JenniferRFamilie

In den Spätnachrichten gibt es tatsächlich mal wieder eine Meldung zu ihrem kleinen Mädchen: „Das mittlerweile vierjährige Mädchen ist jetzt bereits seit zwei Jahren verschwunden. Die Polizei geht davon aus, dass es kaum eine Chance geben wird, die kleine Martha lebend zu finden. Für Hinweise aus der Bevölkerung ist die Polizei weiterhin dankbar.“

Marthas Tag, an dem sie als vermisst gemeldet wurde, jährt sich. Martha, was für ein schrecklicher Name, denkt Julia. Nur gut, dass ich sie bei mir aufgenommen habe. Am liebsten hätte sie die Nachrichten jedes Mal aufgezeichnet, wenn dort wieder mal ein Kindergesicht auftaucht. Mit den Aufzeichnungen hätte sie schon einige Erinnerungsboxen füllen können. Das Einzige was sie davon abhält, ist ihr Mann. Er würde denken, sie wäre nicht ganz dicht. Auf die Idee, dass sie die Kindesentführerin ist, von der ständig im TV geredet wird und die schon seit 25 Jahren auf „Jagd“ geht, ist er bis heute nicht gekommen. Durch seinen Job ist er viel auf Reisen und manchmal wochenlang nicht im Haus. Schon morgen muss er wieder für zwei Wochen nach Hamburg.

Endlich im Garten und Zeit, sich um das Kind zu kümmern. Julia ist jeden Tag dankbar für den großen Garten, den Wald im hinteren Bereich des Grundstücks und die Jugendlichen, die sich, als das Grundstück noch unbebaut war, so etwas wie einen Bunker errichtet haben. Alles zwar nur aus Holz, aber für sie völlig ausreichend. Sie klettert die Leiter herunter und findet dort ihr kleines Mädchen. Julia wird traurig. Jetzt ist sie schon vier Jahre alt, auch wenn sie noch nicht so aussieht. Es wird Zeit. Der Blick in die Medikamentenbox bestätigt das. Genug Tabletten, aber nicht für Susi.

„Bekomme ich heute gar nicht meine Vitamine?“ fragt Susi, als Julia ihr das Frühstück zubereitet. „Nein, meine Kleine. Dein Körper ist jetzt so fit, dass du sie nicht mehr benötigst. Du bist jetzt sogar so fit, dass wir gemeinsam rausgehen können!“ Susis Freude steht ihr ins Gesicht geschrieben. Seit zwei Jahren sieht sie nichts anderes als das Licht, welches durch die Luke fällt, wenn ihre Mama sie besucht. 

Der Bunker wird langsam zu klein und Julia ist bereit für das nächste Kind – dieses benötigt sie dann auch, um sich von der Trauer abzulenken. Julia entfernt die Fußfessel und hilft Susi beim Hochklettern. Julias Ton ist scharf: „Vergiss nicht was ich gesagt habe! Wenn wir durch den Wald laufen, bist du leise, damit wir die Tiere des Waldes nicht stören, denn sie werden wirklich böse sonst. Okay?“ Susi nickt nur und presst ihre Lippen zusammen. Auf dem Weg durch den Wald ist es ruhig. Susi freut sich über jedes Blatt, hat jedoch einige Probleme beim Laufen, was jedoch nicht verwunderlich ist. Nach etwa 20 Minuten kommen sie auf dem Friedhof an. Julia bleibt stehen und wischt sich die Tränen aus den Augen. „Was ist das, Mama?“, flüstert Susi fragend und zeigt auf die selbst gebastelten Kreuze und die kleinen Gräber. „Hier schlafen deine Schwestern, meine Süße.“ Susi ist zunächst verwirrt, kümmert sich aber nicht weiter darum, sondern rennt zu dem Taschenmesser, das in einem Baumstumpf steckt, seitdem Julia es dort hineingestochen hat. Julia geht ihr hinterher und ist erleichtert, dass es scheinbar doch schneller vorbeigeht, als sie befürchtet hatte. Manche Kinder sind einfach so aufgedreht, wenn sie das erste Mal rausgehen dürfen. Susi ist geradezu ruhig im Vergleich. „Weißt du, was das ist?“ fragt Julia das kleine Mädchen, als sie das Messer aus dem Stumpf zieht. Susi schüttelt den Kopf: „Nein, was denn?“ „Das, meine Kleine, ist ein Impfmesser, ich habe dir doch schon mal davon erzählt. Eine Impfung ist dafür da, damit du keine Krankheiten kriegen kannst. Ein kleiner Pieks in den Hals, es tut ganz kurz weh und dann wirst du nie wieder krank. Alles ist dann ruhig und schön. Wollen wir das schnell machen, bevor wir weiterspielen?“ Susi geht ein paar Schritte zurück und schüttelt wortlos mit dem Kopf. „Es wird dir aber danach viel besser gehen. Versprochen!“ erwidert Julia. Susi ist jedoch verängstigt. Das Impfmesser wirkt in ihren Kinderaugen sehr groß und es sieht so aus, als würde es ihr mehr als nur ein bisschen weh tun. Julia wird sauer: „Komm jetzt sofort her, damit ich dich impfen kann!“ Das Kind rennt verschreckt weg. Das hat Julia geahnt. Fast jedes ihrer Kinder ist bis jetzt weggerannt. Warum sollte es diesmal anders sein? Julia hat Susi schnell eingeholt und hält sie am Arm fest. Sie drückt sie zu Boden und fixiert sie. „Aua, aua, du tust mir weh, Mama!“ weint Susi. Julia drückt ihre Kleine an sich und sagt: „Ich habe dich lieb, vergiss das nicht.“ Dann sticht sie das Taschenmesser in den zarten Hals des Mädchens und sieht zu, wie das Leben langsam aus ihren Augen verschwindet.

Eine Stunde später steht Julia an Susis Grab und weint. Sie liebt jedes ihrer Kinder. Blutverschmiert und dreckig macht sie sich auf den Rückweg zum Haus.

Sobald es Zeit für ein neues Kind ist, kauft Julia ein neues Spielzeug. Jedes Kind soll immer eine Sache haben, die nur ihm gehört. Auf ebay Kleinanzeigen hat sie diesmal ein Lego-Duplo-Schloss gefunden: Viele Teile, alle in einem blauen Sack. Zurück im Bunker fängt sie an die Teile in eine Kiste zu kippen. Ein lautes Geräusch lässt sie jedoch einen Moment innehalten. Sie schaut in die Kiste und sieht dort ein Handy liegen. Komisch, haben die etwa aus Versehen ihr Handy mit in die Tüte geschmissen? Sie hebt das Handy auf und setzt sich kurz an die Seite, um es sich genauer anzusehen. Julia stellt fest, dass es sich dabei um ein altes Samsung-Gerät hält, aber welches Model, davon hat sie keine Ahnung. Sie interessiert sich für solche Dinge nicht. Sie drückt die drei Knöpfe an der Seite und findet ziemlich schnell heraus, dass das Handy noch 83% Akku hat und nicht durch eine PIN gesichert ist. Sie steckt es sich in die Tasche und nimmt sich vor, es sich später anzusehen, da sie ihren Zeitplan einhalten muss.

Nachdem das neue Spielzeug bereitgelegt wurde, ist es Zeit für Julia, ihr kleines Mädchen zu holen.

Es war diesmal eindeutig anstrengender, das Mädchen mitzunehmen. Julia muss einsehen, dass sie nicht mehr die Jüngste ist. Grund genug, sich bei der Kleinen besonders Mühe zu geben. Es könnte ja ihr Letztes sein. Julia kontrolliert noch einmal, ob alles nach Plan läuft: Die Kleine ist im Bett und noch nicht wieder aufgewacht, die Fußfessel ist angebracht, aber nicht zu fest und die „Vitamine“ sind bereitgelegt. Um sich die Zeit zu vertreiben, bis das Mädchen aufwacht, schaut sich Julia das Handy an. Auf dem ersten Blick scheint es ungebraucht zu sein: Keinerlei Nachrichten, keine getätigten Anrufe, keine Kontaktpersonen im Telefonbuch. Neugierig öffnet sie die Galerie – ein einziges Bild. Jedoch scheint das von so weit weg fotografiert worden zu sein, dass man nichts wirklich erkennen kann. Julia erkennt nur, dass es sich dabei anscheinend um eine Person im Wald handelt. Ein wenig enttäuscht darüber, dass sie nichts Besonderes gefunden hat, sperrt sie den Bildschirm wieder. Genau zum richtigen Zeitpunkt, denn das Mädchen wacht langsam auf.

Die Kleine ist versorgt und Julia auf dem Rückweg zum Haus. Der erste Tag ist immer der schwierigste, die Kinder schreien immer nach ihrer leiblichen Mutter, sie weinen unglaublich viel und lassen sich von ihr nicht beruhigen. Nach einigen Tagen wird es meist besser. Die Tabletten muss sie den Kindern anfangs immer zwangsweise verpassen. Erst am zweiten Tag anzufangen ist keine Option, die Vitamine haben die Kinder sofort einzunehmen. Es ist gut für sie.

Wie gut diese Vitamine ihr wirklich tun werden, wird sich mit der Zeit zeigen. Wie jede Mutter, weiß auch Julia, dass Kinder unglaublich schnell wachsen. Damit dies mit ihren Kindern nicht passiert und sie so viel Zeit wie möglich mit ihnen verbringen kann, besorgt sie sich in Berlin Tabletten für eine Hormontherapie. Sie staunt immer wieder, was die Junkies so alles besorgen können, wenn es darum geht ein wenig Geld zu bekommen, um sich den nächsten Schuss setzen zu können. Normalerweise werden diese Medikamente für Jugendliche genutzt, bei denen festgestellt wird, dass sie sehr groß werden. Die Bremstherapie kann diesen Prozess stoppen. Die Pubertät wird sozusagen vorverlegt. Bei älteren Kindern passiert das quasi über Nacht, Julia konnte aber feststellen, dass das bei den zweijährigen Mädchen nicht der Fall ist. Kompliziert wird dies immer erst, wenn sie die Tabletten länger als ein Jahr einnehmen. Daher behält sie auch kein Kind länger als zwei Jahre. Dennoch sind auch bei den Kleinen schon nach den ersten Monaten Verhaltensänderungen und körperliche Pubertätszeichen zu erkennen. Und wie bei jedem Medikament gibt es auch hier Nebenwirkungen. Anfängliche Übelkeit und Gewichtszunahme sind da die harmlose Variante. Julia hat das im Internet gegoogelt, nachdem sie die Tabletten an ihren ersten zwei Mädchen ausprobiert hat. Es ist nicht einfach mit kleinen Kindern harmonisch zu leben, wenn diese bereits so früh Depressionen haben können. Eins ihrer Mädchen hatte vor allem mit Schlafstörungen zu kämpfen. Nach zwei Monaten hatte man das Gefühl, das Kind wäre ein Zombie. Es hätte nur noch gefehlt, dass sie Julia anknabbert. Von ihr hat Julia sich früher getrennt. Nach einem Jahr ging es einfach nicht mehr. Auch bei dem Kind danach war sie froh, dass sie sich nach zwei Jahren von ihm trennen konnte. Mit Einnahme der Tabletten kann man beobachten, dass manche Körperteile schneller wachsen als andere. Das Kind hatte Affenarme und riesige Ohren. Es sah überhaupt nicht mehr süß aus. Selbst Julias Versuche die Ohren ein wenig zurecht zu stutzen, haben das Erscheinungsbild nicht gebessert.

Auf dem Rückweg reißt das Piepen eines Handys sie aus den Gedanken. Sie kramt ihr Handy aus der Tasche. Nichts. Dafür aber eine Nachricht auf dem gefundenen Handy. Kurz vor dem Öffnen der Nachricht piept das Handy noch einmal und sie lässt es vor Schreck fallen. Nach einem kurzen Check, ob alles in Ordnung ist, liest sie die Anzeige auf dem Bildschirm. Zwei neue Nachrichten bei WhatsApp von einer gewissen Frau K. Zögerlich öffnet sie den Chat und sieht ein Bild von sich, wie sie mit einem Kind spricht. Kurz vor einer Panikattacke schaut sie sich das Bild genauer an und erkennt, dass sie dort mit einem kleinen Jungen spricht. Das ist gut, es ist keines ihrer Kinder. Sie hat bis jetzt nur Mädchen gehabt. So sehr sie sich auch einen Jungen wünscht, es geht nicht. Die Tablettentherapie ist nur bei Mädchen möglich. Julia holt das Handy näher an das Gesicht, um sich das zweite Bild anzusehen. Es handelt sich dabei um dasselbe Bild, welches sie auch in der Galerie des Handys gefunden hat. Völlig überfordert mit der Situation bleibt Julia stehen. Schon wieder eine neue Nachricht. Was soll das? Wieso bekomme ich schon wieder das gleiche Bild geschickt? Auf einmal kommen weitere Bilder rein. Jedes zeigt den Wald und die Person, doch von Bild zu Bild ist der Fotograf näher ran gegangen. Das letzte Bild lässt Julias Blut gefrieren. Das ist sie, über Susi gebeugt, kurz vor der angeblichen Impfung.

Jede Faser ihres Körpers ist bis zum Zerreißen angespannt, als Julia beim Haus ankommt und sich auf den Küchenboden fallen lässt. Ein Rauschen im Ohr und der starre Blick auf die gegenüberliegende Wand lässt sie nichts von ihrer Umgebung wahrnehmen. Das Handy liegt neben ihr auf dem Boden. Beim Hochheben reagiert das Display auf die Bewegung und Julia kann erkennen, dass drei neue Nachrichten eingegangen sind. Julia, wie sie gestern das Grab für Susi geschaufelt hat. Julia mit der toten Susi im Arm auf dem Friedhof. Julia, wie sie Susi in das Grab legt. Jetzt sicher zu wissen, dass sie jemand gesehen hat, macht Julia fast irre. Sie läuft durch die Küche und murmelt: „Das kann nicht sein. Das kann nicht sein. Wie soll das denn gehen? Ich habe mich doch zu jeder Zeit umgesehen. Wir waren leise. Das kann nicht sein!“ Julia schaut noch einmal auf den Absendernamen. Frau K. Der Name hilft ihr schon mal nicht weiter.

Seit einer Stunde starrt Julia auf das Handy und überlegt, was sie jetzt machen soll. Anrufen? Zurückschreiben? Bis jetzt kam keine neue Nachricht, es ist jedoch klar, dass die Absenderin weiß was sie getan hat. Ob sie auch von meinem neuen Kind weiß? Ist meine Kleine in Gefahr?

Das Handy liegt auf dem Tisch. Volle Lautstärke. Nicht, dass Julia noch eine Nachricht verpasst. Sie versucht sich mit Putzen abzulenken, da sie immer noch nicht entschieden hat, wie sie jetzt am besten handeln soll. Zu groß ist die Angst, dass sie etwas Falsches sagt und dann alles noch schlimmer wird, als es bereits ist. Beim Abwischen des Tisches piept plötzlich das Handy erneut. Julia reißt panisch die Augen auf, schmeißt den Lappen weg und rennt zum Handy. Allein der Eingang der Nachricht lässt sie in Angstschweiß ausbrechen. „Wie läuft es so mit dem neuen Kind?“ Diesmal antwortet Julia mit zitternden Fingern „Wer bist du? Was willst du von mir?“ Keine Antwort.

Verzweifelt denkt Julia darüber nach, was sie tun soll. Wenn Frau K. über Susi Bescheid weiß, dann meldet sie dies sicher der Polizei. Aber wieso sollte sie ihr die Bilder schicken und nicht gleich der Polizei Bescheid geben. Das passt alles nicht zusammen. Julia hält es nicht mehr aus. Sie bekommt einfach keine Antwort.

Etwas später steht Julia auf, zieht sich einen leichten Mantel über, greift sich das Handy und macht sich zuerst auf dem Weg zum Friedhof. Auf dem ganzen Weg ist sie sich sicher, dass das eine ziemlich doofe Idee ist, aber sie muss einfach nachsehen, ob alles in Ordnung ist. Außerdem beruhigt es sie, wenn sie in Stresssituationen mit eines ihrer Kinder reden kann. Da ihr neues kleines Mädchen aber noch zu verschreckt ist, wird sie mit Susi reden. Sofort fällt ihr auf, dass die Gräber unberührt sind und alles so ist, wie sie es verlassen hat. Sie ist erleichtert. Sie setzt sich auf den Boden vor Susis Grab und fängt an zu erzählen, was ihr seit dem Fund des Handys alles passiert ist. Ihre Geschichte scheint endlos zu sein, dabei sind seitdem gerade ein paar Stunden vergangen. Jedes knacken lässt sie zusammenzucken, doch sie kann nichts entdecken. Julia hatte noch nie Angst im Wald, aber jetzt machte er sie doch nervös. Als nächstes schaut sie nach dem Kind. Alles ruhig, die Kleine schläft nach wie vor. Dank der Beruhigungsmittel wird sie das wohl auch noch mindestens zwei Stunden. Erst dann muss sie wieder nach ihr sehen.

Auf dem Rückweg zum Haus fühlt sie sich schon ein wenig besser, wenn auch immer noch sehr nervös. Ständig schaut sie sich um, kann jedoch nichts sehen. Nach ca. der Hälfte des Weges hört sie ein Geräusch. Abrupt stoppt sie und dreht sich um. In ihrer Manteltasche piept das Handy. Dann noch einmal und noch einmal. Sie schaut sich die Nachrichten an und sieht wieder nur Bilder von sich selbst. Im Wald, aber ziemlich weit weg. Sie schreibt noch einmal: „Was willst du von mir?“ und hört zwei Sekunden später ein Piepen, das nicht weit weg von ihr kommt. Sie fängt an zu rennen, versucht den Bäumen auszuweichen und auf die am Boden liegenden Äste zu achten. Mit einem Ruck wird sie gehalten und ihr wird die Luft abgedrückt. Panisch schlägt sie um sich und versucht sich zu befreien, bemerkt dann jedoch, dass der Gürtel ihres Mantels an einem Ast hängen geblieben ist. Sie macht den Gürtel auf, lässt ihn durch die Schlaufen gleiten und rennt weiter. Endlich sieht sie das Haus. Sie rennt wie eine Verrückte, das ständige Piepen des Handys im Ohr und erreicht die Tür. Völlig außer Puste kippt sie das Fenster zum Garten an und schreibt eine Nachricht, ohne auf die des Absenders zu achten. Sie schickt einfach nur schnell ein „A“ und lauscht. Nichts zu hören. Sie schließt das Fenster, legt das Handy zur Seite, setzt sich auf die Couch, in ständiger Angst, dass gleich die Polizei oder diese irre Frau K. vor der Tür steht oder ihrer Kleinen etwas passieren könnte.

Julia nimmt sich ihr eigenes Handy und schreibt ihrem Mann eine Nachricht. Noch nie hat sie sich so sehr gewünscht, dass er früher nach Hause kommt. Vielleicht würde die Verfolgerin sie in Ruhe lassen, wenn ihr Mann ebenfalls zu Hause wäre. Da fällt ihr ein, dass sie sich noch gar nicht die Nachrichten angesehen hat, die ihr die Verfolgerin geschrieben hatte, als sie zum Haus gerannt war. Pro Buchstabe eine Nachricht: „F. A. M. I. L. I. E!“ – FAMILIE?!. Dieses eine kleine Wort verwirrt Julia so sehr, dass sie keine Ahnung hat, was sie darauf erwidern soll. Da das Kind noch eine Weile schlafen wird, ein Name ist ihr bis jetzt noch nicht eingefallen, und sie sich noch nie hat unterkriegen lassen, nimmt sie sich einen Zettel und fängt an aufzuschreiben, wer ihre Verfolgerin sein könnte. Sie war immer freundlich und nett. Das muss sie gezwungenermaßen auch sein, damit keiner von ihrem kleinen Geheimnis erfährt. Die Ehe mit ihrem Mann läuft ebenfalls gut und sie ist sich auch sicher, dass er keine Affäre hat, die sie versucht aus dem Weg zu schaffen. Sie schreibt also die Worte „Frau“ und „Affäre“ auf das Blatt und streicht das letzte Wort einmal durch. Die leiblichen Eltern ihrer letzten Kinder können es auch nicht sein. Die Kinder wurden nie gefunden und seitdem Julia und ihr Mann in Brandenburg wohnen, hat sie immer sehr darauf geachtet, dass sie sich Kinder aus den kleinen Dörfern sucht, die weiter weg sind. Die Stadt Brandenburg ist nicht besonders groß. Es würde schnell auffallen, wenn nach und nach die Kinder verschwinden. Daher hat sie sich auch dafür entschieden, sich von jedes der Kinder zu trennen, wenn ihre Zeit um ist. Susis Eltern schließt sie aus. Soweit sie es beurteilen kann, hat es die beiden nicht wirklich interessiert, dass ihr Kind verschwunden ist. Sie schreibt jedoch Gabis Mutter auf die Liste. Gabi war vor Susi da und Julia kann sich erinnern, dass in den Nachrichten oft betont wurde, dass die Mutter auf eigene Faust ermittelt. Julia fand es immer albern, dass Leute Detektiv spielen, nur um ein Hobby zu haben. Die Familie ihres neuen Kindes kann es auch nicht sein. Die haben wahrscheinlich nicht mal bemerkt, dass es weg ist. Julia hat in den letzten Wochen bemerkt, wie allein die Kleine von ihrer Familie gelassen wird. Keiner kümmert sich um sie. Die freuen sich wahrscheinlich sogar, dass sie nun ein Maul weniger stopfen müssen. Zusätzlich schreibt Julia Rose, Maria und Alexa auf ihre Liste. Durch den Job ihres Mannes mussten sie in der Vergangenheit oft umziehen, was ihrem Treiben zugutekam. In den Großstädten hat sie immer das erste Mädchen, was sie zu sich genommen hat, frei gelassen. Egal in welchem Zustand das Kind war. In dieser Zeit war es zwar kompliziert, schließlich dürften die Kinder nicht Julias Gesicht sehen, nicht, dass sie sie später noch durch einen doofen Zufall erkennen, aber es war machbar. Sie fühlte sich in diesem Moment gut, wenn sie das tat. Das war ihre gute Tat. Da waren Rose in Köln, Maria in Leipzig und Alexa in Düsseldorf. Unmöglich, dass es jemand von den dreien sein könnte. Sie wissen weder, wie sie aussieht noch wo ihr aktueller Wohnort ist. Marias Namen bekommt den Zusatz „zu jung?“, da sie jetzt erst 12 Jahre alt sein dürfte.

Ihr aktueller Kontakt, von dem sie die Tabletten für die Mädchen bekommt, kann es auch nicht sein. Mal abgesehen davon, dass er männlich ist, ist er über jeden Cent froh, den er von ihr für seine Drogen bekommt. Ihre alte Kollegin wäre eine Option. Sie hat Julia schon immer gehasst und alles dafür getan, damit sie schlecht dasteht. Damit steht der Name Cindy ebenfalls auf dem Zettel. So sehr sie sich auch anstrengt, mehr Personen fallen ihr nicht ein. Damit wären es erst einmal fünf Verdächtige. Sie kreist den Namen Cindy ein, nimmt ihre Tasche und macht sich auf dem Weg zum Laden, um dann mit ein paar Muffins ihre alte Arbeitsstätte zu besuchen.

Sie mochte ihre Arbeit in Schulen noch nie besonders. Diese hier war von allen die Schlimmste. Es handelt sich um eine Privatschule, die den Eltern viel zu viel Geld aus den Taschen zieht. Das einzige Positive ist die Ganztagsbetreuung. Ansonsten nur verwöhnte Kinder. Damit konnte Julia nicht besonders gut umgehen. Gefühlt wird in dieser Schule nur gegessen. Frühstückspause, Mittagessen und kurze Zeit später gibt es schon wieder Vespa oder – wie normale Menschen es nennen – „Kaffee und Kuchen“. Pünktlich zur Vespa-Zeit verteilt sie die Muffins an ihre alten Kollegen und macht ein wenig Small Talk. Cindy ist nirgends zu sehen, also erkundigt sie sich ganz nebenbei nach ihr. Sie sei seit einer Woche wegen einer schweren Grippe nicht zur Schule gekommen und noch mindestens eine Woche außer Gefecht gesetzt. Interessant. Da die Schule es noch nie wirklich mit Datenschutz hatte, kann sie im Sekretariat schnell die Adresse ihrer ehemaligen Kollegin herausfinden.

Julia fand schon immer, dass ihre Stärken das Beobachten und die Schauspielerei ist. So hockt sie jetzt im Busch vor Cindys Haus und wartet.

Circa eineinhalb Stunden später kommt Cindy aus dem Haus – im Bademantel, mit fettigen Haaren und ungeschminkt. Julia kann sich kaum vorstellen, dass sie von dieser Person durch den Wald gehetzt worden sein soll. Cindy schlurft in Richtung des Briefkastens und hat ihr Smartphone in der Hand. Julia kommt eine Idee. Sie holt das Handy aus ihrer Tasche und schickt Frau K. noch einmal die Frage „Wer bist du?“ Keine Reaktion. Das ist ihre letzte Chance, wenn sie nicht noch weiter in dem Busch hocken will, also wählt sie die Nummer und wartet bis es klingelt – 1 – 2 – 3 – 4 – Abgenommen. Aber nichts zu hören. „Ha-halloo?“ fragt Julia leise in das Telefon. Sie lässt Cindy dabei nicht aus den Augen. Das Handy liegt jedoch weiter in ihrer Hand, damit kann Julia sie von der Liste streichen. Ein leises Atmen, mehr ist nicht zu hören, dann legt Julia wieder auf. Sie wartet darauf, dass Cindy wieder im Haus ist und macht sich auf dem Weg nach Hause.

Julia sitzt wieder über ihre Liste. Noch vier Verdächtigte sind übrig. Sie schaut auf das Handy und sieht, dass neue Nachrichten eingegangen sind. Fotos, wie sie im Busch vor Cindys Haus sitzt. Verdammt. Irgendwie ist sie mir gefolgt, das kann doch nicht sein. Die Textnachricht am Ende bestätigt es jedoch: Sind wir nicht inzwischen zu Alt, um Verstecken zu spielen?“ Auch die nochmalige Nachfrage, wer dort ist und was die Person von ihr will, bleibt unbeantwortet.

Das Haus von Gabis leiblichen Eltern sieht aus wie vor vier Jahren, nur der Garten gleicht eher einem Urwald. Julia beobachtet, wie Gabis Vater mit seinen restlichen zwei Kindern das Haus verlässt. Alle sind schick und in Schwarz gekleidet. Zu Julias Glück nutzt die kleine Familie das Auto nicht, sondern macht sich zu Fuß auf den Weg. Julia hängt sich dran. Kurze Zeit später liest sie auf einem Schild Friedhof Ziesar. Verwundert betritt sie den Friedhof. Sie schaut sich um und findet einen kleinen Trauersaal. Dort sieht sie ein Foto stehen. „Aha, eine Person weniger auf meiner Liste.“ Sie verlässt den Friedhof. Auf dem Rückweg ist sie neugierig und sucht im Internet nach dem Todesgrund. Selbstmord. Weil sie mit dem Verlust ihrer jüngsten Tochter nicht Leben konnte. Julia denkt laut: „Was für eine egoistische Frau. Bringt sich um, nur weil sie mit den Kindern nicht zurechtkommt.“ – auf die junge Dame, die dabei an ihr vorbeiläuft und sie ganz genau anschaut, achtet sie zu diesem Zeitpunkt nicht.

 Es sind keine Namen mehr auf ihrer Liste. Die Suche im Internet hat ergeben, dass die Mädchen immer noch in ihren Heimatorten wohnen. Heutzutage posten die Leute ja alles öffentlich auf Facebook, da kann man so etwas schnell herausfinden. Julia ist überfragt. Sie weiß nicht, was sie jetzt noch machen soll. Sie nimmt sich das Handy und schreibt „Ich frage es noch einmal: Was willst du von mir? Willst du Geld? Soll ich irgendwas tun?“ Diesmal erhält sie sofort eine Antwort: „Familie.“ Julia hat das Gefühl, dass sie hier nicht weiterkommt. Sie hat es einfach mit einer Irren zu tun. Ein Blick auf die Uhr verrät ihr, dass es Zeit ist, zum Bunker zurückzukehren. Die Kleine wird wahrscheinlich schon aufgewacht sein und es wird Zeit sich anzufreunden. Sie überprüft kurz, ob das Handy wieder in ihrer Tasche ist und macht sich auf den Weg.

Im Bunker erwartet sie ein waches, artiges und ruhiges Mädchen. Julia ist erstaunt, dass keine Reaktion von der Kleinen kommt, als sie in den Bunker steigt. Julia versichert sich, ob mit dem Kind alles in Ordnung ist und gibt ihm eine Portion Kartoffelbrei mit Soße, die sie mitgebracht hat. Sie schaut ihr beim Essen zu und entscheidet spontan, dass sie die Kleine Amy nennen wird. Nachdem Amy alles aufgegessen hat, schaut sie Julia neugierig an. Julia setzt sich zu ihr und erklärt ihr erst einmal die Regeln: “Ich hoffe du bist satt und es hat gut geschmeckt. Wie in jeder kleinen Familie, wird es auch hier Regeln geben…“ Julia stockt kurz. Familie. Das Wort welches auch Frau K. genutzt hat. Julia fährt fort: „Ich bin ab jetzt deine Mama und du sprichst mich auch so an. Du bist Amy. Meine kleine, süße Tochter. Jeden Tag hast du deine Vitamine zu nehmen. Die sind dafür da, dass du gesund bleibst. Es wird nicht geschrien und du hast dich zu benehmen. Ist das klar?“ Amy nickt. „Gut, wenn du dich an die Regeln hältst, dann wirst du eine nette Mama haben. Solltest du die Regeln jedoch nicht befolgen, wirst du bestraft.“ Amy nickt wieder. Das ist ungewöhnlich. Keines ihrer Kinder hat so reagiert wie sie. Fast gleichgültig.

„Geht es dir gut?“ fragt Julia. Amy nickt wieder nur. Julia zuckt mit den Schultern und steht auf. Irgendwie hat sie das Gefühl, es wäre dunkler geworden, dabei ist gar nicht so viel Zeit vergangen. Sie schaut nach oben und erkennt, dass die Luke geschlossen ist. „Habe ich die Luke geschlossen, als ich zu dir gekommen bin?“ fragt Julia. Amy zuckt mit den Schultern. Langsam geht Julia zur Luke und versucht sie anzuheben. Vergeblich. Das Schloss wurde von außen verriegelt. „Verdammte Scheiße“, flucht Julia. „Halloooo? Ist da jemand? Hallooo? Lassen Sie mich gefälligst wieder raus!!!“ Nichts zu hören. Julia ruft noch einmal. Nichts. Das kann doch alles nicht wahr sein, denkt Julia. Sie holt das gefundene Handy heraus und schreibt eine Nachricht: „Warst du das?“ Die Bestätigung kommt schnell: „Ja. Es war klar, dass du eine gewisse Schweinsschläue haben musst, wenn du das alles jahrelang durchziehen kannst.“ Julia schreit noch einmal: „Was willst duuuuu?“ Das Handy piept. Eine neue Nachricht mit dem Wort „Familie.

Julia steht an der Luke und versucht, diese irgendwie aufzubekommen. Sie ruckelt wie eine Verrückte daran, aber außer, dass ihr Dreck in das Gesicht fällt, passiert nichts. Julia ist wütend und verängstigt zugleich. In der Hoffnung, mit Nettigkeiten weiterzukommen, schreibt sie Frau K. noch eine Nachricht: „Wir können uns doch sicherlich einigen. Du willst Familie, okay. Willst du die Kleine dafür haben, soll ich sie dir überlassen?“ Wieder bekommt sie keine Antwort. Wie soll Julia dort rauskommen, wenn sie keine Antwort von der Irren bekommt. Sie schickt ein Fragezeichen. Nach fünf Minuten schickt sie ein weiteres Fragezeichen. Julia setzt sich auf das Bett und schaut zu, wie Amy mit ihrem Lego-Spielzeug spielt. Ein so entspanntes Kind hatte sie ja noch nie. Sie schaut ihr noch ein wenig beim Spielen zu und schläft ein. Dieser ganze Tag ging nicht spurlos an ihr vorbei.

Das war doch die Luke. Julia reißt die Augen auf. Und richtig, sie kann hören, wie sie wieder verriegelt wird. Verdammter Mist. Das kann doch alles nicht wahr sein. Da schlafe ich ein paar Minuten ein und dann das. Julia schaut sich um. Amy ist weg. Sie schaut noch einmal in jede Ecke, unter jede Decke. Keine Spur von ihr und so groß ist der Bunker nun auch nicht, dass sie die Möglichkeit hat, sich zu verstecken. Julia schreit aus voller Seele ihren Frust heraus. Sie packt das Handy und ruft Frau K. an. Nach dem dritten Klingeln geht jemand ran, sagt jedoch nichts. „Du hast mir mein Kind genommen.“ schreit Julia in das Telefon. „Wieso nimmst du mir einfach mein Kind?“ Kurze Stille. Julia hat mit keiner Antwort gerechnet, hört dann jedoch, wie jemand auf der anderen Seite sagt: „Sie geht zu ihrer Familie!“ Aufgelegt. Julias Nerven sind zum Zerreißen angespannt. Sie erwartet, dass jede Sekunde die Luke aufgeht und die Polizei sie festnimmt. Frau K. wird denen sicherlich alles erzählen. Auch, wenn Julia die Kinder alle aus schrecklichen Elternhäusern gerettet hat, Entführung und Mord sind und bleiben Straftaten. Sie bereut jedoch nichts. Sie würde es immer wieder tun. Die Mutterfreuden überwiegen. Durstig nimmt Julia die Wasserflasche, die eigentlich für Amy gedacht war und trinkt sie zur Hälfte aus. Da sie nicht weiß wie lange sie hier festsitzt, behält sie lieber noch etwas Wasser übrig. Interessant wird es erst, wenn sie auf Toilette muss. Der Kindertopf, der in der Ecke steht, ist eigentlich nicht wirklich eine Option. Wenn Julia aber auf Toilette muss, bleibt ihr wohl nichts anderes übrig. Sie schnappt sich noch einmal das Handy und schreibt: „Was willst du von mir? Lass mich hier raus!“ Julia nimmt sich Stift und Papier aus der Mal-Ecke und macht eine Pro-und-Contra-Liste. Soll sie die Polizei oder ihren Mann anrufen? Die Polizei hilft ihr dann vielleicht, würde sie aber garantiert direkt ins Gefängnis stecken. Sie käme dann zwar hier raus, würde aber lebenslänglich bekommen und wie man aus diversen Dokumentationen oder Filmen weiß, gehen Mithäftlinge nicht gerade nett mit Leuten um, die Kinder so behandeln. Vielleicht kann sie darauf plädieren, dass Stimmen sie zwingen, das mit den Kindern zu tun. Das wäre eine Idee. Sie macht ein fettes Ausrufezeichen an diesen Punkt. In der Psychiatrie ist sie zwar auch eingesperrt, wenn sie aber glaubhaft machen kann, dass die Stimmen sie nur zwingen dies mit den Kindern zu tun, hat sie bestimmt einige Freiheiten. Beim Malen des Ausrufezeichens bemerkt sie, dass ihre optische Wahrnehmung verändert. Sie überlegt weiter. Wie würde ihr Mann reagieren, wenn er sie hier finden würde? Wie könnte sie das erklären? Eventuell kann sie sagen, dass sie das Loch gefunden hat beim Spazieren gehen. Kinder haben dann die Luke zugemacht und sie eingesperrt. Aber wie soll sie die Tupperware und weitere Dinge erklären, die aus dem Haus hier liegen? Egal, ihr Mann ist auf jeden Fall eine realistische Option. Sie war ihm immer eine gute Frau und er hat keinen Grund zu glauben, dass sie ihn anlügt. Sie kneift die Augen zu, reibt sie sich, doch ihre Sicht wird nicht besser. Im Gegenteil, ihre Glieder fangen an schwer zu werden und ihr Verstand ist so benebelt, als wäre sie betrunken. Sie krabbelt zum Kinderbett, legt sich hinein und merkt, dass sie sich reglos fühlt.

Etwa zwanzig Minuten später, auch wenn es sich für Julia wie Stunden anfühlt, hört Julia die Luke wieder. Sie fühlt sich wie gelähmt, bekommt aber alles noch mit. Eine junge Frau, Mitte Zwanzig, kommt auf Julia zu. Sie bleibt vor ihr stehen und sagt: „Na, ist Rohypnol nicht ein wunderbares Mittelchen? Du kennst es wahrscheinlich besser als K. O.-Tropfen. Zuerst nimmst du noch alles wahr, doch von Sekunde zu Sekunde wird es immer schlimmer. Du bist mir hilflos ausgeliefert. Ich könnte jetzt alles mit dir machen, aber das würde mir keinen Spaß machen. Mal abgesehen davon, dass du dich an das meiste wahrscheinlich nicht mehr erinnern kannst, wenn das Medikament erst mal wieder aus deinem Körper raus ist. Nein, nein, erst mal werde ich dich fesseln, damit du nicht verschwinden kannst. Ach, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Frau K., aber du kennst mich wohl besser als….“ Julia verliert das Bewusstsein.

„Meine Güte, hat das gedauert, endlich kommst du mal wieder zu dir. Ich dachte, ich müsste noch ewig warten.“ Julia öffnet verwirrt und desorientiert die Augen. Sie lallt: „Wo bin ich? Was ist passiert?“ „Muss ich jetzt wieder von vorne anfangen? Du warst wohl schon zu weit weggetreten. Na gut, hier die Zusammenfassung: Du bist in deinem Bunker. Das Kind ist hoffentlich wieder bei seinen leiblichen Eltern. Du hattest K.O.-Tropfen. Ich habe dich gefesselt. Ich bin Frau K. Du kennst mich besser als Rose. MAMA!“

Mit einem Mal ist Julia hellwach. Der Name und das Wort „Mama“ sind wie eine kalte Dusche. Das kann doch nicht wahr sein. Sie hat doch Roses Facebook-Account gecheckt. „Wie ist das möglich? Laut Facebook warst du doch die ganze Zeit in Köln unterwegs.“ Rose erwidert:“ Ach jaaa…schöne Täuschung, oder? Man postet ein paar ältere Bilder, erzählt wo man in Köln aktuell ist und alle glauben es einem. Schön. Meinst du im Ernst, ich wäre so dumm und würde meinen Account öffentlich führen? Nachdem was mir als Kind passiert ist? Ich war jung, aber ich habe nichts vergessen!“ Julia merkt, dass Rose wütend wird. Ihre Hände und Füße sind an das Bett gefesselt und das ziemlich fest. Ans Wegkommen ist erst mal nicht zu denken. Julia fragt weiter: „Was machst du jetzt mit mir? Hast du die Polizei gerufen? Willst du das ich ins Gefängnis komme?“ „Aahh“, sagt Julia, „deine Liste habe ich gesehen. So tun als wäre man ein bisschen gaga um in die Psychiatrie zu kommen. Am Anfang habe ich überlegt, die Polizei zu rufen. Ich wollte jedoch erst mal abwarten bis du das kleine Mädchen satt hast. Wie hast du sie noch genannt? Susi?! Vielleicht hätte ich anders reagiert, wenn ich gewusst hätte, dass du sie umbringst, aber wahrscheinlich ist es besser so. So ein Erlebnis verarbeitet man niemals. Nein, ich habe nicht die Polizei gerufen und ich habe es auch nicht vor. Die finden dich schon von allein. Ich werde dir nur deine Chance auf ein restliches „normales“ Leben nehmen. Ich habe die Nachrichten verfolgt und dich dadurch gefunden. Du wirst mich nur noch auf eine Weise los.“ Geschockt fragt Julia: „Du willst mich umbringen?“ Rose schüttelt den Kopf. „Nein, so mache ich mir die Hände nicht an dir schmutzig, diese Gnade hast du nicht verdient.“ Rose schlendert langsam zu dem Beutel mit den Tabletten. „Die Vitamine. Weißt du eigentlich, was die mir angetan haben? Ich habe später recherchiert, was du mir da gegeben hast. Durch die frühe Pubertät, in die du mich geschickt hast, bin ich jetzt schon in den Wechseljahren. Es ist für mich unmöglich schwanger zu werden. Dabei habe ich mir so sehr ein Kind gewünscht. Etwas Normalität.“ Mit den Tabletten in der Hand läuft Rose zurück zum Bett. „Aber es ist grausam, in so einem Körper zu stecken. Ich bin völlig kaputt, geistig und körperlich und das alles nur wegen dir!!! Du hast mir verdammt nochmal die Chance auf ein normales Leben und eine Familie genommen.“ Rose nimmt die erste Tablette und versucht diese in Julias Mund zu stopfen. Julia kneift ihre Lippen zusammen, doch Rose sieht sich davon unbeeindruckt. Sie kneift in die Innenseite von Julias Oberarm und als Julia den Mund vor Schmerz öffnet, stopft sie die Tablette hinein. „Das können wir den ganzen Tag so machen, wenn du willst. Nimmst du sie nicht freiwillig, verletze ich dich bis du den Mund aufmachst und ich sie dir reinstopfen kann. Ich überlasse dir die Wahl, ob du es auf die einfache oder aber auf die harte Tour möchtest und jetzt schön den Mund aufmachen für die nächste Tablette.“ Julia öffnet den Mund – welche Wahl hat sie denn auch sonst?

Mit jeder Tablette erzählt Rose etwas darüber, wir ihr Leben nach der Freilassung verlaufen ist. „Nachdem du mich freigelassen hast, bin ich zurück zu meinen Eltern gekommen. Die waren jedoch mit dem Kind, zu dem du mich gemacht hast, restlos überfordert. So kam ich kurze Zeit später in ein Heim.“ Eine neue Tablette fällt in Julias Mund. „Im Heim war ich viel allein und wurde gemobbt. Eine Familie habe ich nie gefunden. Wer nimmt auch schon so etwas wie mich auf? Wer will schon ein krankes, verstörtes Kind? Mit 18 bin ich dann dort weg und habe versucht auf eigenen Füßen zu stehen. Kurze Zeit später habe ich in den Nachrichten gehört, wie ein Kind verschwunden ist. Erst habe ich mir nichts dabei gedacht, doch etwa zwei Jahre später verschwand wieder ein Kind und diesmal an einem anderen Ort. Ich habe die Sache beobachtet und die Orte abgeklappert, an denen die Kinder entführt wurden. Doch ich habe nichts über dich herausgefunden. Ich dachte schon, dass es sich vielleicht um jemand anderen handelt. Ich war vier Jahre, als du mich hast gehen lassen. Wer weiß, ob die Sachen, die du mir erzählt hast, noch richtig in meinem Gedächtnis waren.“ Rose lässt eine weitere Tablette in Julias Mund fallen, als diese gerade zum Sprechen ansetzt. Sie hustet und spuckt dabei die soeben geschluckte Tablette wieder aus. Rose hebt sie auf und steckt sie erneut in Julias Mund. „Du hast nie mein Gesicht gesehen! Wie hast du mich gefunden?“ „Ganz ruhig,“ sagt Julia, „dazu komme ich gleich. Über die Jahre haben sich bei mir weitere Nebenwirkungen entwickelt von diesen großartigen Vitaminen. Wahrscheinlich hatte ich sie schon vorher, aber sie sind mir erst später aufgefallen. Meine Wundheilung ist viel langsamer als bei anderen. Ich habe Osteoporose. Mit 26 Jahren. Stell dir das mal vor! Und mein Psychiater könnte dir aufzählen, was ich mir aus ärztlicher Sicht noch alles fehlt. Das einzig Gute daran ist, wenn ich mit dir fertig bin und sie mich suchen sollten, wegen Körperverletzung und Freiheitsberaubung oder was das hier immer ist, dann habe ich genau das vor, was du hättest tun sollen. Alles so auslegen, damit ich in eine feine Irrenanstalt komme. Und das wird passieren. Schon aufgrund der zahlreichen Medikamente, die ich nehmen muss.“ In der Zwischenzeit füttert Rose Julia immer weiter mit den Tabletten. Der Beutel wird leerer und Julia fragt sich, was wohl mit ihr passiert, wenn sie alle Tabletten genommen hat. Die Nebenwirkungen der Dinger sind schon heftig, wenn man eine pro Tag über einen kurzen Zeitraum nimmt. Wie geht es ihr erst, wenn sie eine Dosis nimmt, die für zwei Jahre gedacht war? Sie konzentriert sich wieder auf Rose. Rose – ihr allererstes Kind. „Aber ich schweife ab. Kommen wir zu dem Punkt, wie ich dich gefunden habe. Ich habe bemerkt, dass die letzten zwei Kinder in der Nähe von Brandenburg entführt wurden. Also habe ich mich überall im Umkreis und in Brandenburg selbst auf die Suche nach dir gemacht. Als ich schon fast aufgeben wollte, war das Glück auf meiner Seite. Du hast bei einem Bäcker Kuchen gekauft. Ich habe deine Stimme sofort erkannt. Alles andere war einfach. Ich habe dich verfolgt, beobachtet und als du das kleine Mädchen gestern entführt hast, war es Zeit für mich aufzutauchen. Ende. Dramatisch, oder? War das nicht eine Meisterleistung mit dem Handy im Sack?“ Rose fängt laut an zu lachen. Die Tabletten sind alle. Julia hat das Gefühl, dass ihr etwas schwindelig wird, aber das kann auch an der ganzen Situation an sich liegen. „Ich war dir und den anderen Kindern immer eine gute Mutter. Ich habe euch aus eurem grausamen Elternhaus geholt, damit ihr eine schöne Kindheit haben könnt. Auch wenn manche Kinder nach zwei Jahren gehen mussten, so ist es doch besser eine kurze, schöne Kindheit gehabt zu haben, als in gestörten Familienverhältnissen aufzuwachsen. Jedes Elternteil war doch nach einer Zeit froh, dass das Kind weg ist.“ Rose hört auf zu lachen. „Bist du eigentlich gestört? Das ist ja noch schlimmer als ich dachte. Die Kinder hatten super Familien. Eltern, die alles für sie getan haben, die völlig verzweifelt waren, weil ihre Kinder verschwunden sind. Du warst doch auch auf dem Friedhof. Du weißt doch sicherlich, dass sich die Mutter des einen Mädchens, das du entführt hattest, das Leben genommen hat, weil sie mit dem Verlust nicht mehr klar gekommen ist. Meinst du, das macht jemand, dem es egal ist, dass sein Kind weg ist? Oh Mann, wahrscheinlich wärst du mit der Irren-Geschichte wirklich in die Psychiatrie gekommen.“ Julia hat das Gefühl, schon wieder verschwommen zu sehen. Das sind bestimmt die Tabletten. Rose schmeißt den Beutel weg, steht auf und klopft ihre Kleidung ab. „So, Mütterchen, ich bin dann jetzt mal weg. Das war mein einziger Besuch. Schön zu sehen, dass es dir gut geht. Mal sehen wie lange noch.“ lacht sie und verlässt den Bunker. Julia schreit: „Neeeiiinnn…komm zurück, lass mich hier nicht allein! Hilfeeeeeee. Hilfeee!“

Rose sitzt in ihrer Ein-Zimmer-Wohnung und schaut sich die Nachrichten an: „Das zweijährige Mädchen, welches vor drei Tagen entführt worden ist, ist aufgefunden worden. Die kleine Kim ist wieder bei ihren Eltern und wohlauf. Das Mädchen erzählt, dass sie von einer jungen Frau aus einem Bunker gerettet wurde. Bei der Täterin soll es sich um eine ältere, übergewichtige Frau mit braunen Haaren handeln. Von ihr fehlt jede Spur. Die Polizei sucht inzwischen die Wälder nach dem Bunker und der Täterin ab.“

 

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