MinaFamilienglück

 

Da lag es. Ein Handy, das vor zwei Stunden noch nicht in ihrem Spind gelegen hatte. Da war sich Lilly sehr sicher. Sie starrte es einige Sekunden ungläubig an. Beim näheren Betrachten fiel ihr auf, dass sie es noch nie zuvor gesehen hatte folglich konnte es auch nicht ihrer Freundin Maia gehören, die ab und an ihren Spind mitbenutzte. Aber woher kam es dann und wie kam es hier rein? Lilly nahm das Handy heraus. Es wog schwer in ihrer Hand. Es war vermutlich noch ein älteres Modell. Das Metallgehäuse hatte keine Kratzer oder Macken, es machte den Eindruck als wäre es völlig unbenutzt. Gerade als Lilly den Bildschirm entsperren wollte, ploppte eine eingegangene Nachricht auf dem Bildschirm auf. Nicht dass sie in die Privatsphäre der unbekannten Person, der das Handy gehörte, eindringen wollte aber irgendwie musste sie ja herausfinden wem es gehörte um es zurück geben zu können. Schulterzuckend öffnete sie den Bildschirm und die eingegangene Nachricht erschien automatisch. Jetzt verstand sie gar nichts mehr. Die Nachricht war an sie adressiert. Noch bevor sie den Rest der Nachricht lesen konnte, klingelte es und riss sie aus ihren Gedanken. Ihre Mathelehrerin würde es bestimmt nicht gut finden, wenn sie zu spät zur Klausur kam. In einer hektischen Bewegung legte sie das Handy wieder zurück, schnappte sich ihre Notizen, für die sie ursprünglich an den Spind gekommen war und sprintete los.

 

 

Natürlich kreisten Lillys Gedanken während der Klausur immer wieder um das mysteriöse Handy und wie es dort hingekommen sein mag. Und dann auch noch eine Nachricht, die an sie adressiert war. Am naheliegendsten war doch, dass ihre Freundin es hineingetan hatte. Vielleicht hob sie es für jemand auf, der ebenfalls Lilly hieß. Das war eine plausible Möglichkeit. Und auch die einzige, die ihr einfiel. Sie nahm sich vor sie nach der Matheklausur zu fragen und die Situation aufzuklären. Trotzdem blieb ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend, das sie nicht genau zuordnen konnte.

 

 

Als sie endlich den Klassenraum verlassen konnte, rief sie ihrer Freundin hinter her. Auf die Frage, ob das Telefon in dem Spind ihr gehöre, schaute Maia sie sehr verwirrt an. „Was für ein Handy?“. Als sie daraufhin Lillys irritierten Blick sah, gingen beide gleichzeitig los zu besagtem Spind um das offensichtliche Missverständnis aufzuklären. Als Lilly den Spind öffnete und gleichzeitig erklärte, was sie vor der Klausur gesehen hatte, wurde die Situation nur noch merkwürdiger. Der Spind war, bis auf die wenigen Bücher der beiden, leer. In Lillys Kopf ratterte es. Wie konnte das sein? Wo war das Telefon hin? „Ihr nehmt mich doch gerade auf den Arm, oder? Irgendwie finde ich euren verfrühten Aprilscherz nur so semi witzig!“. Als Maia sie nicht wie erwartet schelmisch angrinste sondern weiterhin höchst verwirrt wirkte, wusste Lilly dass es kein Scherz war. Zumindest keiner von dem Maia zu wissen schien. Irritiert und frustriert knallte sie den Spind zu. Was ging hier vor sich? „Keine Ahnung was du für Geister heute siehst aber ich hab damit nichts zu tun und wüsste auch nicht von was einem Handy du sprichst. Ich glaube die Matheklausur hat dir, wie allen aus dem Kurs, ganz schön zugesetzt. Vielleicht solltest du einfach nach Hause gehen und dich ein bisschen ausruhen.“ Maias Aufmunterungsversuch fruchtete nicht unebdingt. Aber nach Hause gehen schien Lilly eine gute Idee zu sein. Das war wirklich ein nervenaufreibender Tag.

 

 

Zuhause angekommen, war es totenstill im Haus, was Lilly einen erleichterten Seufzer entlockte. Auf Familientroubel hatte sie jetzt wirklich keine Lust. Sie feuerte ihre Schuhe und den Rucksack in die Ecke und stolperte die Treppe hoch in ihr Zimmer. Als erstes krallte sie sich die Fernbedienung für den Fernseher. Es ging doch nichts über ein bisschen Trash-TV als Einschlafhilfe für einen ausgedehnten Mittagsschlaf. Als sie auf ihr Bett setzte und die Bettdecke zurecht zog fiel etwas mit einem lauten Knall zu Boden. Genervt schälte sich wieder aus dem Bett und starrte auf den Fußboden. Das konnte jetzt nicht wahr sein. Auf dem Boden lag ein Handy. Ein Handy, von dem sie sicher war, dass sie es heute schon einmal gesehen hatte. Ein Handy, dass definitiv nicht hier her gehörte. Sie hob es vom Boden auf. Und simultan fiel ihr die Nachricht von heute morgen wieder ein. Wenn das das selbe Handy war, dann musste die Nachricht hier drauf sein. Vielleicht würde diese Nachricht etwas Licht ins Dunkle bringen. Sie öffnete den Bildschirm und damit auch gleichzeitig die Nachricht. „Na Lilly, erinnerst du dich noch?“ stand auf einem grau hinterlegtem Hintergrund. Unter der Nachricht war ein Foto. Automatisch griff sich Lilly an ihre Narbe über ihrer rechten Augenbraue. Sie erkannte sich und ihr feuerrotes Haar direkt wieder. Auf dem Bild musste sie ungefähr vier oder fünf Jahre alt gewesen sein. Und sie hatte noch den Leberfleck über ihrer rechten Augenbraue, den sie sich vor einigen Jahren hatte entfernen lassen. Auch ihr heiß geliebter Rucksack für den Kindergarten war mit auf dem Bild. Es war unverwechselbar sie. Mit dieser Erkenntnis setzte die Panik ein. Woher kam dieses Foto? Und wie kam dieses Handy in ihr Zimmer? Augenblicklich wünschte sie sich sie wäre nicht alleine in dem großen Haus. Nach dem sie sich ihren Tennisschläger genommen und im Bad eingeschlossen hatte, schien ihr Körper die Adrenalinzufuhr langsam wieder herunterzufahren und sie konnte wieder deutlich klarere Gedanken fassen. Es war überhaupt nicht möglich, dass irgendwer Zugriff auf alte Kinderfotos von ihr hatte. Nichtmal sie selbst hatte überhaupt irgendein Kinderfoto von sich behalten dürfen. Alles was vor ihrer Adoption im Alter von elf Jahren existiert hatte, war entsorgt worden. Es gab niemand, der ein Kinderfoto von ihr in die Finger hätte kriegen können außer… ihren Bruder. Als einzige Option blieb nur ihr leiblicher Bruder, der also heimlich eins behalten hatten musste. Das war doch schon mal ein Anfang. Jetzt hatte der anonyme Übeltäter also ein Gesicht. Und dazu noch ein Gesicht, das sie gut gekannt hatte bis vor einigen Jahren. Wie ihr Bruder jedoch auf die Idee kam so wieder Kontakt zu ihr aufzunehmen war ihr ein Rätsel. Nach der Adoption, hatte man die jeweiligen Adoptionsfamilien gebeten vorläufig möglichst keinen Kontakt zwischen den beiden zuzulassen. Um ihnen zu ermöglichen sich in ihr neues Leben einzugliedern ohne permanente Erinnerungen an vergangene Tage. Ganz normal war ihr Bruder ja sowieso nie gewesen aber das? Das war etwas zu gruselig. Selbst für ihn. Lillys Herz wurde bei dem Gedanken an ihren Bruder und seine Probleme ganz schwer. Immerhin fühlte sie sich etwas besser, da sie nicht mehr im Dunklen tappte aber das ungute Gefühl in der Magengegend wollte partout nicht verschwinden. Wohl oder übel musste sie sich mit ihm auseinandersetzten. Dafür schien ihr eine einfache SMS aber zu unpassend nach allem was sie gemeinsam erlebt hatten und sie hatten sich bestimmt viel zu erzählen. Sie nahm sich vor ihn morgen besuchen zu gehen. Trotz das sie keinen Kontakt hatten, hatte das Jugendamt sie immer einmal jährlich informiert wo er war und wie es ihm ging. Deshalb war er nicht schwer aufzufinden.

 

 

Sie lag stundenlang wach in ihrem Bett und wälzte sich hin und her. Der Gedanke an ihren Bruder, ihre Familie und das Foto ließen sie einfach nicht los. Wie glücklich und unschuldig sie doch alle zu dem Zeitpunkt noch gewesen waren. Zu dem Zeitpunkt als das Foto aufgenommen wurde, waren sie und ihr Bruder unzertrennlich gewesen. Sie hatten alles gemeinsam gemacht und Lilly liebte es ihrem Bruder die Welt zu erklären oder ihn vor den gemeinen Jungs im Kindergarten zu beschützen. Er war schon immer etwas ängstlicher gewesen und Lilly glich das mit ihrer unbedachten und leichtfertigen Art wieder aus. Er hätte es gar nicht ahnen können, dass er sich irgendwann genau vor ihr hätte schützten müssen.

 

 

Als sie am nächsten Morgen vor der Psychiatrie in der nächsten größeren Stadt stand, redete sie sich Mut zu. Wie schlecht konnte es ihm schon gehen? Und wie würde er wohl auf sie reagieren? Sie musste es wohl oder übel herausfinden. Nach der Adoption in zwei unterschiedliche Familien hatte Tom weniger Glück gehabt als sie. Seine Familie, war nicht unbedingt das, was man glücklich nennen konnte. Und auch der Tod ihres Vaters hatte er nur schwer verkraften können. Also folgten über die Jahre immer wieder geschlossene Einrichtungen und Psychiatrien. Hauptsächlich um ihn davon abzuhalten sich selbst etwas anzutun. Da hatte sie es mit ihrer liebevollen und vor allem wohlhabenden Adoptionsfamilie deutlich besser getroffen. Kein Wunsch blieb ihr verwehrt, während ihr Bruder die Heime der Umgebung abzuklappern schien. Mitleid und Gewissensbisse stiegen ihn ihr auf und dehnten sich aus wie ein Heißluftballon beim Start. Sie hatte ihn seit der Adoption nicht mehr gesehen und hätte vielleicht ihm zu Liebe den Kontakt erzwingen sollen. Vielleicht hätte ihn das gerettet. Aber für sie hätte dieses ausgeworfene Rettungsseil wahrscheinlich den Absturz mit in den dunklen Abgrund bedeutet. Was hätte es ihm genutzt? Es war Zeit es hinter sich zu bringen. Am Empfang fragte sie nach auf welcher Station ihr Bruder zu finden war. Im vierten Stock klingelte sie an der Milchglastür und wartete bis ihr ein Pfleger, komplett in weiß gekleidet, die Tür öffnete. Als sie ihm den Namen nannte schaute der Pfleger etwas verwirrt und erklärte Lilly, dass Tom seit seinem letzten Ausgang verschwunden sei und sie ihn deshalb auch nicht besuchen könne. „Wenn Sie Tom sehen sollten, begleiten Sie ihn bitte zurück auf Station oder rufen Sie die Polizei. Er ist gerichtlich hier untergebracht und das hat seine Gründe. Er hat im Moment eine schwere Identitätskrise und ist absolut unberechenbar. Er ist nicht nur eine Gefahr für sich sondern kann auch für Unbeteiligte im Kreuzfeuer eine Bedrohungen darstellen.“ Dazu fiel Lilly erst mal nichts mehr ein. Das dumpfe Gefühl in der Magengegend strahlte inzwischen in ihren ganzen Körper aus und sie fing an zu schwitzen. Nach dem sie irgendwas gestammelt hatte verließ sie die Psychiatrie wieder. Die kalte Winterluft draußen tat gut und sie zog die Jacke zu. Was ging hier vor sich?

 

Plötzlich hörte sie ein Klingeln, das aus ihrem Rucksack kam. Es war das Handy. Sie schaute auf das Display. Wieder eine Nachricht. Sie schaute sich, mit der Vermutung ihn in der Nähe entdecken zu können, um. Doch weit und breit war niemand zu sehen. Konnte das Zufall sein, dass er sich ausgerechnet jetzt wieder meldete? Zögernd fischte sie das Handy aus ihrem Rucksack. Eine beißende Windböe strich über ihr Gesicht und die Finger, die sie über den Bildschirm gleiten ließ. Ihre dunkle Vorahnung bestätigte sich. Es war wieder ein Kinderbild. Dieses Mal nicht nur ein Bild von ihr alleine, auch ihr Bruder und ihre leiblichen Eltern waren darauf zu sehen. Der Gedanke an die Vergangenheit und an ihre Eltern stach ihr tief in die Brust. Sie konnte und wollte sich nicht daran erinnern, was alles schreckliches passiert war und wie sie und ihr Bruder gemeinsam durch die Hölle und wieder zurück gegangen waren. Er schien bis heute das alles nicht verarbeiten oder verdrängen zu können. Lilly hingegen hatte damit weniger Probleme. Sie konnte Dinge, die ihr unangenehm waren, gut verdrängen. Eine Fähigkeit, die ihr ermöglichte ein normales Leben führen zu können, ohne sich oder andere quälen zu müssen. Ganz im Gegensatz zu ihrem Bruder,den diese Tragödie nicht loszulassen schien. Wie verschieden sie doch waren.

 

Wieder starrte sie auf das Familienbild, was für Unwissende wie eine kleine, glückliche und typische Familie aus sah. Das waren sie allerdings nie gewesen. Und würden sie auch nie sein, da ihre Mutter ihr ganzes Leben hinter Gitter verbringen würde und ihr Vater sich kurz danach das Leben genommen hatte. Sie schüttelte den Kopf, in der Hoffnung auch die immer kreisenden Gedanken abschütteln zu können. Sie packte das Handy wieder ein und machte sich auf den Weg. Wohin wusste sie noch nicht. Nach Hause konnte sie erst mal nicht gehen. War es denn jemals wirklich ihr Zuhause gewesen oder waren diese drei Menschen eher das gewesen, was sie ein Zuhause nennen würde?

 

 

Ja, da ging sie dahin. Lilly. So leicht und anmutig als könnte ihr nichts und niemand etwas anhaben. Das war schon immer eine Eigenschaft, die Tom an seiner Schwester bewunderte, wenn nicht sogar beneidete. Aber er hatte es beobachten können, wie sie leicht nervös zusammen gezuckt war, als er ihr wieder eine Nachricht auf das Telefon geschickt hatte. Das fühlte sich an wie ein kleiner Triumph. Der Beweis, dass sie sich auch nicht immer und überall unter Kontrolle hatte und das was ihn ihr vorging auch mal ungewollt nach außen drang, ohne das sie es kontrollieren oder steuern konnte. Er legte das Fernglas weg, mit dem er sie von weiter weg beobachtet hatte. Es war unklug gewesen sich in der Nähe der Psychiatrie aufzuhalten jetzt wo jeder nach ihm suchte, aber er hatte gewusst, dass sie kommen würde. Dass sie seine Hinweise verstehen würde. Waren es Hinweise oder Hilfeschreie? Er wusste es selbst nicht so genau. Aber was er wusste war, dass Lilly sich lange genug vor davor versteckt hatte, die Vergangenheit und damit einen Teil, der sie selbst ausmachte, zu konfrontieren. Sie vergrub es einfach in einer Schublade, die sie nie zu öffnen gewagt hatte, während er jahrelang darunter litt und mit seinem Schmerz alleine war. Doch das würde sich schon bald ändern. Dafür würde er sorgen. Und danach konnte sie sich nicht mehr davor verstecken, wer sie wirklich war.

 

 

Lilly lief planlos durch die Stadt. Ohne jegliches Ziel aber mit dem Kopf voller wirrer Gedanken. Und immer wieder verstärkten die eingehenden Nachrichten von Tom den Strudel dunkler und verzweifelter Gedanken, der sie nach unten zog. „Du kannst nicht vor der Vergangenheit weglaufen! Du musst dich ihr stellen!“, „Das was du vor gibst zu sein, bist du doch nicht wirklich, oder? Du weißt es doch genauso wie ich.“. Das waren alles Dinge, die sie überhaupt nicht hören wollte. Alles was sie wollte war ihr normales Leben ohne Tom und ohne jegliche Erinnerung an das was in ihrer richtigen Familie passiert war. Ihr Leben bis gestern, bevor sie dieses blöde Handy gefunden hatte. Langsam staute sich die Verzweiflung und die Wut an. Sie holte das Handy aus ihrer Jackentasche. Sie schaute sich einmal um, warum wusste sie selbst nicht so genau, und warf es mit aller Kraft in den Fluss, an dessen Ufer sie entlang gegangen war. Das fühlte sich gut an und entlockte ihr ein kleines Lächeln. Endlich hatte sie ihrer Ruhe. Tom, so kaputt er auch war, musste lernen ohne sie zurecht zu kommen. Sie konnte sich nicht auf diese geschwisterliche Beziehung einlassen ohne daran zu zerbrechen. Das wusste sie und hatte es schon immer gewusst. Hoffentlich konnte ihr Tom eines Tages dafür verzeihen.

 

 

Am nächsten Morgen wachte sie nach einer langen und traumlosen Nacht auf. In ihrem Bett, in ihrem Zuhause bei der Familie, die schon immer die einzige Familie für sie gewesen war. Sie ging nach unten und am Frühstückstisch saßen ihre Eltern und lasen die Zeitung. „Guten Morgen, Spatz! Da war etwas im Briefkasten für dich.“. Ihr Vater küsste sie auf die Stirn und händigte ihr einen kleinen weißen Briefumschlag auf dem, außer ihrem Vornamen, nichts stand. Sie öffnete ihn und überflog den Brief in sekundenschnelle. Er war von Tom, der sie um einen einzigen Gefallen bat. Ein einziges Gespräch, nur sie beide, und er würde sie für immer in Ruhe lassen. Alles was er wolle, wäre einen Abschluss und Seelenfrieden, damit er mit seinem Leben weiter machen könne. „Na, ein Liebesbrief von einem heimlichen Verehrer?“ hörte sie ihren Vater neckisch sagen „So ungefähr…“ murmelte sie in Gedanken versunken. In ihrem Unterbewusstsein rumorte es. Eine dunkle Erinnerung an den Pfleger, der sie eindrücklich vor ihm warnte. Aber alles was sie tatsächlich bei ihr ankam war ein ungutes Gefühl, dass von der Hoffnung mit ihrem Leben weiter machen zu können übertrumpft wurde. Das Treffen sollte heute Abend statt finden. Sie wisse ja wo. Und sie wusste tatsächlich wo. Sie waren sich wohl doch ähnlicher als sie gedacht hatte.

 

 

Toms Finger waren eißkalt. In der Kirche auf dem Friedhof war es, bis auf wenige brennende Kerzen, düster. Die alten Kirchenbänke, die bemalten Wände und Decken sowie die übergroße Christus Figur, die im Schatten des Kerzenlichts hing, erzeugten eine eher unheimiche Stimmung. Tom bekam Gänsehaut. Definitiv kein guter Treffpunkt mitten im Winter. Er saß auf der ersten Kirchenbank direkt vor dem Altar und wartete schon seit einer Stunde auf Lilly. Er hatte ja sowieso keinen Ort wo er hätte sonst hingehen können, außer die Psychiatrie vielleicht aber das würde er erst nach dem Treffen wieder in Betracht ziehen. Er hatte viel zu lange auf diesen Moment gewartet um jetzt wieder tagelang in einer Isolationszelle vor sich hinzusiechen. Er wollte wenigstens dieses Treffen als Erinnerung mitnehmen können. Dann hatte er wenigstens etwas worüber er nachdenken konnte anstatt einfach nur die weißen Betonwände anzustarren. Irgendwann würde die Polizei in sowieso finden und zurück bringen. Das wusste er schon aus vergangen Aufenthalten und Fluchtversuchen. Aber er hoffte, dass dieses Treffen ihn in seinem Heilungsprozess und in seiner Selbstfindung ein großes Stück weiter bringen könnte. Auch wenn sein Therapeut es noch für viel zu früh und destruktiv hielt. Er musste endlich mit jemand sprechen, der ihn verstand und er ging fest davon aus, dass Lilly ihn verstand.

 

Plötzlich hörte er die alte Kirchentür knarzen. Tom richtete sich auf. Eine Gestalt trat ein, zog die Kapuze zurück und schüttelte die Schneeflocken von der Jacke ab. Die Tür fiel hallend wieder ins Schloss. Für einen Augenblick standen beide einfach nur da, schauten sich an und ließen den Moment auf sich wirken. Sie hatte gewusst, dass er sich mit ihr in der Kirche auf dem Friedhof treffen wollte, in der auch die Beerdigung ihres Vaters statt gefunden hatte. Der Ort, an dem sie sich zuletzt gesehen hatten. Der Ort, als sie das letzte Mal wirklich Geschwister gewesen waren und gemeinsam um ihren Vater getrauert hatten. Lilly lief, nach kurzem Zögern, den Gang entlang nach vorne. Sie setzte sich neben ihn auf die Bank. Das Adrenalin pumpte durch Toms Körper. Endlich war es soweit. „Tom, ich bin hier. So wie du es verlangt hast. Sag was du möchtest und wir können es hinter uns bringen und zu unseren Leben zurück kehren als wäre nie etwas gewesen.“ Als wäre nie etwas gewesen? Was redete sie da? Als wäre ihre gemeinsame Vergangenheit ein Vogelschiss, der einen zwar nervte aber innerhalb weniger Sekunden wieder abwischbar war. „Das meinst du doch nicht ernst! Ich hab mein Leben lang darunter gelitten und du sagst es wäre nichts gewesen!“ Tom hörte das Zittern und die Wut in seiner Stimme und versuchte die zusammengeballten Fäuste ein bisschen zu lockern bevor sich die Fingernägel wieder schmerzhaft in die Handflächen bohrten. Eine schlechte Angewohnheit, die er versuchte sich abzugewöhnen. „Tom du musst darüber hinwegkommen was unsere … Mutter… diesen Menschen angetan hat. Du kannst nichts dafür!“, flüsterte sie. Wie sie das Wort „Mutter“ herauswürgte als wäre sie eine Bestie, vor der man sich ekelte und fürchten müsse. „ Hör zu, ich verstehe, dass dich das mitnimmt aber du musst nach vorne sehen. Das was passiert ist definiert dich nicht und du bist auch nicht daran Schuld deswegen sollte das auch nicht darüber entscheiden, was mit deinem Leben passiert.“ Und das war der Punkt an dem sie sich irrte und sich selbst etwas vormachte. „ Du lügst Lilly! Sie hat diese Menschen umgebracht und wir haben es gewusst. Wir hätten sie retten können! Wir hätten Papa retten können! Wegen uns sind sie wirklich alle tot!“ Er versuchte seine Stimme im Zaum zu halten, immerhin war das hier ein Gotteshaus, in dem man sich immer noch respektvoll verhalten sollte, so sehr er sich auch in Rage redete. „Wir müssen es jemand sagen. Ich kann mit dieser Schuld nicht mehr leben.“ sagte Tom verzweifelt und mit Tränen in den Augen. Lillys Gesichtszügen entglitten ihr komplett. Mit offenem Mund starrte sie Tom an, der in sich zusammen gesackt war. „Das kannst du nicht machen! Ich hab mir ein Leben aufgebaut, in dem das alles keine Rolle mehr spielen sollte. Das kannst du mir nicht antun.“ Lilly sprang von der Bank an und schaute ihn vorwurfsvoll an. „Das ist ein Teil von uns. Wir können uns doch nicht ein Leben lang verstecken und so tun als wären wir jemand anderes! Als wäre das nie passiert. Ich bin mir sehr sicher, dass das für uns keine rechtlichen Konsequenzen hat. Es geht nur darum uns reinzuwaschen. Von der Schuld, die wir mit dem Schweigen auf uns geladen haben“ erklärte sich Tom. „Das kannst du nicht machen!“ sagte Lilly in einem ruhigen aber dennoch scharfen Tonfall, der ihm verriet, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. „Was meinst du?“ fragte Tom nervös. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. „Denk doch mal nach Tom. Du bist doch nicht blöd. Du weißt ganz genau, warum niemand unserer Vergangenheit aufwühlen sollte.“ Sie war auf einmal wie ausgetauscht. Ihr besorgter und vorwurfsvoller Gesichtsausdruck wich einem fast schon psychopathischem Lächeln. „Lilly… was… was hast du denn?“. Sie stolzierte vor ihm auf und ab. Immernoch grinsend. „ Ach Tommy, süß wie du glaubst, dass du an dem Schuld bist was passiert ist. Du warst noch so klein und unschuldig als das alles passiert ist aber ich habe ehrlich gedacht du wärst mehr wie ich. Entschuldige, mehr wie ich und Mama.“ Sie lachte. Toms Augen weiteten sich, „Du hast ihr dabei geholfen?! Du warst ein Teil davon.“. In der Hoffnung, dass er sie missverstand, sprach er das für ihn unfassbare aus. Das konnte nicht wahr sein. Sie schloss die Augen. „Ach Tommy, du hättest ihre Gesichter sehen sollen, wenn ich auf einmal in den Keller kam und ihnen die Kehle durschnitt. Sie taten alle immer so überrascht.“. Was zur Hölle spielte sie da für ein Theater vor?. „Verstehst du jetzt warum wir uns niemandem anvertrauen können?“. Ja, das leuchtete ihm tatsächlich ein. Der Schock saß tief. Sehr tief. Nicht nur seine Mutter, sondern auch seine Schwester waren Monster von unfassbarer Grausamkeit. „Und was ist mit Papa?“. Sagte er zitternd. „Der hat herausgefunden was los war. Stand auf einmal plötzlich in der Tür und hat gesehen was passierte. Anscheinend konnte er den Gedanken nicht ertragen nicht nur mit einem Monster verheiratet zu sein sondern auch eins erschaffen zu haben.“, sagte sie schulterzuckend. „Also hör mir jetzt gut zu“, sie beugte sich nach vorne und schaute ihm tief in die Augen, „ ich habe jahrelang alles getan um diesen Teil von mir vor allen anderen Menschen verborgen zu halten inklusive mir selbst. Und jetzt kommst du und willst das alles wieder aufwirbeln nur um deine kleine mickrige Identitätskrise zu bewältigen. Das war eindeutig ein großer Fehler. Du hättest zusehen sollen, die Dinge allein zu regeln, so wie ich das auch auf bittere Art und Weise gelernt hatte.“ Sie strich Tom mit der linken Hand über die Wange. „ Ach Tommy,…“. Er starrte sie entsetzt und völlig aufgelöst an. Wer war diese Person? Er musste sich eingestehen, dass sie überhaupt nichts verstand vom dem was er versuchte zu sagen. Noch schlimmer, sie war nicht die, für die er sie gehalten hatte. Er hatte kein Ahnung gehabt, wer seine Schwester wirklich war. Ironischerweise musste er feststellen, dass sein Therapeut recht behalten hatte. Das war wirklich kein hilfreiches und heilendes Gespräch gewesen. Noch bevor er die Chance hatte gedanklich sich in die nächste Sinnkrise zu stürzen, packte sie sein Gesicht mit einem festen Griff. „TOM!“ fuhr sie ihn an. „Was schlägst du jetzt vor, was wir tun um dieses Problem zu lösen?!“. Er stotterte „Ich… ich weiß es nicht. Ich kann… nicht. Lilly, ich will doch nur… zurecht kommen. Ich will die Vergangenheit als Teil von mir akzeptieren können. Findest du nicht auch, dass du das auch tun solltest? Du kannst diesen bösen Teil nicht vor dir selbst und anderen verstecken. Er ist ein Teil von dir und du musst lernen damit umzugehen, damit du dich ändern kannst.Damit du sowas nie wieder tust.“ „Was ist wenn ich mir so gefalle? Was ist wenn ich meine wirklichen Sehnsüchte und Gefühle gerne vor allen, die mir wichtig sind, verstecke und so tue als wäre ich jemand, der ich gar nicht wirklich bin. Du hast Papas Gesichtsausdruck nicht gesehen als er erkannte, wer oder was ich wirklich war. Er sah aus als würde die Welt für ihn zusammenbrechen. Und danach bringt er sich deswegen um und du sagst mir ich soll mich jedem, der mich liebt offenbaren?! Das so etwas nochmal passiert? Das alle die ich liebe mich verstoßen und sich vor mir fürchten? Das kann und werde ich nicht noch einmal ertragen.“ „ Du musst gerade stehen für das was du bist und für das was du getan hast!“ stieß Tom tief aus seinem Bauch heraus aus. Sie schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Seine Wange brannte. Er fasste sich an die warme und wahrscheinlich gerötete Stelle. Er starrte die Christus Figur an. Er konnte den Schmerz in seinem Gesicht gut nachvollziehen. Sein Schmerz war eher psychischer Natur. Als kleiner Junge hatte er schon geahnt, dass er über diese Familientragödie niemals hinwegkommen würde. Dieses tief sitzende Trauma und damit einhergehnder Schmerz machte einen Großteil seiner Persönlichkeit aus, die sich über die Jahre um das Trauma herum geschlungen hatte, wie Efeuranken um einen Gartenzaun. Wer wäre er wohl gewesen, wenn er nicht in diese Familie geboren worden wäre? Er hatte wirklich keine Antwort darauf. Gleichzeitig betrauerte er den Verlust, der einen Person, die ihm die Hoffnung gegeben hatte, dass irgendwann mit viel Arbeit vielleicht alles gut werden würde. Stattdessen trat diese Person ihm noch auf die Finger, mit denen er sich an der Klippe am Abgrund festhielt. Er musste diesen hoffnungslosen Weg nun alleine in Angriff nehmen. Mit dieser Erkenntnis, wollte Tom aufstehen und sich auf den Weg machen. Doch Lilly krallte ihre Finger in seine Schulter und drückte ihn wieder auf die harte Kirchenbank. „Wo willst du denn hin? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich zulassen kann, dass du irgendwem, auch nur deinem kleinen nervigen Therapeut, verrätst was ich getan habe?!“ Sie nahm die Hand nicht von seiner Schulter. Mit der anderen zog sie ein Klappmesser aus der Jackentasche und klappte es mit einer schwungvollen Bewegung auf. Sie schaute ihm tief in die Augen. Er schaute zu Tode erschrocken zurück in ihre glitzernden eiskalten blauen Augen. Ihr Mund forme sich zu einem verschmitzten Lächeln.Bevor er sich versah stach sie ihm mit Schwung das Messer durch die Rippen hindurch. Ein unaushaltbarer Schmerz durchfuhr seinen Körper. „ Machs gut Bruderherz! Und grüß unsere Eltern von mir.“ Sie lachte laut auf. Es wurde ganz schwarz um ihn herum. Die Anspannung löste sich und er wurde ganz schwer. Er fiel ins dunkle Nichts.

 

 

 

 

 

 

 

One thought on “Familienglück

  1. Tolle und sehr spannende Geschichte 😀 Die Grundidee ist wirklich klasse. Die Charaktere wurden ziemlich gut beschrieben, gerade der Blickwechsel und die bildhafte Sprache fand ich super. An manchen Stellen haben mich jedoch die Rechtschreibfehler und die Wortwiederholungen gestört, aber das sind wirklich nur kleine Sachen. Ich habe mich auch gefragt, wie der Pfleger bei Toms Flucht einfach so relativ gelassen blieb und nicht das ganze Krankenhaus in Aufruhr war, vielleicht könnte man das noch überdenken ☺ Auch den Wechsel von Lilly fand ich anfangs ein bisschen zu schnell und unnatürlich. Aber alles in Allem, hat mir das Ganze ziemlich gut gefallen 😀

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