalin im Körper lief sie die Treppe hoch. Im dritten Stock angekommen, begrüsste sie eine verschlafene Rebecca. Rebecca wollte schon sich darüber beschweren so früh am Morgen Besuch zu bekommen, aber als sie die durchgeschwitzte und verängstigte Anna sah, blieben ihr die Worte im Hals stecken. Anna warf sich in die Arme von Rebecca und begann zu weinen. All die Anspannung von den letzten Stunden kam zum Vorschein. Rebecca führte Anna in die Wohnung und setzte sich mit ihr auf die Coach. «Du siehst schrecklich aus. Was ist passiert?» fragte Rebecca. Anna erzählte ihr von dem Notizzettel mit der Botschaft und von dem Handy mit dem seltsamen Foto. Ausserdem berichtet sie von der Person, die sie Arm festgehalten hatte. Anna zeigte ihr das Foto. Rebecca betrachtet das Foto lange und genau. «Die Frau auf dem Foto sagt mir nichts, aber ihr Gesicht erinnert mich an jemanden, aber ich weiss nicht an wen. Und die Notiz zu dem Handy macht für mich keinen Sinn? Glaubst du nicht, dass sich vielleicht jemand einen Spass erlaubt?» fragte Rebecca. Anna wollte Rebecca am liebsten sagen, die Frau auf dem Bild bin ich. Aber sie glaubte sich selbst nicht, daher schwieg sie lieber. «Nein, definitiv nicht. Der Notizzettel richtet sich eindeutig an mich und das Passwort vom Handy ist mein Geburtsdatum. Niemand der sich einfach einen Spass erlauben würde, würde so viel Aufwand betreiben, ausser Tom», antwortete Anna. «Du bist also überzeugt, dass Tom hinter dem allem steckt?» fragte Rebecca und zog dabei ihre Augenbraue noch oben. «Ja. Wer sollte es den sonst sein? Mir fällt niemand ein, dir etwa?». «Nein, aber Tom? Er hat dich immer geliebt. Eure Trennung ist nicht optimal gelaufen, aber ich glaube nicht, dass er zu so etwas fähig wäre.» Rebecca schaute sich den Notizzettel nochmals genauer an. Sie runzelte ihre Stirn und sagte zu Anna «Schreib mal etwas auf einen Zettel.» Verwirrt schaute Anna sie an, machte aber vorerst keine Anstalten etwas zu schreiben. Langsam griff sie zu einem Kugelschreiber und fing an «Hallo» zu schreiben. Sofort als Anna damit fertig war, nahm Rebecca ihr den Zettel weg. Sie legte die mysteriöse Botschaft und das Hallo von Anna nebeneinander. Endlich begriff Anna was Rebecca vorhatte und ging um den Tisch herum und begutachtet selbst die beiden Nachrichten. Auf den ersten Blick sah sie es schon. Das a sah bei beiden jeweils sehr ähnlich aus. Auch die Krümmung der Buchstaben liess darauf schliessen, dass die Person, die die Botschaft geschrieben hatte, ebenfalls mit der linken Hand schrieb. Rebecca schaute Anna an und sagte zu ihr «Du sieht auch die Ähnlichkeit, oder? Mit welcher Hand schreibt Tom?». Anna nickte langsam zur Bestätigung. All das machte keinen Sinn, das Handy mit der Botschaft, dann die Schrift, die zum Verwechseln ihrer ähnlich sieht. «Anna, bist du dir sicher, dass du dir das nicht alles selbst ausgedacht hast? Wenn ja, gibt es zu. Es ist langsam echt nicht mehr lustig.» Sofort schüttelte Anna ihren Kopf. «Das war ich nicht. Du kennst mich seit vielen Jahren schon. Du müsstest wissen, dass ich nie solche Scherze machen würde. Und es kann doch nicht Tom gewesen sein, er schreibt mit der rechten Hand.» Rebecca schaute Anna lange an. Schlussendlich sagte sie «Natürlich glaube ich dir, nur all das macht keinen Sinn. Wenn es Tom nicht gewesen sein kann, wer dann? Bist du dir sicher, dass du niemanden anderen verdächtigst?» Wie auch schon gestern überlegte Anna wieder wer ihr, etwas Böses wünschte. Sie kam wieder zum gleichen Ergebnis, ausser Tom kam ihr niemand in den Sinn. «Tom ist der Einzige, dem ich so was zutrauen würde und mit dem ich in den letzten Monaten Streit hatte.» «Anna denk bitte nach. Irgendjemand möchte dir etwas mitteilen. Wir müssen herausfinden wer und was dieser Person dir sagen will.» Anna war froh, dass Rebecca ihr helfen möchte. In jeder Stresssituation behielt sie einen kühlen Kopf und erkannte auf was es wirklich ankommt. Aber langsam verlor Anna die Nerven. «So kommen wir nicht weiter. Ich denke, dass die Person, die das alles hier inszeniert hatte, nicht wollte, dass wir sofort herausfinden, wer sie ist. Wir müssen mit den Sachen, die wir haben, etwas herausfinden. Also fassen wir zusammen. Zum einen haben wir einen Zettel mit der Botschaft, dass du dich ansehen solltest, dann ein Handy mit einem Foto, von einer Frau, die uns bekannt vorkommt und das Passwort vom Handy ist dein Geburtsdatum. Ah, und nicht zu vergessen, die Schrift auf dem Zettel gleicht deiner sehr. Jetzt müssen wir noch diese Puzzlestücke zu einem Ganzen zusammenfügen.» Anna schaute Rebecca an und sagte «Ich hasse Puzzles. Vor allem dann, wenn man nicht weiss, wie das Endergebnis aussieht.» Rebecca lächelte Anna an und begann damit, die vorliegenden Hinweise zu untersuchen. Auch Anna begann, das Handy nochmals zu untersuchen und die Frau auf dem Foto zu finden. Rebecca versuchte bei Freunden herauszufinden wo Tom momentan ist, nur um sicherzugehen, dass nicht er hinter dem allem steckt. Aber anscheinend hat er sich seit Wochen bei niemanden mehr gemeldet. Nur Jannick sagte, dass er letzte Woche einen Post von Tom bei Instagram gesehen hätte. Er sagte, dass es so aussieht als wäre Tom momentan in den Ferien in Spanien. Somit konnten sie Tom definitiv als Verdächtigen streichen. Nach gut einer Stunde waren sie durch mit ihrer Sucherei und hatten dabei nichts neues herausgefunden. Anna machte die Tatsache nicht zu wissen, was das alles zu bedeuten hat immer mehr zu schaffen. Und die Auswirkungen, die es möglicherweise auf ihr Leben haben wird. «Ich gebe auf, wir finden nie mehr heraus», sagte Anna. Rebecca erwiderte «Wir müssen logisch Denken. Die Person hat dir nur diese Informationen geben. Die müssen reichen, um hinter das Geheimnis zu kommen. Wir übersehen irgendetwas, da bin ich mir sicher. Was kann es nur sein? Kann ich mal das iPhone haben?» Anne übergab Rebecca das Handy. Rebecca wollte sich das Foto noch einmal genauer ansehen. Aber ihr wollte nicht in den Sinn kommen, woher sie die Frau kannte. Sie zeigte das Foto auch Anna wieder. «Kann es sein, dass wir mit dieser Frau zusammen in die Schule gegangen sind?» «Schon möglich. In unsere Stufe waren wir über 100 Schüler. Da kann es gut sein, dass wir uns nicht mehr an sie erinnern können oder wollen», antwortet Anna. Rebecca überlegte, ob es jemanden gab, der Anna nicht mochte. Ja Anna war nicht beliebt gewesen aber auch nicht unbeliebt. Sie hatte Freunde und nach dem Unfall hat sich eh niemand getraut, ihr etwas Böses zu sagen. Alle hatten sie in Watte gepackt. Rebecca konnte sich nicht vorstellen, dass jemand aus der Schulzeit jetzt noch etwas gegen Anna hegen könnte. «Ich kann es mir kaum vorstellen, nach all der Zeit. Aber eine andere Erklärung habe ich im Moment auch nicht.» Anna nickte und sagte «Geht mir ebenso, aber man weiss nie, was im Kopf von anderen vorgeht. Daher kann man niemanden ausschliessen.» Rebecca zuckte als Antwort mit der Schulter und erhob sich, dabei fragte sie Anna, ob sie auch einen Kaffee haben möchte. Anna nickte dankbar. In all der Aufregung hat sie gar nicht gemerkt, dass sie seit Stunden nichts gegessen oder getrunken hatte. Als Rebecca mit den beiden Kaffees zurückkam, bemerkte bei Anna eine Veränderung in ihrem Blick. «Über was denkst du so angestrengt nach?» Anna antwortet nicht gleich, sie war so in ihren Gedanken versunken. «Wie du schon vorhergesagt hattest, irgendwas übersehen wir. Aber die Frage ist, was?» Anna nahm das Handy nochmals und schaute sich das Foto von der Frau an. Auf dem Foto konnte man nicht erkennen wo das Bild aufgenommen wurde und wieder der Gedanke, dass sie auf dem Bild selber zu sehen ist. Anna hatte langsam das Gefühl, den Blick für die Realität zu verlieren. Ständig spukte dieser unlogische, aber hartnäckige Gedanke durch ihren Kopf. Rebecca stellte sich neben Anna und fragte «Was versuchst du herauszufinden?» «Ich bin überzeugt, dass das Foto uns eine wichtige Botschaft übermitteln will. Aber es lässt sich nichts darauf schliessen. Man erkennt nicht, wo das Foto gemacht wurde oder ob es schon älter ist.» Energisch riss Rebecca Anna das Handy aus den Händen. Irritiert schaute Anna ihre Freundin an. Doch diese lächelte bereits glücklich und hielt Anna das Handy wieder hin. «Du hast mich auf eine Idee gebracht, als du sagtest, man könnte nicht sehen wo das Foto gemacht wurde. Du hast recht, man kann es nicht sehen, aber wenn man auf das Foto klickt, erscheint der Ort, an dem es aufgenommen wurde.» Anna fasste sich an den Kopf. Sie konnte es nicht glauben, die Lösung war die ganze Zeit vor ihrer Nase gewesen und dazu noch so einfach. Die Ortschaft an dem das Foto aufgenommen wurde hiess, Zürich Lindenhof. Diesen Ort kannten sie gut, ein beliebtes Ziel bei Touristen. Von dort oben hat man einen schönen Blick auf das Niederdörfli. Sie las das Datum, das unter dem Ort stand, 12 April 2020 um 23:45 Uhr. Das heutige Datum? «Hast du dir schon das Datum und die Uhrzeit angeschaut, zu welcher das Foto aufgenommen wurde?» Anna gab Rebecca das Handy wieder zurück. «Das kann nicht stimmen. Jemand hat das bewusst geändert, denke ich.» Langsam wurde Anna die Tragweite der neuen Erkenntnisse bewusst. Jemand wollte sich mit ihr heute Abend treffen. Jemand der sie kennt, der genau weiss, was heute passieren wird. Anna war klar, dass sie heute Abend dort sein musste. Ansonsten würde sie immer der Gedanke quälen, keine Gewissheit zu haben. «Rebecca, ich bin mir sicher, dass sich jemand mit mir heute Abend treffen möchte und ich werde auf jeden Fall hingehen.» Rebecca schaute zweifelnd Anna an. «Ich werde mitkommen. Ich finde es zwar keine gute Idee, aber es interessiert mich selbst, wer hinter dem allem steckt und ich lasse dich natürlich nicht im Stich.» Dankbar umarmte Anna ihre gute Freundin. «Jetzt ist es 11 Uhr morgens, bis zu unserem Treffen haben wir noch gut 12 Stunden. Nutzen wir diese Zeit, um unser Vorgehen genau zu besprechen, damit nichts schieflaufen kann.» sagte Rebecca mit einem leicht verängstigten Unterton in ihrer Stimme.

Kurz nach 23 Uhr verliessen die beiden die Wohnung von Rebecca. Sie hatten beschlossen, dass Rebecca sich die ganze Zeit über im Hintergrund aufhält. Anna hatte befürchtet, dass wenn sie mit jemanden gesehen wird, könnte sich die Person aus dem Staub machen. Ausserdem fühlt sie sich dazu verpflichtet, Rebecca zu schützen. Von Rebeccas Wohnung waren es nur 15 Gehminuten bis zum Lindenhof. Sie liefen schweigend nebeneinander her, beide waren in ihren Gedanken vertieft. Rebecca hat ein ungutes Gefühl bei der Sache, aber es beruhigte sie, dass der Treffpunkt mitten in Stadt war. Falls etwas schieflaufen sollte, konnte sie schnell Hilfe holen. «Hast du das Handy und den Notizzettel dabei?» fragte Rebecca. «Ja klar! Aber ich denke nicht, dass ich es brauchen werde.» Rebecca zuckte mit den Schultern. Nur noch ein paar Meter waren sie von ihrem Ziel entfernt. Der Lindenhof erhob sich vor ihnen, ein grosser Platz, der über keine Beleuchtung verfügt. Anna blicke zu Rebecca und sagte «Ich gehe rechts rüber zu den Sitzbänken. Wenn ich deine Hilfe brauche, werde ich dich rufen.» Rebecca erwiderte, dass sie sich im hinteren Bereich, zwischen den Gebüschen, verstecken werde. Zum Abschied nickten sich die beiden aufmunternd zu. Als Anna allein zu den Bänken ging, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Was wenn sie die Hinweise falsch gedeutet hatten? Oder hätten sie nicht besser die Polizei informieren sollen? Aber Anna war sich bewusst, dass sie jetzt hier war und daran konnte sie nichts mehr ändern. Sie blickte auf ihre Uhr, es war 23:40 Uhr, also noch 5 Minuten. Sie liess den Blick über Zürich schweifen und versuchte all ihre Angst zu verdrängen. Plötzlich hörte sie Schritte auf dem Kiesweg, sie kamen immer näher. Annas Nackenhaare stellten sich auf, sie musste sich zwingen nicht davon zu rennen. Die Schritte erstarben nur ein paar Meter hinter ihr. Aus dem nichts begann die Person zu sprechen. Sofort erkannte sie die Stimme wieder. «Ich hätte nicht gedacht, dass du dich wirklich hier her traust. Aber wie ich sehe, konntest du sogar meine Hinweise noch richtig zusammensetzen. Ich bin begeistert. Andernfalls hättest du nie erfahren, warum ich das alles getan habe.» Verständnislos und verwirrt stand Anna auf und blickte direkt in das Gesicht von Tom. Sie wollte etwas sagen, konnte aber zuerst nicht, sie war zu erstaunt. Sie hatte ihn von Anfang an verdächtigt, konnte aber dennoch nicht glauben, dass es Tom war. «Du Tom? Ich dachte du wärst in Spanien? Aber das kann doch nicht sein. Warum? Sag mir, warum das Handy mit dem Foto und dann noch diese Botschaft. Erklär es mir! Was habe ich dir getan?» schrie sie Tom an. «Die Antwort auf die Frage warum, weisst du genau und die bringt dich nicht weiter. Du hast schon immer die falschen Fragen gestellt.» Verärgert schaute sie Tom an. «Tom hör mit dem Spiel auf. Sag mir einfach, was das Handy mit dem Foto und dazu noch die Botschaft zu bedeuten haben. All die Dinge machen keinen Sinn. Ich kenne diese Frau auf dem Foto nicht mal. » Darauf antwortete Tom «Du hast sie noch nie gesehen. Du könntest sie aber jeden Tag sehen, wenn du in den Spiegel blickst.» Anna versteht jetzt gar nichts mehr. Wen könnte sie sehen, wenn sie in den Spiegel schaut? «Kapierst du es nicht? Die Frau auf dem Foto ist deine eineiige Zwillingsschwester.» Das Gesagte konnte ihr Gehirn nur langsam verarbeiten. Ihr Zwilling? Aber sie war doch ein Einzelkind. Tom sprach weiter «Ich habe mir die ganze Zeit Gedanken darüber gemacht, wie ich mich an dir rächen kann, weil du mich verlassen hast. Neulich im Supermarkt habe ich eine Frau getroffen, sofort hatte ich die Ähnlichkeit zwischen euch gesehen. Zuerst dachte ich an einen Zufall. Ich habe sie angesprochen und auf einen Kaffee eingeladen. Danach haben wir uns über Wochen hinweg getroffen. Irgendwann erzählte sie mir, dass sie in einem Kinderheim aufwuchs und ein Blick in ihren Ausweis verriet mir, dass sie am gleichen Tag geboren wurde wie du. Alles sprach dafür, dass ihr Zwillinge seid. Ich sah in ihr meine Chance mich an dir zu rächen, dafür dass du mich verlassen hast. Ich bat sie, die Nachricht zu schreiben, natürlich unter einem anderen Vorwand. So konnte ich alles perfekt für dich inszenieren.» Jetzt machte für Anna alles einen Sinn, die Nachricht, dass sie sich ansehen soll, auch die ähnliche Schrift. Tom musste Recht haben und mit einem Schlag wurde ihr bewusst, dass auch sie Recht hatte. Die Frau auf dem Foto war sie, oder hätte sie sein können. Sie schaute Tom an und wollte etwas sagen, aber er kam ihr zuvor. «Ich wusste, ich würde dich für immer brechen, wenn du wüsstest wie du aussehen könntest, aber nie wirst.» Tom lächelte sie noch schief an und verschwand in der Dunkelheit. Anna sank auf die Knie und begann hemmungslos zu weinen. Er hatte Recht, die Gewissheit, wie schön sie hätte sein können, war zu viel für Anna. Tom hatte Annas Leben, nur mit einem Foto, für immer in Frage gestellt.

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