pauline.roehrFLUCHT

Warum bin ich ausgerechnet in diese Stadt gezogen? Gefühlt stinkt es überall. Oder ist das wieder nur dieser Guten-Morgen-und-Willkommen-in-der-U-Bahn-Geruch? Die Menschen stehen mal wieder dicht an dicht. Sie streiten wie Tiere um jeden Sitzplatz. Sie zwängen sich noch mit rein, da es Zeitverschwendung wäre, fünf Minuten auf die nächste Bahn zu warten. „Nächster Halt: Hauptbahnhof.“ Sehr gut – nur noch ein paar Stationen und ich bin da. Die Person neben mir gibt mir dieses seltsame Signal, aussteigen zu wollen. Dieses Sachenzusammensammeln und ultra langsame Aufstehen. Ich stehe auf, um die Fremde durchzulassen. Nur noch ein paar Stationen und ich kann endlich wieder atmen. Aber Moment, die Fremde hat hier wohl ihr Handy vergessen! Ich schnappe es mit einem gezielten Handgriff, drehe mich um und suche mit hastigen Blicken nach ihr. Doch da ist sie gerade hinter der offensichtlich stark alkoholisierten Frau verschwunden. Die Bahn fährt jetzt wieder los. Enttäuscht über meine Niederlage heute doch nichts Gutes zu tun, lasse ich mich wieder in meinen Sitz fallen. Dabei fällt mein Blick auf das Handy der Fremden. Es ist noch entsperrt. Zumindest denke ich das. Das bin doch ich auf dem Foto?! Oder spielt mir mein Gehirn gerade einen Streich? Ich und ein anderes Mädchen! Aber wo sind wir da? Sieht aus wie ein See. Und dort stehen kleine Hütten. Vielleicht ein Ferienlager oder so etwas. WER war das da gerade?!  Und WARUM hat die Fremde dieses Foto?! Und wer ist dieses andere Mädchen?!

Das wird mir alles zu viel. Die Bahn kommt gerade zum Stehen. Ich muss hier raus. Ich brauche Luft. Muss atmen. Jetzt!

Ich schnappe alle meine Sachen und renne aus der U-Bahn. Dann die Treppen nach oben und dann noch in die Richtung des Parkes. Völlig erschöpft von meiner Unsportlichkeit und meinem soeben hingelegten Sprint, lasse ich mich auf eine Bank sinken. Ich muss herausfinden, was das alles soll. Ich weiß, eigentlich müsste ich das Handy zur Polizei bringen. Aber das kann ich nicht. Ich ziehe das Handy aus meiner Tasche, um mir das Foto erneut anzusehen. Scheiße! Das Handy ist gesperrt und ich kenne das Passwort nicht. Das Einzige, was ich jetzt sehe, sind computer-gezeichnete Neon Delfine auf crazy Wellen vor schwarzem Hintergrund. Wie hässlich. In diesem erschreckenden Moment der Besinnung ist mir doch glatt die Uhrzeit auf dem Handy aufgefallen und die damit einhergehende Tatsache, dass ich heute wohl zu spät auf der Arbeit sein werde.

Ich kann mich überhaupt nicht konzentrieren. Normalerweise bin ich immer jemand von den eher produktiveren Leuten im Büro. Aber heute nicht. Ich sitze einfach nur auf meinem Stuhl und starre auf das Handy in meinen Händen. Was soll ich jetzt tun? Wie kann ich herausfinden, wem dieses Handy gehört? Hier auf Arbeit werde ich die Lösung nicht finden. Ich stecke das Handy ein und mache mich auf den Weg nach Hause.

…Vielleicht…Nein. Auch nicht…Oder vielleicht…Verdammt. Es ist zwecklos. Ich sitze hier nun bestimmt schon seit drei Stunden auf dem Boden meines Wohnzimmers und versuche alle möglichen Codes. Ich bin verzweifelt. Wie soll ich den Code nur herausfinden? Ständig sperrt sich das Handy für ein paar Minuten und ich starre nur wie eine Verrückte auf den ablaufenden Timer, um drei weitere Versuche zu starten. Eine Pause von dem ganzen Trubel wäre jetzt wohl das Richtige. Ich sollte mir einen Kaffee machen und vielleicht – Moment mal. Wenn mich nicht alles täuscht, hat das Handy in meiner Hand gerade vibriert. Ich habe eine SMS bekommen. „Der Code ist 2405.“, steht in einem kleinen Fenster auf dem Bildschirm. Dann ist die Nachricht wohl für mich. Aber wieso? Will die Fremde etwa, dass ich das Handy entsperre? Das ist doch vollkommen verrückt. Ich sollte das Handy einfach nehmen und zur Polizei bringen. Das ist das einzig Richtige, was ich tun kann. Aber dann werde ich nie herausfinden, wer die Fremde und wer das andere Mädchen auf dem Foto ist. Während mir diese ganzen Gedanken durch den Kopf schießen, habe ich den Code schon längst eingegeben. Da lachen mich diese beiden Mädels an. Das eine bin definitiv ich. Das Bild muss schon vor einer Weile entstanden sein. Ich bin da vielleicht 12 oder 13. Aber wer ist dieses andere gestellt grinsende Mädchen? Sollte ich der Fremden eine Nachricht schicken und einfach fragen? Sie hat das Handy offensichtlich mit Absicht fallen lassen, also scheint sie geradezu herauszufordern, dass ich sie kontaktiere.

„Dein Bildschirmschoner ist hässlich.“

Ein toller Einstieg, Matilda. Jetzt hält die Fremde dich sicher für sehr freundlich oder verrückt. Oder beides.

„Ich mag Delfine.“

Ich bin mir nicht sonderlich sicher, ob diese Unterhaltung bisher gut verläuft. Vielleicht sollte ich weg vom Smalltalk und eher zu ernsten Themen übergehen.

„Was willst du von mir?“

„Du kennst mich und du musst dich an mich erinnern!“

Erinnern. Ja, das ist witzig. Nach meinem Unfall vor ein paar Jahren kann ich mich an nicht mehr viel aus meiner Vergangenheit erinnern. Ich weiß noch, wie ich kurz nach dem Unfall in diese Stadt gezogen bin und mir ein neues Leben aufgebaut habe, was wirklich nicht leicht war, mit nahezu gelöschtem Gedächtnis. Der Arzt damals meinte, dass mein Gedächtnis vermutlich bald wieder komplett zurückkommen würde. Und damit hat er auch teilweise Recht behalten. Aber einige Erinnerungen sind scheinbar für immer verloren – darunter ziemlich sicher die Erinnerungen an diese Fremde.

„Ich kenne dich nicht.“

„Doch! Erinnerst du dich nicht?“

Na, offensichtlich nicht, du Blöde Fremde. Aber wie sollte ich ihr das jetzt erklären? Sie würde es ja eh nicht verstehen. Ich versuche es lieber mit weiteren Fragen. Ich muss mehr herausfinden:

„Warum sollte ich mich an dich erinnern?“

„Damit du verstehst, was du getan hast!“

Oh…Das klingt aber gar nicht nett und freundlich. Eigentlich habe ich mich immer für ziemlich taff gehalten. Aber gerade habe ich echt Schiss. Ich bin da offensichtlich an eine Verrückte geraten, die mich anscheinend verwechselt! Das kann so nicht weiter gehen. Ich muss jetzt wirklich zur Polizei gehen. Die Fremde droht mir ja schon fast! Was soll das überhaupt bedeuten?! Sicher, ich kann mich nicht an alles aus meiner Vergangenheit erinnern. Aber scheinbar muss ich ja etwas getan haben, was die Fremde verärgert – vorausgesetzt, sie verwechselt mich nicht sowieso mit jemandem.

„Du musst mich verwechseln. Ich habe nichts getan und weiß auch sicherlich nicht, wer du bist!“

„Nein, ich verwechsle dich nicht! Du bist Matilda, richtig? Das eine Mädchen auf dem Foto.“

Das wird zu viel. Das ist doch Wahnsinn. Woher kennt die Fremde meinen Namen? Und scheinbar weiß sie ja auch noch, wie ich aussehe. Das ist angteinflößrend. Aber was soll ich jetzt tun?!

„Wer ist das andere Mädchen auf dem Foto?“

Auch nach weiteren vergangenen Stunden antwortet die Fremde nicht mehr. Wenn sie weiß, wie ich heiße und wie ich aussehe, dann weiß sie vielleicht auch, wo ich wohne. Ich fühle mich nicht mehr sicher. Ich laufe auf und ab, kontrolliere jedes Fenster und die Wohnungstür. Ich glaube, ich werde langsam paranoid. Ich darf mich nicht in alles reinsteigern! Ich muss einen klaren Kopf bewahren. Denk nach, Matilda. Was hast du übersehen?

„Bist du das andere Mädchen auf dem Foto?!“

Ich starre auf den Bildschirm und warte. Unten erscheint dieses Symbol – die Fremde hat die Nachricht gelesen. Los! Antworte schon! Sie schreibt. Da kommt die Nachricht:

„Nein. Ich bin nicht das andere Mädchen. Aber sie verbindet uns.“

Das hilft mir nun wirklich nicht weiter. Das kann doch nicht sein. Wenn ich scheinbar etwas so Schlimmes getan habe, dann würde ich mich doch daran erinnern. Wenn ich herausfinde, wer das Mädchen ist, dann finde ich vielleicht auch heraus, wer sie ist und was ich angeblich getan habe. Aber wie?

Die Sonne geht mittlerweile schon auf. Ich muss also die ganze Nacht hier gesessen und gegrübelt haben. Nicht eine Stunde habe ich geschlafen und nicht eine Stunde ist vergangen, in der ich nicht überlegt habe, was ich als Nächstes tun soll. Ich muss herausfinden, wer das Mädchen und wer die Fremde ist. Aber ohne irgendwelche Erinnerungen an sie kann ich das nicht. Auch das Foto hilft mir da nicht weiter. Ich weiß ja nicht mal, wo das Bild entstanden ist. Meine einzige Möglichkeit ist es, der Fremden weitere Fragen zu stellen. Sie muss mir helfen mich zu erinnern. Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob das eine gute Idee ist. Aber es ist bisher meine einzige Idee. Ich darf nur nicht vergessen: Ich kann der Fremden nicht trauen! Sie könnte lügen! Sie will mir sicherlich nichts Gutes! Also los, Matilda, reiß dich zusammen und frag sie etwas. Etwas, was dich irgendwie voranbringt. Warum nicht einfach mit der Tür ins Haus fallen?

„Wer bist du eigentlich? Und woher sollte ich dich kennen?“

„Ach Matilda…Du erinnerst dich wirklich nicht?“

Nein, Fremde! Ich erinnere mich nicht, verdammt! Warum redet sie so um den heißen Brei! Ich flippe gleich aus!

„Nein! Ich weiß nicht, wer du bist! Ich weiß nicht, woher wir uns kennen sollten! Und ich weiß auch nicht wer dieses andere Mädchen auf dem Foto sein soll!“

„Matilda. Ich bin deine Mutter.“

WAS?! Okay. Nein, Stopp. Das muss eine Lüge sein! Ich stehe auf, schmeiße das Handy auf den Boden und laufe mit Fäusten geballt im Zimmer auf und ab. Ich bin so wütend und entsetzt! Und dennoch weiß ich nicht warum. Diese Fremde kann nicht meine Mutter sein. Ich bin nicht wirklich sicher, ob ich mich richtig erinnere, aber ich habe immer gedacht, dass meine Eltern schon vor einer ganzen Weile gestorben sind. Daher kann sie nicht meine Mutter sein. Oder spielt mir mein Gedächtnis einen Streich und ich erinnere mich ganz falsch? Schließlich kann es auch sein, dass nicht alles, woran ich glaube mich zu erinnern, wahr ist. Doch selbst wenn sie meine Mutter ist, was habe ich ihr so Furchtbares angetan, dass sie all das hier veranstaltet.

„Du bist nicht meine Mutter.“

„Und selbst wenn du meine Mutter bist, was willst du dann von mir?“

„Ich will, dass wir uns treffen. Dann kann ich dir alles erklären.“

Das ist Wahnsinn. Wenn ich darauf eingehe, dann wird sie mir sicher etwas antun. Sie will sich doch nur mit mir treffen, um meine Erinnerungen und mich zu manipulieren. Wenn sie hat was sie will, dann wird sie mich sicher töten. Aber meine Neugier ist geweckt. Ich will herausfinden, was hinter all dem steckt. Ich kann das hier nicht ruhen lassen.

„Okay. Wir können uns treffen. Aber an einem belebten Ort. Einem Café oder so.“

„Wieso? Hast du Angst, dass ich dir etwas antue?“

Ja eigentlich schon. Ich bin mir mittlerweile sogar ziemlich sicher, dass du mich töten willst. Warum sonst solltest du dich mit mir treffen wollen. Aber ich darf jetzt keine Schwäche zeigen. Sie muss denken, dass ich ihr vertraue, nicht, dass sie die Verabredung dann doch abbricht und ich gar nichts erfahre.

„Nein. Ich vertraue dir.“

„Also treffen wir uns in einem Café?“

„Ja, okay. Klingt super 😊

Warum schickt sie denn jetzt Emojis. Das ist doch alles verrückt.

„Wir treffen uns morgen. 15 Uhr. Ich schicke dir die Adresse zu einem Café. Komm dahin.“

Kurz nach ihrer letzten Nachricht bin ich eingeschlafen. Ich war so fertig, ich konnte meine Augen nicht mehr aufhalten. Jetzt ist es 9 Uhr vormittags am nächsten Morgen und ich bin auf dem Weg zum Hauptbahnhof. Die Adresse, die sie mir geschickt hat, ist nämlich überhaupt nicht hier in der Stadt, sondern etwa fünf Stunden Zugfahrt entfernt. So eine Scheiße. Ich laufe ihr doch sicherlich direkt in die Falle. Das ist Wahnsinn. Aber ich lasse mich nicht aufhalten. Ich muss die Wahrheit über mich, über sie, über dieses fremde Mädchen auf dem Bild und über meine Vergangenheit herausfinden. Das ist alles, was ich jetzt vor Augen habe. Jegliche Zweifel oder Ängste werden (teilweise) gekonnt von mir unterdrückt. Was rede ich mir da ein. Ich habe wahnsinnige Angst.

Nun bin ich endlich angekommen in dieser fremden Stadt. Ich gebe die Adresse des Cafés in mein Handy ein. Nur 28 Minuten zu Fuß – dann werde ich laufen. Während ich durch die Straßen irre, schießen mir so viele Gedanken durch den Kopf. Je näher ich dem Café komme, desto schlimmer wird es. Fange ich an zu zittern? Und ich glaube, ich schwitze am ganzen Körper. Das wird dann wohl die Angst sein, die mich nun komplett übermannt. Die grenzenlose Panik. Zum einen vor der Fremden, die behauptet meine Mutter zu sein. Zum anderen vor der Wahrheit über sie und über mich selbst.

Da vorne ist es. Stopp. Ich bleibe am Rande des Bürgersteigs stehen. Kurz vor der Straße. Ich starre zum Café rüber. Sollte ich lieber wieder gehen? War das hier eine dumme Idee? Ich nehme jetzt all meinen Mut zusammen und gehe dahin. Ich schaffe das.

Hinten. Am letzten Tisch sitzt jemand. Das muss sie dann wohl sein. Ansonsten ist niemand hier. Großartig, Matilda. Hier hast du also deinen belebten Ort. Das muss eine Falle sein. Ich laufe zu ihr rüber und bleibe vor ihr stehen. Was soll ich sagen? Setze ich mich einfach hin?

„Hallo, Matilda. Setz dich doch.“, sagte sie zu mir. Sie sieht schon älter aus. Oder wie so oft in Filmen gesagt wird: vom Leben gezeichnet. Jetzt verstehe ich, was damit gemeint ist. Sie sieht wirklich so aus, als hätte sie lange gelitten. Aber…wegen mir? Ich kenne sie ja nicht einmal. Mittlerweile habe ich Platz genommen. Ich lege meine Jacke ab, bestelle einen Kaffee und warte darauf, dass sie etwas sagt. Ich bekomme nämlich keinen Ton heraus.

„Es ist komisch, dich Kaffee trinken zu sehen. Als wir uns das letzte Mal sahen, da hast du das schwarze Zeug gehasst. Naja. Zeiten ändern sich, richtig?“ Erwartet sie, dass ich darauf wirklich antworte? Was ist das hier für ein Drumherumgelaber? „Okay. Ich sehe schon. Du bist wohl nicht zum Plaudern hergekommen.“ Ein kleines Lächeln entweicht ihr. Findet sie das Ganze hier witzig? „Du bist damals einfach verschwunden. Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Überall habe ich nach dir gesucht. Am Ende hat ein Bekannter dich gesehen und mir einen Tipp gegeben, in welcher Stadt ich dich finde. Nach wochenlanger Suche hatte ich dich gefunden. Aber du hast mich nicht erkannt.“ Sie muss zwischen jedem ihrer Sätze eine Pause machen. Ich sehe, wie ihre Augen feucht werden. Sie scheint mich wirklich zu kennen und sich tatsächlich gesorgt zu haben. „Als ich dich damals getroffen habe und ich bemerkte, dass etwas mit dir nicht stimmt, da habe ich überlegt, wie ich dir helfen könnte. Und deshalb musstest du heute auch hierherfahren. Ich will dir helfen, dich zu erinnern. Aber dafür müssen wir an einen anderen Ort. Vertraust du mir?“, sie schaut mich an. Mit ihrem verheulten, aber warmen Blick dringt sie direkt durch mich hindurch. Natürlich werde ich mitgehen, dafür bin ich hier. Aber ob ich ihr wirklich vertrauen kann, das weiß ich noch nicht. „Ja, ich gehe mit dir mit. Aber eine andere Frage habe ich noch. Wer ist denn nun das andere Mädchen auf dem Foto?“ „Auch das wird sich gleich klären. Dafür müssen wir zum Friedhof fahren.“

Zögernd und voller Zweifel folge ich ihr zum Parkplatz. Auf dem Weg zum Friedhof kommen wir an vielen Läden vorbei. Moment mal. Die Orte kenne ich doch. Da bei dem Bäcker war ich als Kind immer! Und da in dem Geschäft habe ich mit meiner besten Freundin versucht so viele T-Shirts wie möglich übereinander zuziehen! Und dort im Kino war ich mit – Charlotte. Ich kann mich erinnern! Charlotte! Ich muss mich zusammenreißen, damit ich nicht anfange zu weinen oder eher zu schreien. Ich weiß, wer das Mädchen auf dem Foto ist, beziehungsweise wer sie nicht ist. Und vor allem weiß ich, wer die Frau neben mir ist. Und sie ist ganz sicher nicht meine Mutter. Komm schon. Reiß dich zusammen. Sie darf es nicht merken. „Alles gut, Matilda? Du wirkst irgendwie komisch? Geht es dir nicht gut?“ Sie darf es nicht bemerken! „Nein, alles ist gut. Sind wir denn bald da?“ „Ja, gleich. Nur noch ein paar Minuten Fahrt.“ In diesen Minuten muss ich eine Waffe finden. Falls meine Erinnerungen stimmen, dann wird diese Frau überhaupt nichts Gutes wollen und für den Fall der Fälle sollte ich mich verteidigen können. Aber womit?

Die Sonne scheint langsam unterzugehen und taucht die Friedhofsmauern in ein unheimliches, schummriges Licht. Na großartig. Auf dem Weg zum Eingang sehe ich auch nichts womit ich mich verteidigen könnte. „Lauf mir einfach nach.“, sagt sie und betritt den Friedhof so, als wäre das hier nicht ihr erster Besuch. „Da vorne ist es.“ Wir laufen näher an einen der Grabsteine heran, doch ich bin nur damit beschäftigt, nach einer Waffe zu suchen oder einen anderen Ausweg aus dieser Situation zu finden. Doch als mein Blick den Grabstein trifft und meine schlimmsten Befürchtungen wahr werden, verfliegen jegliche Gedanken an Flucht. Die einzige Person, an die ich jetzt denken muss, ist Matilda. „Hier liegt MATILDA. Tochter und Freundin“, steht in wunderschön geschriebenen Buchstaben auf dem Grabstein.  Matilda. Wie ich es geahnt habe. Ich kann es nicht fassen. Sie ist wirklich tot. Ich bin nicht Matilda. Aber warum habe ich mich für sie gehalten? MATILDA ist tot. Und ich bin nicht sie. Ich bin Charlotte, ihre beste Freundin. Mit ihr aufgewachsen. Seite an Seite ein ganzes Leben lang. Nur, dass dieses viel zu kurz war. Als ich meinen Blick vom Grab abwende, blicke ich die Frau an, die mich hierhergebracht hat und sie hält mir eine Waffe vor die Brust.

„Ich habe dich großgezogen! Du warst immer wie eine Schwester für Matilda! Ständig hast du bei uns gespielt oder übernachtet. Du gehörtest zur Familie! Und als deine Eltern starben, haben wir dich gerne aufgenommen und uns um dich gekümmert!“ Ihr treibt es vor Wut und Trauer die Tränen in die Augen. Ich kann ihren Hass spüren. Und ich kann mich erinnern, dass sie immer wie eine Mutter für mich war. Die Waffe in ihrer Hand beginnt zu zittern und es fällt ihr sichtlich schwer weiterzureden. „Nachdem deine Eltern starben, bist du depressiv geworden. Du hast dich von uns abgekapselt, hast angefangen, dich zu ritzen und bist ständig weggelaufen. Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Doch Matilda war immer für dich da. Sie hat versucht, dir da raus zu helfen!“ Sie kommt mit jedem Satz näher. Die Waffe muss sie jetzt schon mit beiden Händen halten, so schwer drückt die Last auf ihr. „Dann. Irgendwann. Hat SIE sich das Leben genommen. Ich habe sie gefunden! IN DEINEN ARMEN HAT SIE GELEGEN! Bis heute weiß ich nicht, warum sie das getan hat. Aber ich glaube, dass du es weißt! Und dass du schuld daran bist! UND DU HÄTTEST TOT SEIN MÜSSEN!“ Sie steht nun direkt vor mir, die Waffe direkt auf meine Stirn gerichtet. „Und dann?! Meine Tochter nimmt sich das Leben und du verschwindest! Da finde ich dich und was machst DU!?! Gibst dich als MEINE TOCHTER aus?! Du spinnst doch völlig!“ „Ich habe Matilda nichts getan. Ich habe sie geliebt. Sie war immer wie eine Schwester für mich! Und ja du hast Recht, sie war immer für mich da. Aber sie hat all das nicht verkraftet.“ Auch meine Stimme beginnt zu brechen und mir treibt es die Tränen in die Augen. Niemals hätte ich Matilda etwas angetan. Aber Recht hat sie – ich habe Schuld an ihrem Tod und das erkenne ich erst jetzt. Doch wenn ich ihr das sage, dann wird sie mich sicher töten. „Was meinst du damit? Sie hat all das nicht verkraftet? Was soll das bedeuten?!“ Sie holt ein Taschentuch aus ihrer Jackentasche und wischt sich die Tränen vom Gesicht. Das ist meine Chance. Ich renne zurück Richtung Auto und höre den ersten Schuss. Ich zucke zusammen, sinke zu Boden und drehe mich kurz um. Sie ist nun schon längst losgerannt und richtet die Waffe bereits wieder auf mich. Da der zweite Schuss. Ich stehe auf und renne los. Moment! Da neben dem einen Grab! Eine Schaufel! Ich schnappe die Schaufel, drehe mich in Sekundenschnelle um und schlage ihr mit der Schaufel direkt auf den Kopf. Da ist der dritte Schuss schon längst gefallen. Direkt in meinen Bauch. Ich sinke zusammen, spüre wie das warme Leben aus mir rinnt. Ich drücke so fest es nur geht auf die Wunde und versuche mit all meiner Kraft nicht ohnmächtig zu werden. Ich zücke mein Handy und rufe die 112.

„Charlotte? Können Sie mich hören? … Charlotte?“ Mein Kopf dröhnt. Mein ganzer Körper tut weh. Es fällt mir schwer, meine Augen zu öffnen. Es ist unfassbar hell und ich kann kaum sehen. Außerdem sind die Geräusche hier im Krankenhaus viel zu laut. „Charlotte?“, fragt der junge Arzt vor mir schon wieder. „Ja, ich kann Sie hören.“ „Sehr gut. Sie hatten wirklich großes Glück. Wäre der Krankenwagen später eingetroffen, dann wären Sie vermutlich verblutet. Die Kugel war ein glatter Durchschuss und sie hat zum Glück keines Ihrer Organe verletzt.“ Der Krankenwagen…Die Kugel…Mein Körper schmerzt so sehr, ich kann mich kaum auf die Worte des Arztes konzentrieren. „Der anderen Frau, die bei Ihnen war, geht es auch gut. Sie hat eine Gehirnerschütterung, aber sonst ist alles in Ordnung. Sie hat uns erklärt was passiert ist. Nachdem Ihre Eltern verstorben sind, hat sie Sie großgezogen. Sie und ihre Tochter waren beste Freundinnen. Doch eines Tages nahm sich Ihre Freundin das Leben. Daraufhin sind Sie weggezogen. Als die Frau Sie in einer anderen Stadt fand, hielten Sie sich offensichtlich für ihre Tochter Matilda. Wir müssen Sie auch psychologisch untersuchen lassen. Noch bin ich mir nicht sicher, aber ich vermute, dass Sie an einer besonderen Form der dissoziativen Amnesie litten – der dissoziativen Fugue. Nach einem traumatischen Erlebnis verlassen die Betroffenen oft schlagartig ihr eigentliches Leben und fliehen an einen anderen Ort. In einigen Fällen fliehen sie dabei nicht nur vor ihrem Leben und dem Trauma, sondern auch vor ihrer eigenen Identität. Und Sie, Charlotte, Sie sind zu Matilda geworden. Vermutlich konnten Sie es nicht ertragen, dass sie starb und so konnten Sie Matilda am Leben erhalten.“ Der Arzt rückt ein Stück näher an mich heran. Er sieht wirklich sehr freundlich aus. Aber ich verstehe gar nicht wovon er da spricht. „Eines müssen Sie mir bitte noch erklären, Charlotte. Warum hat sich Matilda sowas Schlimmes angetan?“ Verdutzt blicke ich den freundlichen Arzt an.

„Es tut mir leid. Aber ich glaube Sie müssen mich verwechseln. Ich kenne gar keine Charlotte oder Matilda.“

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