larakimFehleinschätzung

 

 

Glücklicherweise scheint an diesem Morgen die Sonne und ich kann mich getrost mit dem Fahrrad auf den Weg ins Krankenhaus machen.

 

Ein schneller Blick auf die Wetter-App meines Handys verrät mir, dass es im Laufe des Tages nicht regnen soll und so fasse ich meinen Entschluss.

 

Hektisch stopfe ich meinen Rucksack, in dem sich Portemonnaie und Schwesterntracht befinden, auf den Korb hinter meinem Sattel und schwing mich auf den Drahtesel. Mit einem letzten Blick hoch zu meiner Wohnung trete ich in die Pedale.

 

Hoffentlich habe ich den Herd ausgeschaltet, denke ich während ich mich immer weiter von meinem Zuhause entferne, und hoffentlich habe ich die Wohnung richtig abgeschlossen.

 

Wird schon, ist mein letzter Gedanke, dann konzentriere ich mich darauf, pünktlich zur Arbeit zu kommen.  Es passiert nicht häufig, dass ich zu spät komme, also traue ich mich, davor noch einen Kaffee vom Bäcker zu holen. Morgenrituale soll man schließlich nicht unterbrechen.

 

Der sommerliche Wind rauscht in meinen Ohren als ich über eine Brücke rase und ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Den täglichen Weg zur Arbeit genieße ich im Sommer besonders. Zwar ist es noch früh am Morgen und ich bin keineswegs ausgeschlafen, aber es ist schon angenehm warm. Dass sich kaum Menschen draußen bewegen ist ein weiterer Bonus meiner frühen Arbeitszeit.

 

Wie ein kleines Kind trampele ich in die Pedale um immer mehr an Geschwindigkeit zu gewinnen. Der Weg zum Bäcker ist zwar ein Umweg, aber einer, den ich gerne in Kauf nehme. Die Straße ist flach, mir begegnen kaum Autos und die scharfen Kurven bereiten mir kindlichen Spaß.

 

Ich trete hart in die Bremsen als ich vor mir den Bäcker erblicke. Fröhlich springe ich vom Sattel, schiebe das Rad zu den Fahrradständern und schließe es dort fest.

 

Um das Schloss einrasten zu lassen, bücke ich mich nach unten. Dabei fällt mir ein dünner, schmaler Gegenstand ins Auge. Die Sonne spiegelt sich in einer Fläche aus Glas und blendet mich. Ich blinzele, lege meinen Kopf schräg, um den Gegenstand erkennen zu können und sehe hinab auf ein demoliertes Handy. Das Display hat wenige, feine Risse, die Kanten sind abgenutzt, die Hülle um das Handy ist unangenehm gelblich angelaufen.

 

Vermutlich hat es jemand verloren. Vielleicht ist es ihm oder ihr aus der Tasche gefallen, als er sein Fahrrad aufschließen wollte.

 

Ohne daran zu denken, mich zu beeilen, greife ich danach und drehe es in meiner Hand. Nirgendwo steht irgendetwas, was auf den Besitzer hinweisen könnte. Ich drehe mich um meine eigene Achse und erhebe mich dann aus der Hocke. Keine Menschenseele befindet sich in meiner Nähe. Der Besitzer muss schon lange weg sein.

 

Kurz entschlossen schiebe ich das Gerät in meine Jackentasche. Noch einmal sehe ich mich um. Es fühlt sich an, als hätte ich etwas Verbotenes getan.

 

Aber ich werde es ja dem Besitzer zurückgeben, sage ich mir im Stillen, deswegen nehme ich es mit. Ich nicke mir selbst noch einmal aufmunternd zu, dann ziehe ich meine Hand aus der Tasche und lasse das schwer lastende Handy in meiner Jacke zurück. Dann betrete ich den Laden.

 

 

 

20 Minuten später sitze ich im Umkleideraum des Krankenhauses und zerre die Schwesterntracht aus meinem Rucksack. Ich bin glücklicherweise nur 10 Minuten zu spät gekommen und mein Chef hat es bloß mit einem Kopfnicken abgehakt. Erleichtert verschwand ich in der Umkleide.

 

Jetzt schlüpfe ich aus meiner Jeansjacke und hänge sie an den Haken in meinem Spind. Dabei knallt etwas laut gegen die Metallwand. Ich zucke zusammen und runzele die Stirn. Was ist das gewesen?

 

Verwirrt stecke ich meine Hand in die Tasche und plötzlich erinnere ich mich wieder an das Handy, welches ich heute bei dem Bäcker gefunden habe. Meine Finger befühlen das warm gewordene Material und neugierig ziehe ich es ein weiteres Mal raus. Ich drücke auf den Homebutton. Nichts geschieht. Es muss leer sein.

 

Ich trete zu meinem Rucksack und krame nach meinem Ladekabel. Es muss pures Glück sein, dass der Stecker in das fremde Handy passt. Ich stöpsele es ein und sobald Strom in das Gerät fließt, wird das Display hell. Eine Batterie kommt zum Vorschein, die sich langsam mit grünen Balken füllt.

 

Während meiner Schicht gerät das Handy schnell wieder einmal in Vergessenheit. Ich habe so viel zu tun, dass ich mir private Gedanken nicht leisten kann. In der Mittagspause trete ich in den Umkleideraum, um mir mein Essen zu holen. Ich erkenne aus der Ferne, dass das Handy mittlerweile vollgeladen ist, aber da mir meine Mittagspause mehr als kostbar ist, rühre ich es nicht an. Stattdessen spare ich es mir für das Ende der Schicht auf.

 

Auch nach der Mittagspause gibt es viel, um das ich mich kümmern muss, doch dieses Mal schweifen meine Gedanken immer wieder zu dem fremden Handy.

 

Die Neugier hat sich in den vielen Stunden immer weiter gesteigert, und auch die Arbeit kann mich auf Dauer nicht mehr ablenken.

 

Als meine Schicht schließlich vorbei ist und ich umgezogen bin, fische ich als erstes nach dem Handy. Während ich es einschalte mache ich mich auf den Weg nach draußen. Ich möchte mich beeilen nach Hause zu kommen. Mein Magen knurrt und ich hab Durst.

 

Ich sitze schon auf dem Sattel des Rades, da ploppt endlich das Display auf und eine Entsperrung strahlt mir entgegen. Ich stöhne auf. Klar, dass der Besitzer nicht einfach sein Handy ohne Pin nutzt. Dennoch versuche ich es aus.

 

Als erstes kommt mir der Pin in den Sinn, mit dem ich mein Handy sperre, doch da das abwegig ist, versuche ich etwas anderes aus.

 

Ich stoße einen spöttischen Laut aus, als das Display tatsächlich entsperrt wird.

 

Unglaublich, dass manche Menschen ihr Handy wirklich mit der Zahlenfolge von eins bis vier sichern. Der Hintergrund des Geräts ist ein idyllischer Strand, vermutlich gehört er zu den Standartdisplays, die von Anfang an auf dem Handy gespeichert sind.

 

Einen Moment grübele ich darüber nach, wo ich nach der Identität des Besitzers suchen soll, dann klicke ich auf Kontakte.

 

Es ist kein einziger eingespeichert, zwar gibt es ein paar wenige Nummern, aber nirgendwo findet sich ein Name. Verwundert schließe ich die App und öffne die Galerie. Bestimmt finde ich dort Hinweise auf die Identität des Besitzers.

 

Kaum Bilder. Ich runzele die Stirn. Ich klicke auf ein Bild eines Hundes und habe schon wieder das Gefühl, dass es eines dieser Standartbilder ist, die sich auf dem Speicher befinden bevor das Handy jemandem gehört. Ich wische nach und nach durch die Galerie, und ich bekomme immer mehr und mehr das Gefühl, dass mit diesem Telefon etwas nicht stimmt.

 

Dann stoße ich erschrocken Luft aus meinen Lungen.

 

Das Handy fällt aus meiner Hand, die zu zittern begonnen hat. Schweiß bricht auf meiner Stirn aus. Ich bekomme das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.

 

Das kann nicht wahr sein, schießt mir durch den Kopf, das kann nicht sein. Warum sollte sich ein Bild von mir auf dem Handy einer fremden Person befinden? Und warum ausgerechnet davon, wie ich in meinem Bett liege und schlafe? Mit klopfendem Herzen hebe ich das Handy wieder auf.

 

Vielleicht handelt es sich dabei bloß um einen Scherz!

 

Ich sehe mir das Bild noch einmal genauer an. Vielleicht bin ich das gar nicht?

 

Doch, kein Zweifel. Ich erkenne meine Bettwäsche, den Schrank mit der selbstgemalten Sonnenblume darauf. Und ich erkenne mich selbst. Erkenne mein friedlich schlafendes Gesicht, meine schulterlangen Locken.

 

Das Bild ist vom Fenster aus gemacht worden. Das würde heißen, die Person stand draußen und hat mich fotografiert. Hoffentlich. Vielleicht stand sie auch im Zimmer und hat sich vor das Fenster gestellt.  Bei dem Gedanken gefriert mir das Blut in den Adern. Wer ist denn so krank und tut so etwas? Mich im Schlaf zu fotografieren? Ungläubig schüttle ich den Kopf.

 

Obwohl sich alles in mir dagegen sträubt wische ich ein Bild weiter.

 

Mein Herz beginnt noch heftiger zu schlagen, noch heftiger  als sowieso schon. Mit einem Mal ist mir eiskalt. Der Himmel wird dunkel, die Sonne zieht sich wie aufs Stichwort zurück. Meine Augen sind jedoch wie gefesselt auf das Display gerichtet.

 

Auf diesem Bild stehe ich unter der Dusche. Es ist wieder vom Fenster aus gemacht worden. Das heißt, diesmal war er wirklich draußen. Wenn nicht, hätte ich es bemerkt.

 

Ich wische noch einmal nach rechts. Ich koche.

 

Noch einmal, ich putze. Noch einmal, ich bade. Noch einmal nach rechts, ich lese ein Buch.

 

Noch einmal. Mein Herz bleibt stehen.

 

Dieses Bild ist anders. Es ist bearbeitet worden. Ich liege im Bett, er muss mich ein weiteres Mal beim Schlafen fotografiert haben. Das Bettlaken ist so bearbeitet, dass es aussieht, als sei es getränkt worden mit But. Meine Kehle ist zu einem Grinsen aufgeschlitzt worden. Von Ohr zu Ohr. Mein Bauch ist ebenfalls aufgeschnitten. Unecht aussehende Gedärme quellen aus der Bauchdecke.

 

Mir wird übel. Abwechselnd heiß und kalt.

 

Mit einer schnellen Bewegung schalte ich das Display aus und stopfe das Handy in den Rucksack. Das ist krank. Das ist einfach nur krank.

 

Ich reibe mir über die Arme um die intensive Gänsehaut abzuschütteln. Ich greife nach dem Lenkrad und rolle von dem Bürgersteig.

 

Ich will einfach nur nach Hause. Mich einschließen und niemals wieder rausgehen. Ich will nicht zufällig diesem Irren begegnen. Egal ob ich ihn erkennen werde oder nicht. Jeder könnte es sein. Der nette Nachbar, die Kassiererin bei meinem Stammsupermarkt, ein Mitarbeiter, der Verkäufer beim Bäcker. Ich schüttele mich vor Grauen und strampele heftiger in die Pedale.

 

Werde ich zuhause denn sicher sein? Schießt mir plötzlich durch den Kopf. Der Kerl oder vielleicht auch die Frau, weiß wo ich wohne, er kann mit Sicherheit nachts bei mir einbrechen und das letzte Bild wahr werden lassen.

 

Aber zu wem soll ich? Wem soll ich mich anvertrauen? Was wenn genau diese Person der Irre ist? Wenn ich mich bei dem Falschen ausheule?

 

Nein, das kommt nicht in Frage.

 

Der warme Wind ist auf dem Rückweg eiskalt. Ich friere obwohl ich eine Jeansjacke trage. Der Kaffee den ich vor ein paar Minuten meinen Rachen hinuntergekippt habe, ist nicht mehr wärmend. Ich beginne wieder zu zittern. Ich spüre einen Kloß in meinem Hals.

 

Soll ich zur Polizei?

 

Nein, keine gute Idee. Wer weiß, was sie über mich rausfinden, wenn sie auf mich aufmerksam werden?  Es ist zu riskant. Ich würde meinen Job verlieren, in den Knast wandern, wenn ich es nicht geschickt anstelle. Wenn sie es rausfinden. Wenn sie rausfinden, was ich getan habe. Die Polizei muss rausgehalten werden.

 

Ich werde es selbst in die Hand nehmen.

 

Plötzlich fühle ich mich etwas besser. Ich habe einen Plan. Zumindest fast. Ich werde niemandem vertrauen, werde mich auf meinen eigenen Spürsinn verlassen. Auf meine Gefühle, nicht auf die anderer.

 

Als ich vor dem Wohnhaus, in dem sich meine Wohnung befindet, bremse, ist mir wieder warm. Ich hieve das Fahrrad in den großen Ständer und schließe es sorgfältig ab. Wer weiß, vielleicht will dieser kranke Typ mich auch aus meiner Wohnung scheuchen und mich ausrauben. Dann passe ich lieber doppelt auf.

 

Vor der Wohnungstür krame ich nach meinem Haustürschlüssel, schließe die Tür auf und trete in den vertrauten Hausflur. Entgegen normaler Gewohnheit blicke ich mich aufmerksam um. Nicht, dass sich der Irre hier irgendwo versteckt und mir auflauert. Bei dem Gedanken schießt mir das Bild durch den Kopf, auf dem ich verstümmelt im Bett lieg. Ich schaudere. Sehe  mich noch etwas genauer um. Der Flur ist leer. Ich atme ein wenig auf. Aus einer der Wohnungen höre ich einen Fernseher laufen. Aus der neben meiner, kringelt sich ein süßer Duft. Es riecht nach selbstgebackenen Waffeln. Mein hungriger Magen macht sich wieder bemerkbar und ich beruhige mich noch ein wenig mehr. Hier scheint alles seinen gewohnten Gang zu nehmen.

 

Ich schlendere den noch kurzen Weg zu meiner bescheidenen Wohnung und schließe die Tür auf. Stille empfängt mich. Es riecht ein wenig nach abgestandener Luft, aber das ist nach einer 8 Stundenschicht kein Wunder. Ich werfe den Rucksack auf das Sofa neben der Eingangstür und bleibe stehen.

 

Soll ich wirklich die Fenster öffnen? Was, wenn der Irre die Chance nutzt und hier einsteigt?

 

Sei nicht dämlich, schelte ich mich selbst. Dennoch beschließe ich, die Fenster bloß auf Kipp zu stellen und somit auf Nummer sicher zu gehen. Sobald ich damit fertig bin, gieße ich mir ein Glas kaltes Wasser ein. Gierig kippe ich es meine Kehle hinab. Nach dem dritten fühle ich mich besser. Hunger verspüre ich jedoch immer noch.

 

Also ab zum Kühlschrank. Er ist vollgepappt mit Postkarten, die ich von Freunden bekommen habe, mit Magneten und mir wichtigen Zeitungsausschnitten zugekleistert und dennoch fällt mir der Notizzettel sofort auf. Mein Magen zieht sich augenblicklich zusammen.

 

Nein, bitte nicht!

 

Mit bebenden Fingern greife ich danach. Die Schrift, mit der eine Notiz verfasst wurde, sieht aus, als sei sie mit einer Schreibmaschine geschrieben worden.

 

Erst als ich versuche, das Geschriebene zu lesen, fällt mir auf, dass meine Augen in Tränen schwimmen. Energisch wische ich sie weg. Dann lese ich.

 

Du weißt, wer ich bin. Ich weiß, wer du bist. Du wirst meine Rache spüren. Ob du willst oder nicht. Egal, wo du dich versteckst, ich finde dich. Und ich werde dich leiden lassen.

 

Der Zettel segelt stumm auf den Boden. Eine Träne folgt. Dann bricht ein Schluchzer aus meiner Kehle. Unkontrolliert beginnen meine Knie zu zittern. Ich sacke auf dem Küchenboden zusammen. Ich fühle mich elend, fühle mich beobachtet, fühle mich verletzlich.

 

Er hat Recht. Ich weiß, wer er ist. Und genau das macht mir so Angst.

 

Ich vergrabe meine Hände in meinem Gesicht und schluchze hemmungslos. Irgendwann beginnt meine Kehle zu schmerzen. Meine Augen sind ausgetrocknet. Es gibt keine Tränen mehr, die ich vergießen kann.

 

Ich fühle mich, als wäre ich in einer Art Trance. Wandele zwischen Bewusstsein und Fantasie und Traumwelt.

 

Erst ein helles Geräusch reißt mich aus meinem tranceartigen Zustand. Ich schrecke hoch, springe auf und sprinte durch die kleine Wohnung um alle Fenster zu schließen. Als ich fertig bin, lasse ich mich auf das Sofa fallen. Ich weiß nicht was ich machen soll, jedoch bin ich auch zu schwach, mir einen Plan auszudenken.

 

Ohne es zu merken, versinke ich in der Schwärze einer Traumwelt.

 

Es ist schon hell, als ich aufwache. Ein Schock durchzuckt mich. Ich muss arbeiten! Dann fällt mir der Zettel auf dem Küchenboden auf und ich sinke wieder in die Kissen des Sofas. Ich beschließe, mich krank zu melden. Ich werde nicht die Kraft aufbringen können, heute arbeiten zu gehen. Stattdessen, sollte ich etwas gegen ihn unternehmen.

 

Also mache ich mich als erstes fertig.

 

Meine Augen sind geschwollen und gerötet, als ich in den Badezimmerspiegel blicke. Mein Gesicht fühlt sich ausgetrocknet an. Kopfschmerzen machen sich hinter meinen Schläfen breit. Nach dem ich meine Zähne geputzt habe und dabei die gesamte Wohnung nach dem Irren abgesucht habe, mache ich mir etwas zu essen. Ich habe keinen Hunger, doch irgendwie muss ich Energie sammeln. Bevor ich meinen letzten Bissen der Butterstulle nehmen kann, fällt mir ein, dass ich eine Nachricht bekommen habe, bevor ich eingeschlafen bin. Ich stehe schneller als gewollt auf und suche in der Jeansjacke nach meinem Handy. Ich finde das fremde. Das Display leuchtet.

 

Eine neue Nachricht.

 

Ich will nicht, das Essen droht meine Speiseröhre wieder hochzukommen, doch ich öffne sie trotzdem. Eine unbekannte Nummer hat mir eine SMS gesendet. Es steht nirgendwo, doch ich weiß, er ist es.

 

Die SMS besteht aus einem Bild.

 

In dem Bild befindet sich ein Krankenhausbett, eine alte Dame liegt darin. Ihre Augen sind weit aufgerissen, ihr Arm klammert sich an das Bettgestell. Vor dem Bett steht eine junge Frau. Ich. Mit einer leeren Spritze in der Hand.

 

Ich lasse das Handy fallen und renne ins Bad. Die Stulle wird aus meiner Speiseröhre gepresst. Ich huste, spucke und weine. Ich fühle mich krank, wische einen Speichelfaden von meinem Mundwinkel und erhebe mich schwerfällig. Das Geräusch der Klospülung ist laut und ich zucke zusammen.

 

Wie ist es nur möglich, dass ich innerhalb so kurzer Zeit so paranoid werden kann? Einen Moment lausche ich in die Stille.

 

Ich höre nichts, was bedeutet, dass sich auch jetzt noch niemand in die Wohnung geschlichen hat. Ich könnte erleichtert sein, bin es aber nicht. Das Bild war eine Warnung, eine klare Warnung. Und obwohl ich mir einen Plan machen wollte, habe ich selbst dazu keine Kraft.

 

Doch, denke ich plötzlich, reiß dich zusammen. Du willst dich doch nicht von einem Irren einschüchtern lassen. Denk dir irgendwelche Fallen aus, die du ihm stellen kannst, falls er versucht einzubrechen. Lasse deine Fantasie spielen. Du bist doch nicht dumm.

 

Ich atme also tief ein und aus und sehe mich in meiner Wohnung um. Das klingt gut. Ich sollte Fallen stellen. Vor allen Fenstern und vor der Tür. Dann werde ich alles mitbekommen. Der erste Gedanke der mir kommt, ist Mausfallen. Derjenige, der hineintritt oder fasst, wird nicht anders können als vor Schmerz zu schreien. Und wenn doch, dann hilft mir alles andere auch nicht mehr.

 

Ich werfe den letzten Rest Stulle in den Mülleimer und stelle den Teller in die Spülmaschine. Dann ziehe ich mir etwas Frisches an und krame das Portemonnaie aus dem Rucksack. Auf dem Weg zum Baumarkt werde ich meinem Chef schreiben, beschließe ich und greife nach dem Schlüssel in der Jeansjacke. Nach kurzem Überlegen stecke ich auch das Handy des Irren in meine Tasche.

 

Bevor ich die Wohnung verlasse, lege ich mein Ohr an die Tür und lausche. Jemand steigt die Treppe hinauf, ich halte meine Luft an. Die Schritte bewegen sich auf die Treppe neben meiner Wohnung zu, er will in den ersten Stock.

 

Ich atme erleichtert aus, schließe die Tür auf und schlüpfe auf den Flur. Er ist leer. Zumindest hoffe ich das, wer weiß, vielleicht beobachtet mich der Irre ja auf Schritt und Tritt. Ich schüttele mich vor Unbehagen und mache mich auf den Weg aus dem Haus. Diesmal werde ich nicht das Fahrrad nehmen.

 

Ohne bin ich flexibler.

 

Zwar fühle ich mich nicht wohl dabei, ungeschützt durch die Stadt zu laufen und zu wissen, dass mir der Irre an jeder Straßenecke auflauern kann, doch wenn ich mir Zuhause keinen Schutz aufbaue, dann werde ich mich auch dort nicht wohlfühlen. Dann habe ich keinen Ort mehr, an dem ich sicher bin, oder an dem ich wenigstens glaube, sicher zu sein.

 

Also beginne ich mir auf dem Weg in den Baumarkt eine Schutzwand zu bauen. Eine Schutzwand um meine Seele. Eine Schutzwand, die mich davon abhält, durchzudrehen.  Durch diesen Schutz meiner Seele schaffe ich es, aufrecht, mit gestrafften Schultern durch die Ladenstraßen zu wandern. Durch ihn schaffe ich es, nicht in jeder halbwegs verdächtig aussehenden Person meinen Gegner zu sehen. Meinen Feind.

 

Sobald ich in den Baumarkt trete fällt die Anspannung, die ich trotz meines Schildes nicht abschütteln konnte, von mir ab. Hier bin ich geschützt. Das Gefühl taucht in mir auf, ohne dass ich es erklären kann. Draußen waren mindestens genauso viele Menschen unterwegs wie sich im Markt befinden. Und dennoch hat die große, offene Halle etwas Beruhigendes an sich. Ich atme den Rest Anspannung aus meiner Lunge und mache mich auf die Suche nach Mausefallen. Der Gang, in dem ich mich nach wenigen Sekunden befinde ist vollkommen leer. Im Gegensatz zu den Gängen in denen ich bisher war. Und mit einem Mal überschwemmt mich wieder das Gefühl von Unbehagen. Die Einsamkeit in genau dem Gang in dem ich mich aufhalte, bricht über mich zusammen wie eine Welle und ein Stoß Panik überkommt mich. Ich spüre wie meine Handflächen zu schwitzen beginnen, vollkommen grundlos wirft mich der Gedanke daran, beobachtet zu werden, aus der Bahn. Ich wirbele herum. Alles leer. Die hohen Regale bilden eine einengende Gasse und ich glaube erdrückt zu werden. Ich drehe mich langsam um die eigene Achse, immer wieder. Aber immer noch sehe ich niemanden. Dann setze ich mich in Bewegung. Meine Füße tragen mich immer schneller durch den Gang. Hin zu den Menschen, hinzu dem Trubel. Hauptsache die Einsamkeit schwindet.

 

Und dann spüre ich einen harten Gegenstand in meinem Kreuz. Ohne jemals eine Waffe in der Hand gehabt zu haben, weiß ich, es handelt sich um eine Pistole. Die Mündung ist kalt und glatt und jagt mir eine Gänsehaut über den Körper. Ich will mich umdrehen, aber eine Stimme zischt mir ins Ohr. Der Atem streift meine Wange und unwillkürlich versteife ich mich.

 

„Spiel mit! Sonst wirst du es büßen“, ich erkenne die raue Stimme und nicke hastig. Tränen schwimmen in meinen Augen, doch in meinem Magen brodelt mit einem Mal Wut. Was ein Schwein, dass es mich mitten in der Öffentlichkeit erwischt.

 

Er drückt mir die Mündung ein wenig härter in den Rücken und ich beginne zu laufen. Langsam, bedacht.

 

„Wir gehen jetzt zu meinem Wagen. Verhalte dich ruhig, sonst bereust du es. Ich leite dich, und mach ja keine Mätzchen“, sein Atem streift abermals meine Wange und der Drang ihm meine Hacke gegen das Schienbein zu rammen wallt in mir auf. Ich reiße mich zusammen. Ich nicke noch einmal und nähere mich dem Ausgang. In meinem Inneren hoffe ich, dass irgendjemand auf uns aufmerksam wird, doch niemand beachtet uns besonders intensiv.

 

Als ich auf den Beifahrersitz seines Wagens gestoßen werde, weicht alle Hoffnung aus mir heraus. Der Motor wird gestartet, die Pistole ist immer noch auf mich gerichtet. Er lenkt mit einer Hand.

 

„Was willst du von mir?“, frage ich mit zitternder Stimme. Ich weiß nicht, warum ich es frage, denn ich kenne die Antwort.

 

„Das weißt du ganz genau“, er wirft mir einen giftigen Blick zu. In seinen Augen liegt purer Hass, aber es erschrickt mich nicht, denn auch in mir kocht die Wut.

 

„Ich habe sie nicht umgebracht“, versichere ich ihm mit fester Stimme, „Wir konnten nichts mehr für sie tun.“

 

Er reißt das Lenkrad mit einem Ruck rum und ich werde gegen die Tür geworfen. Schmerz durchströmt meine Schulter, aber das Adrenalin betäubt die Pein.  „Meine Mutter war gerade dabei gesund zu werden. Und du bringst sie um. Du hattest nicht das Recht dazu, ihr das Leben zu nehmen!“

 

„Ach, nein?“, Lachen bricht aus meiner Kehle, ich kann es mir nicht verkneifen. Der Irre sieht mich entgeistert an, seine Knöchel um das Lenkrad treten weiß hervor. „Was hast du?“, fragt er hektisch, seine geweiteten Pupillen zittern.

 

„Aber du hattest das Recht mein Leben zur Hölle zu machen?“, frage ich zischend, ignoriere seine Frage und beuge mich näher zu ihm, „Du hattest das Recht meine Freunde gegen mich aufzuhetzen?“

 

Der Blick des Irren wird noch verdutzter. Wieder entfährt mir ein Kichern. Erbärmlich.

 

„Wir- wir waren in der 5. Klasse“, stößt er aus der Lunge und tritt aufs Gas. Der Wagen nimmt stetig an Geschwindigkeit zu. Wir nähern uns dem Land. Uns begegnet kein Auto mehr.

 

„Und das gibt dir also das Recht, ja?“, knurre ich, beachte die Waffe, die immer noch auf mich gerichtet ist, nicht mehr. Weiß nur, dass der Griff um sie immer zittriger und schwitziger wird.

 

„Wir waren noch klein, wir wussten nicht was wir tun. Schulfreunde sind nicht fürs Leben. Du hast doch sicher keinen Kontakt mehr zu ihnen!“, seine Stimme wird immer lauter und verzweifelter. Obwohl er derjenige mit der Waffe ist, hat er Angst. Ich schnaube amüsiert: „Nein, weil du sie vergrault hast. Weil du sie gegen mich aufgebracht hast. Und dafür musste deine arme Mutter jetzt büßen!“ ein weiteres Lachen bricht aus mir heraus. Ich kann mich kaum noch halten vor Lachen. Und das entsetze Gesicht des Irren macht alles noch komischer. Mit einem Mal bremst er. Mitten auf einem weiten Feld. Keine einzige Menschenseele. Ideal.

 

Ich werde nach vorne geworfen und knall mit dem Kopf auf das Armaturenbrett. Anschnallen habe ich vergessen, fällt mir auf und ich ziehe eine Grimasse.

 

„Steig aus!“, schreit der Irre und ich zucke zusammen. Er ist schon ausgestiegen, steht auf meiner Seite des Autos und zielt mit der Pistole auf mich. Ich tu wie mir geheißen und reiße die Tür auf. Die Kante trifft den unvorbereiteten Mann und er stolpert nach hinten. Den Moment nutze ich und springe aus dem Wagen. Ich könnte wegrennen, aber der Irre hat sich schon wieder gefangen. Außerdem soll er nicht so einfach davon kommen. Nicht mit seiner Mobbingscheiße von damals und dem Versuch mir meinen Verstand zu nehmen.

 

„Ich werde dich erschießen! Ich werde meine Mutter rächen“, schreit er und hebt seinen Arm um wieder auf mich zu zielen. Ich lache spöttisch.

 

„Versuche es doch“, ich mache langsam ein paar Schritte auf ihn zu, eine Hand erhoben, die andere fummelt in meinem Gürtel nach etwas nutzbarem.

 

Meine Worte verunsichern ihn, er mustert mich gehetzt. Immer wieder wandert sein Blick von meinen Augen zu seiner Waffe. Will er schießen? Überlegt er ob er schießen will?

 

Ich weiß es, als ich nur noch wenige Zentimeter vor ihm stehe.

 

Ein Klicken ertönt. Ich grinse, er weitet erschrocken seine Augen. Ein Ratschen ertönt. Ich grinse breiter, seine Augen weiten sich in einer Mischung aus Verwunderung und Schmerz. Ich ziehe das Messer aus seiner Brust und streiche es an seiner Jacke ab. Dann sackt er in sich zusammen.

 

Ich beuge mich zu ihm hinunter. Knie mich neben ihn und flüstere: „Schöner Versuch!“

 

Er röchelt, Blut fließt aus seinem Mund, seine Pupillen zittern, erstarren kurz darauf. Sein Todeskampf ist vorbei. Und sein Kampf mit mir ebenso.

 

Ich nehme ihm die Pistole aus der Hand und bücke mich nach dem Magazin, das einige Meter vor der Schnauze des Autos liegt. Als ich die Tür aufgestoßen habe, muss sich der Hebel gelöst haben und das Magazin ist raus gerutscht. Glücklicherweise. Wäre das nicht geschehen, läge jetzt nicht er dort.

 

Ich ziehe das Handy des Irren aus meiner Tasche und lege es ihm in die Hand. Das Messer ziehe ich aus dem noch warmen Leichnam und wickele es in die Jeansjacke ein, die ich mir davor ausgezogen habe.

 

Dann drehe ich mich um, trete auf die Straße und laufe nach Hause.

 

 

 

2 thoughts on “Fehleinschätzung

  1. Deine Geschichte lässt sich wirklich flüssig lesen. Gelangweilt war ich in keinem Absatz. Allerdings fehlt es mir dennoch etwas an Spannung bzw. dem Besonderem. Ich habe die Geschichte gelesen, fand sie ganz gut aber auch nicht überzeugend irgendwie.
    Vielleicht hättest du noch das ein oder andere Detail einbringen können, das den Leser mehr überrascht oder begeistert.
    Einfach dran bleiben! Das hat Potenzial!:)

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