david.bartzFallende Anonymität

Fallende Anonymität

„Meine Füße sind eiskalt. Ich stehe hier. Alles was habe und je hatte stelle ich in Frage. Was ist das? Was ist das für ein Leben? Was ist Leben?! Und warum bin ich eigentlich noch hier? Es hätte alles so einfach sein können. Ein…zwei…drei… andere Entscheidungen und ich wäre heute ein Anwalt mit einer wunderschönen Frau, die einen Charakter hat der nicht von dieser Welt ist. Einen Charakter, der jegliche List die einen Menschen umgibt, vermissen lässt. Einen Charakter, der mich verzaubert hat. Doch zu spät habe ich erkannt was dieser Charakter war, war für mich. Vielleicht hätte ich eine Familie mit ihr. Ein…zwei…drei… Kinder? Einen Hof. Einen Pick-up mit dem ich auf dem großen Gelände unseres Grundstückes herumfahre. Das wäre das Leben gewesen, was ich geplant habe. Große Familienfeste, alle zusammen an einem Tisch.“

„Wach auf! Meine Fresse! Du liegst hier wieder und wieder in deinem Rotz von Leben. Was gedenkst du zu sein?!“

Neil öffnet seine Augen. Die Helligkeit nimmt ihm jede Sicht. Der Geruch, der ihn umgibt, ist für ihn nicht mehr wahrnehmbar. Seine linke Hand wandert zu Fensterbank, die Hand sucht nach seiner Brille, um die Umrisse die vor ihm stehen und ihm sagen was für ein schlechtes Leben er doch hat zu erkennen. Langsam bewegt sich sein Becken aus der Liegeposition heraus. Neil sitzt auf seinem Futon, seine Füße berühren den Boden, ein leises Knacken und Knistern ertönt, durch die Chips die unter seinen Füßen zerbrechen. Er geht sich zwei, drei Mal durch die Haare. Mindestens den gleichen Fettgehalt wie seine Fußsohlen. Seine linke Hand zieht die Brille über das Laken, bleibt fast am Oberschenkel hängen, über die Nase auf die Augen. Die Umrisse nun klar erkennbar. „Was machst du hier?“ fragt Neil.

„Was ich? Was ich hier mache?! Fragst du mich? Ich bin ja wohl der einzige Mensch, der versucht, dich aus deinem selbstgebauten Loch zu ziehen?! Der Einzige, der sich noch traut dich anzuschauen, sich das hier anzuschauen. Wie viele Jahre Selbstmitleid sind es jetzt schon? Neun oder doch schon zehn?“

 „Was machst du hier?“ wiederholt sich Neil.

Die Person, die Neil den morgendlichen Besuch um 16:15 beschert, läuft kopfschüttelnd in die Küche hinein.

„Hast du hier überhaupt irgendetwas essbares in dieser verschmierten Bude?“

Neil stützt sich an einem Stuhl neben dem Futon ab und erhebt seinen Körper. Die rechte Hand fährt direkt an den Rücken. Schmerzen durchziehen ihn. Neil schmunzelt, erhebt seinen linken Fuß und hält Julius seine Fußsohle hin.

„Hier Frühstück“

„Spar es dir Neil“

Quälend läuft Neil Richtung Bad, beugt sich über das Waschbecken und spült sich mit eiskaltem Wasser den Schlaf aus dem Gesicht. Er schaut in den Spiegel und grinst sich traurig an. Ein langsames, leichtes kichern verlässt seinen Mund.

Julius klopft gegen die Tür und sagt mit erhobener, leicht aggressiver Stimme „Was gibt es hier zu lachen?! Was hast du heute vor? Ich habe den ganzen Tag Zeit!“

Neil lässt sich zurück auf seine Toilette fallen und lehnt sich mit seinem Kopf gegen die kalten Fliesen, genau so, dass die Stelle, an der er seine Haare mittlerweile verliert, die Kälte spürt. Seine Hand greift zu den Zigaretten, die links von ihr auf dem Regal liegen. Nach dem ersten kräftigen Zug schmunzelt er „Weißt du noch, wie stolz Nico immer war, dass keiner aus unserer Gruppe angefangen hat, zu rauchen? Und nun schau mich an. Was soll mich holen, wenn nicht der Teer in meiner Lunge“ Doch Neil wartet vergeblich auf eine Antwort.

Hustend fragt er „Ey Kröte, ich habe etwas gesagt! Oder bist du schon weg? Ich dachte, du hast den ganzen schönen Tag Zeit für mich.“

Sein Körper steht auf und drückt die Zigarette in einer Packung Q-tips aus. Er schaut ein weiteres Mal in den Spiegel und fährt sich mit seiner Hand über sein eingefallenes Gesicht. Eine Spur von Verzweiflung und Trauer ist in seinen Augen zu erkennen. Der Schlüssel in der Tür dreht sich und die Tür geht auf. Neil schreitet durch seine Wohnung, alles beim Alten nur Julius fehlt. Die Schultern zucken, er schleicht zurück zu seinem Futon und greift zur Fernbedienung. „Was habe ich denn damit gemacht?“ Neil nimmt seine Hand zurück und schaut direkt in seine Handfläche hinein, Blut. Seine Augen werden groß. Schlagartig Schweißperlen auf seiner Stirn. Er greift zu seinem Handy. Touch ID fehlgeschlagen. Erschrocken stellt er fest, dass es nicht sein Handy ist, was ihm da in seiner von Blut verschmierten Hand liegt.  Code eingeben – Wiederholen Neil legt das Handy weg. Er steht auf. Sucht sich seine Klamotten zusammen. Ein Hemd, eine Hose und die Vans. Sein kaputter Körper zieht sich an, nimmt das Handy und die Autoschlüssel. Er öffnet die Wohnungstür und stürmt durch den Flur, neun Stockwerke hinunter zum Parkplatz. Das Lenkrad nutzt er im ersten Moment, um sich abzureagieren. Seine von Schweiß glasierten Hände versuchen das Handy zu entsperren. Was passiert hier? Die Angst breitet sich in seinem Körper aus. Fuck Julius, Julius, Julius.

Minuten vergehen und er sitzt weiterhin in seinem Auto auf dem Parkplatz direkt vor seinem Wohnblock. Die Situation, die ihn umgibt lässt seine Gefühle Achterbahn fahren. Eine Mischung aus Angst, Furcht, Wut und Trauer. Dann ein Klingelton. AnonymNeil streicht den grünen Hörer langsam nach rechts und hält sich das Telefon an sein rechtes Ohr.

„2-2-0-6“

 Aufgelegt. Das Hochzeitsdatum seiner Eltern, der 22. Juni, das muss der Code sein. Neil öffnet das Handy und tippt den Code ein. Ohne, dass er etwas Weiteres tut, öffnet sich ein Fenster. Das Handy spielt ein Video ab. Neil laufen die Tränen durch das Gesicht. Das Video zeigt ein kleines Mädchen, was vor der Kamera umher tanzt und ihren Papa mit großen blauen Augen fragt, ob sie auch mal die Kamera halten darf. Ein kleines Mädchen, das unglaublich viel Leben, Freude und Liebe ausstrahlt. Ein grinsen was die Welt entzücken könnte. Dann ein Bild von Neil, auf dem er in einer Bar sitzt. Das Handy fällt aus seinen zittrigen Händen auf seinen Schoß. Solange hatte er versucht Abstand zu diesen Bildern zu gewinnen.

Auf einmal klopft es an seiner Scheibe.

„Junge, wenn du deinen Opel hier nicht gleich mal richtig startest und losfährst, ist die Batterie in ein paar Sekunden leer.“

Der Kopf dreht sich. Seine von Adrenalin gefüllten Augen schauen in die des Hausmeisters seines Wohnblocks. Er nickt ab, dreht den Schlüssel um und fährt los.

Tannenstraße, Wasserstraße, Berliner Straße, Adolfstraße. Neil fährt und fährt. Eine Kurve links. Eine rote Ampel, ein Überholmanöver, eine Kurve rechts. Überfordert und zu Taten gezwungen. Was ist mit Julius passiert? Warum jetzt und warum heute? Wohin soll er? Was ist seine Aufgabe? Was soll dieses Handy? Unbewusst fährt er zum See, hier hatte er sich zum allerersten Mal mit seiner Mathilda getroffen.  Langsam lehnt er sich an die erwärmte Motorhaube seines Autos an. 24 Grad umgeben seine von kaltem Schweiß umgebene Haut. Er schaut hinein in den See, die Sonne wird im Wasser reflektiert. Keine Wolke am Himmel. In der Ferne die Badegäste, die ihr Leben genießen. Familien. Freunde. Alle haben einander. Neil zieht eine Zigarette aus seiner Hosentasche. Die Zigarette wandert zu seinem Mund. Seine Lippen halten die Zigarette gerade so, dass sie den Mund nicht wieder verlassen kann. Funken, eine Flamme, ein Atemzug, Qualm. „War das schön, als ich noch eine Identität besaß“.

Neil steigt zurück in sein Auto ein. Schlagartig fängt er an zu weinen. Sein Kopf fällt auf das Lenkrad. Der ganze Körper vibriert. Neil schreit „Verdammte Scheiße! Ich liebe dich! …. Ich liebe dich immer noch! …. Und ich werde dich immer lieben.“

„Lass uns doch heute nach dem Frühstück noch etwas unternehmen, das haben wir schon so lange nicht mehr gemacht! Wir können doch nicht immer nur herumsitzen! Wir müssen leben Neil!“ Er grinst sie an und fängt an zu lachen. „Ach Tilli, was würde dir denn gefallen?“ Mathilda schaut Neil mit ihren großen blauen Augen an und schlägt vor „Zum See! Das Wetter ist gut und ich habe noch Sachen für ein Picknick da!“ Neil steht auf, schiebt den Stuhl heran, läuft zu Mathilda, gibt ihr einen Kuss auf die Stirn und antwortet „Okay ich ziehe mich um und dann fahren wir los“. Sie dreht sich um und schaut Neil hinterher. „Neil“… „Ja?“ … „Ich liebe dich“ … „Ich liebe dich auch, so sehr.“

Ein Anruf. Neil schaut auf das Display des Handys. Anonym. Wieder schiebt Neil den grünen Hörer von links nach rechts. Eine vertraute männliche Stimme ertönt. „Neil mein Guter, was machst du denn da am See? Kümmert es dich gar nicht, was mit deinem Freund passiert?“ Neils Blick versteinert. Die Sonne reflektiert sich im See. Keine Wolke am Himmel. Die Badegäste in der Ferne genießen ihr Leben.

„Ach, ich vergaß. Das Leben anderer, das ist bei dir ja so eine Sache.“

Neil schließt seine Augen und fragt mit einer Stimme, die versucht, möglichst männlich zu klingen und dennoch die weinerliche Stimmlage nicht überdecken kann „Was möchtest du von mir?“.

 „Was ich von dir möchte? Ach Neil, du weißt doch, mir kann keiner mehr das geben, was ich brauche. Ich habe doch schon längst verloren. Aber mein Guter, ich habe noch was für dich! Und wenn du mir beweisen möchtest, dass du doch mal im richtigen Moment einsiehst, was richtig und was falsch ist, dann rette Julius.“

„Lass Julius da raus, er hat damit nichts zu tun.“

„Natürlich nicht, was soll er damit zu tun haben? Aber er stand da blöderweise gerade so rum und dann, ja dann dachte ich mir, das bringt doch für alle Seiten ein bisschen mehr Spannung in das Spiel.“

„Was für ein Spiel?“

„Das Spiel, was du nicht verlieren solltest. Es erklärt sich von selbst, du bekommst Julius und dein eigenes Handy wieder, wenn du dich an folgende Regeln hältst. Die Polizei wird nicht angerufen oder anderweitige mit in dieses Spiel einbezogen. Ich sehe, wo du dich aufhältst, ich höre was du sagst, ich weiß was du mit dem Handy machst. Verstößt du gegen diese Regeln oder entfernst du dich von diesem Handy, ist Julius tot. Du hast nun eine halbe Stunde Zeit. Um 18 Uhr stehst du bitte auf dem zehn Meter Turm im Freibad.“

„Warum? Da ist alles…“ Aufgelegt. „voller Menschen.“

Langsam verlässt die Luft Neils Mund. Der Kopf fällt zurück auf die Kopflehne seines Sitzes. Seine Augen fallen zu.

„Fuck“

Neil greift zum Lenkrad, dreht den Schlüssel in der Zündung und legt den Rückwärtsgang ein. Ein klarer, konzentrierter Blick auf die Straße. Tränen füllen den Fußraum. Er fährt, sein Kopf ist so voll und dennoch leer. Wie soll es weitergehen? Diese Frage hatte er sich schon lange nicht mehr gestellt. Schon lange dachte er nicht mehr daran, dass er noch was zu verlieren hat. Und es ist traurig genug, dass das Leben einer seiner Freunde auf dem Spiel stehen muss, um zu begreifen, was er im Leben alles hat und vor allem, was er alles haben könnte. Gedanken schwirren durch seinen Kopf. Was könnte er Julius antun? Warum heute? Neil schaut auf das Display des Radios. Sender NDR1. Uhrzeit 17:48. Datum 07. Juli.

„Heute! Natürlich… heute.“

„Neil, danke für diesen Tag! Das war wunderschön! Ich fahre noch zu Maja, was hast du noch so vor?“ fragt Mathilda ihn während er unter der Dusche steht. Der Schaum wird durch das Wasser auf seinem Kopf hinuntergespült. „Ich treffe mich noch mit den Jungs, wir gehen noch was trinken!“. „Okay! Viel Spaß! Du bist alles für mich!“. Neil grinst und hört, wie die Tür zu fällt.

17:56

Neil fährt auf den Parkplatz des Freibads. Schlüssel ziehen, Tür auf, Tür zu, Tür auf, Handy mitnehmen, Tür zu. Rennen. Neil steht hinter drei Leuten an der Kasse.
„Hey bitte! Hey kann ich vielleicht als erster hier durch?“

Die Badegäste schauen ihn verdutzt an.

„Es ist, es ist wichtig, bitte… wirklich.“

Die Badegäste schauen ihn verdutzt an.

„Ich zahle den Eintritt für jeden!“

17:58

Die Badegäste gehen zur Seite und Neil bezahlt den Eintritt für die Badegäste mit. Die Kassiererin öffnet ihren von rotem Lippenstift, passend zum Outfit, umgebenen Mund und fragt Neil „Was haben Sie hier vor? Wo ist ihre Tasche?“

Neils Blick wendet sich von dem roten Lippenstift ab und wandert zu dem Sprungturm. Er rennt los. Ein Slalomlauf durch die Badegäste, die ihn umgeben. Die Treppen hinauf. 3 Meter, 5 Meter, 7,5 Meter, 10 Meter.

18:00

 Ein Anruf. Anonym.

„Gut gemacht Neil! Jetzt spring oder Julius ist tot.“

„Aber was ist mit dem Handy?“

Das Nachladen einer Pistole ist durch das Mobiltelefon zu hören.

„Spring Neil.“

Neil springt.

„Jungs Jungs Jungs, niemals! ICH MUSS NACH HAUSE!“ … „Ach komm Neil! Einer geht noch.“ Nico tippt die Bedienung an und bestellt die nächste Runde. Die Hände von Neil halten ihn an der Bar, gerade so, dass er nichts rückwärts vom Stuhl kippt.

Kälte. Luftblasen. Luft holen. Die Menschen in Badehosen schauen Neil an. Fragende, lachende, amüsierte, böse Gesichter. Linke Hand an den Beckenrand. Rechte Hand an den Beckenrand. Neil drückt sich aus dem Wasser. Die Menschen, die Neil anschauen, interessieren ihn nicht. Das Handy in seiner durchnässten Hosentasche vibriert. Er steht auf und zieht das Handy aus seiner Hose. Eine Nachricht erscheint auf dem Display. Wasserfest 😉. Seine nassen Klamotten kleben an seine Körper während er sich aus dem Freibad schleppt. Die Menschen in Badehose schauen Neil an.

„Was hast du denn für einen Auftrag gehabt?“

Neil schaut den roten Lippenstift an und schüttelt den Kopf. Feuchte Fußabdrücke bis zu seinem silbernen Opel Astra. Aufschließen, Tür auf, reinsetzen. Und jetzt? Was ist mit Julius? Lebt er noch? Wie soll es nun weitergehen? Ein Klingelton ertönt im Auto. Anonym.

„Na wie war’s? Muss doch ein tolles Gefühl sein zu springen! Und vor allem, im Wasser aufzukommen und keinerlei Schmerzen zu empfinden… einfach wieder raus aus dem Wasser und weiter als die gleiche Person im Leben zu stehen.“

„Was ist mit Julius?“

„Dem geht’s gut keine Sorge! Du bist doch gesprungen… Man Neil was denkst du denn? Ich würde dich doch nicht anlügen… Immerhin warst du doch schon so gut wie mein Schwiegersohn.“

„Was nun?“

„Wie, reicht dir das noch gar nicht? Möchtest du nicht einfach Julius abholen und dann geht es weiter wie, bisher? Aber hey, wenn das so ist! Du weißt doch noch, in welcher Wohnung Mathilda damals gewohnt hat? Ich habe die Wohnung behalten und weiter vermietet… momentan ist aber keiner da. Also wie wäre es, wenn du dir die Wohnung nochmal anschaust?“

Neil atmet aus. Das Handy an seinem Ohr zittertet zwischen seiner Hand und seinem rechten Ohr umher.

„Okay, ich komme.“

„Neil Neil Neil! Da fällt mir ein… ich habe den Schlüssel vergessen. Du kennst doch bestimmt auch das neue Warenhaus, was neben der Wohnung von Mathilda gebaut wird oder? Dort habe ich dummerweise den Schlüssel vergessen… kannst du für mich mal nachschauen? Ich erwarte dich um 19:00 an der Tür zur Wohnung von Mathilda.“

„Ja komm geht schon mal!“ Neil sitzt taumelnd auf dem Barhocker, seine Augen sind glasig. Nico klopft ihm auf die Schulter „Wie immer? Cocktail und Tzatziki? … „Ja mach einfach mal Junge, ich komm gleich nach.“

18:14

Kopfschüttelnd legt Neil den Gang ein und fährt los. Er kann nicht fassen, dass das alles gerade an einem sonnigen Nachmittag passiert. Wie soll er gut machen, was passiert ist? Und vor allem, wie kann er Julius helfen, sicher aus dieser Situation zu kommen. Die Polizei? Das wäre zu einfach und vermutlich würde er damit Julius Leben riskieren. Was passiert, wenn er nun einfach die Aufgaben erfüllt? Diese Arroganz die bei jedem Telefonat von dieser rauen, alten Stimme in seine Ohren übertragen wird, nimmt ihn ein.

Der Verkehr auf den Straßen ist gering. Dennoch ist es für die Neil eine Autofahrt, in der alles passieren kann. Seine nassen Klamotten kleben am Sitz und neben den Tränen, die sich weiterhin im Fußraum vermehren tropft nun auch noch das Chlorwasser aus seiner Hose auf den Boden. Trotz seines schweren Atems und seinen zittrigen Händen versucht er die Fassung zu bewahren und das Auto sicher zum nächsten Ort zu manövrieren.

18:32

Er parkt auf dem Parkplatz, auf dem er schon so oft gehalten hat. Immer wieder ist er mit kleinen Geschenken, Blumen und einmal mit einem Verlobungsring ausgestiegen. Jedes Mal hatte er dabei ein Gefühl der absoluten, positiven Aufregung in seinem Bauch. Auch dieses Mal steigt Neil mit einem Gefühl der absoluten Aufregung aus. Aber das Positive ist dabei komplett entfallen.

Die Jungs sind los. Nun sitzt er alleine in der Bar. Sein Alkoholpegel reicht für den gesamten Laden. Dann steht sie da. Dieses Mädchen. Anders als die anderen. Links. Rockig. Anders. Sie kommen ins Gespräch. Beide gut angetrunken. Ein Muttermal direkt unter dem Auge. Süß irgendwie. Man versteht sich.

Neil schließt den Wagen ab und läuft zur Baustelle neben dem Parkplatz. Weiterhin hinterlassen seine Klamotten Spuren auf dem erwärmten Pflaster der Straße. Er schaut auf den Rohbau, der sich nun vor ihm befindet. Es wird wohl noch ziemlich lang dauern bis hier Menschen einkaufen gehen werden, die Deckenplatten fehlen, die Schalungen schon aufgebaut, Stützen auf jeder Etage, die Klinker im Erdgeschoss angefangen.

Neil zieht das Handy aus seiner Hosentasche, leicht feucht und umgeben von einem Chlorgeruch. Er hält das Handy genau vor seine Augen und wartet auf einen Anruf. Doch der Anruf bleibt aus. Touch ID fehlgeschlagen. Es ist nur möglich, das Handy mit einem Fingerabdruck zu entsperren. Neils Schweißperlen auf der Stirn werden schlagartig mehr. Er öffnet das Gitter vor der Baustelle und rennt verzweifelt durch den Rohbau. Rein in das Gebäude, zwischen den Stützen hindurch, Treppen hoch, Treppen runter. Wo soll hier ein Schlüssel sein? Und wie soll er diesen finden? Und nochmal die Treppen hoch, sein rechter Van bleibt an der letzten Treppenstufe hängen und sein gesamter Körper fällt auf den Beton. Er schaut auf den staubigen Boden. Ein Tropfen fällt von seiner Stirn hinunter. Kein Schweiß. Blut.

Die Worte werden weniger. Neils Hand fährt über den Oberschenkel dieser linken, rockigen, anderen Frau. Sie küssen sich.

Neil stützt sich ab und erhebt seinen nassen, staubigen Körper. Seine rechte Hand wischt über die Stirn. Eine Mischung aus Blut und Staub klebt an seiner Haut. Sein Blick wandert zum Kran hinauf. Seine Augen werden groß. Ein roter Beutel hängt oben an dem gelben Kran. Neil bewegt sich die Treppen hinunter. Taumelnd und dennoch der Versuch, zu rennen.

18:44

Neil greift nach und nach zu den Eisen, um den Kran hinauf zu klettern. Ein Kraftaufwand. Die Klamotten ziehen ihn hinunter. Seine Arme nach oben. Die letzten drei Eisen, dann muss er in der Waagrechten weiterklettern. Der rote Beutel ganz vorne am gelben Kran. Neil atmet aus. Sein Blick 24 Meter in die Tiefe. Sein Herz wird immer schneller. Langsam krabbelt er in Richtung Beutel. Rechte Hand, linke Hand, rechtes Knie, linkes Knie. Er löst den Beutel. Sein rechtes Knie rutscht vom Kran. Er fällt.

Sie verlassen zusammen die Bar. Hand in Hand als wären Sie ein Paar. Das Handy von Neil liegt noch auf dem Tresen neben dem halbvollen Bier und einer Packung Zigaretten.

18:50

Neil schaut dem fallenden Beutel hinterher. Und krabbelt rückwärts zurück. Linkes Knie, rechtes Knie, linke Hand, rechte Hand. Langsam in die Senkrechte und die Eisen wieder hinunter. Er läuft zum Beutel und greift nach dem Schlüssel. Ein Daumen. Die Hand öffnet sich und lässt den Inhalt wieder in den Beutel fallen. Neil atmet angewidert aus. Seine Hand nimmt den Daumen und drückt ihn auf das Handy. Entsperrt. Die Wohnungstür ist offen, wir wartenNeil fährt sich über seine blutige Stirn in die Haare und läuft zur Wohnung.

Er drückt sie an die Wand und küsst ihren Hals. Sie stehen vor der Wohnungstür von Neil. Der Schlüssel dreht sich um und die Tür öffnet sich durch das Gewicht der Liebelei. Der Weg führt über den Flur ins Wohnzimmer. Die beiden Körper verlieren ihre Klamotten.

19:00

Die Wohnungstür öffnet sich und Neil betritt die Wohnung in der seine ganze Zukunft gelebt hat. Die Möbel sind trotz der neuen Mieter noch dieselben. Neils Atem wird schwerer und sein Herz schneller. Seine linke Hand greift zur Klinke der Wohnzimmertür.

Die beiden Körper werden warm und lassen nicht voneinander los. Die Hände von Neil streichen über die Haut dieser fremden Frau.

Julius sitzt auf einem Stuhl. Seine Hände auf seinem Rücken zusammengebunden. Ein Seil zieht sich durch seinen Mund. Die Mundwinkel blutig. Seine Augen groß. Sein rechter Daumen fehlt.

„Schön, dass du es einrichten konntest Neil. Wie du siehst, habe ich Julius kaum etwas angetan. Wie geht’s dir?“

Im Hintergrund öffnet sich die Tür. Ein wiederholendes Stöhnen erfüllt den Raum. Mathilda betritt die Wohnung und sieht Neil nackt mit einer fremden, linken, rockigen, anderen Frau auf dem Sofa liegen. Sie lässt den Schlüssel fallen. Neil schaut hoch und direkt in das Gesicht seiner zerbrechenden Zukunft.

Neils Atem stockt. „Was möchtest du von mir?“

„Neil, du hast mir meine Tochter genommen. Wie sollst du mir sie wiedergeben?“

Mathilda rennt weinend die Wohnung und fährt Heim. Die Tränen verlassen ihre großen blauen Augen und sie kann nicht fassen, dass ihr Neil zu sowas in der Lage ist. Sie öffnet eine Flasche Wodka und fängt an, sich zu betrinken.

„Was kann ich tun, damit Julius diesen Raum verlassen kann? Du kannst alles mit mir machen.“

„Du ziehst nun deine Schuhe aus und stellst diese an die Stelle, an der ihre Schuhe standen.“

Mathilda taumelt zum Esstisch, stützt sich darauf ab und schreit die Wut aus sich heraus. Tränen und Spucke verlassen ihr Gesicht. Alles dreht sich. Sie zieht ihre Schuhe aus und stellt sie vor die Glastür zum Balkon.

Neil zieht seine Schuhe aus und stellt sie vor die Glastür zum Balkon.

„Nun steigst du über das Geländer, so wie sie es getan hat.“

Mathilda steigt über das Geländer ihres Balkons.

Neil steigt über das Geländer des Balkons.

 Die kalte Nachtluft umgibt sie. Ein Schritt nach vorne. Sie fällt. Sie stirbt.

„Meine Füße sind eiskalt. Ich stehe hier. Alles was habe und je hatte stelle ich in Frage. Was ist das? Was ist das für ein Leben? Was ist Leben?! Und warum bin ich eigentlich noch hier? Es hätte alles so einfach sein können. Ein…zwei…drei… andere Entscheidungen und ich wäre heute ein Anwalt mit einer wunderschönen Frau, die einen Charakter hat der nicht von dieser Welt ist. Einen Charakter, der jegliche List die einen Menschen umgibt vermissen lässt. Einen Charakter, der mich verzaubert hat. Doch zu spät habe ich erkannt was dieser Charakter war, war für mich. Vielleicht hätte ich eine Familie mit ihr. Ein…zwei…drei… Kinder? Einen Hof. Einen Pick-up mit dem ich auf dem großen Gelände unseres Grundstückes herumfahre. Das wäre das Leben gewesen, was ich geplant habe. Große Familienfeste, alle zusammen an einem Tisch.“

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