LinaBriegerFlüsterasphalt

Wohl dir, der du in einer glücklichen Familie aufwächst und behütet groß wirst. Doch wehe, du weißt dieses Glück nicht zu schätzen.

Denn jener, der nur die beschissene Einsamkeit kennt, bleibt klein. Bis er erkennt, dass er dein Glück einfordern muss, will auch er groß werden.

*

Das Mädchen hielt den Jungen ganz fest im Arm. Der Junge zitterte und schluchzte lautlos. Das Mädchen vergrub ihr Gesicht in seinen strubbeligen Haaren, atmete tief ein und aus, bis sich ihr ruhiger Herzschlag auf das hektische Herzklopfen des Jungen legte und er sich langsam wieder beruhigte. Ihr Pflegevater hatte sich erneut einer Flasche Korn hingegeben, die beiden Kinder angebrüllt, ihnen das Gefühl gegeben, Idioten zu sein, sie durch die Wohnstube geschubst, bis er das Gleichgewicht verlor und stolperte. Und sie sich in ihr winziges gemeinsames Zimmer flüchten konnten.

Später, als es endlich still in der Wohnung wurde, schlichen die beiden leise aus dem Raum, um in der Küche nach etwas zu Essen zu suchen. Feste Essenzeiten kannte dieser Ort nicht. Auf dem Rückweg in ihr Zimmer standen sie im Türrahmen und blickten vorsichtig ins Wohnzimmer. Das Mädchen flüsterte mit ernstem Ton und versteinerter Miene: „Der Scheißkerl wird dir nichts mehr tun, er wird uns nichts mehr tun!“ Dort lag ihr Pflegevater besinnungslos in seinem Sessel, so besinnungslos, dass er am nächsten Morgen überhaupt nicht mehr aufwachen sollte.

Dies war nach dem Unfalltod seiner Eltern die dritte Pflegefamilie in zwei Jahren, die hinter dem ruhigen, schmächtigen Jungen lag. Er erlebte die Zeit wie in einer Blase, nichts und niemand kam richtig an ihn heran und still ließ er alles übers sich ergehen. Doch dieses Mal war es anders, er wollte nicht mehr einfach weitergereicht werden. Nicht ohne sie. Nicht ohne dieses Mädchen mit ihren langen dunklen Haaren, den großen braunen Augen und dem  dreckig-herzlichen Lachen, dass ihm selbst nach einer Prügeleinlage spät am Abend wieder Hoffnung schöpfen ließ. Seine Pflegeschwester. Sie war so viel stärker als er. Die naiven und unschuldigen Träume eines Kindes hatte sie bereits hinter sich gelassen. Stattdessen wusste sie bereits mit ihren zehn Jahren ganz genau, wie man Schlaftabletten gezielt zur Beseitigung eines großen Übels einsetzen konnte. Doch sie blieb nicht an seiner Seite – zumindest vorerst. Nach dem Tod des Pflegevaters erhielten beide neue Familien, erlebten neue Dramen und fanden doch wieder keine Heimat. Und sein Herz brach erneut.

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Die letzte Arbeitswoche lief wahnsinnig gut. Zwei neue Abschlüsse mit einem sechsstelligen Auftragsvolumen, ein Schulterklopfer seines Chefs zum Feierabend. Julian weiß, wie man seinen Verhandlungspartner charmant und kompetent in seine Richtung zieht. Zwei Jahre nach Abschluss seines BWL-Studiums ist Julian so richtig in der Berufswelt angekommen. Damit sollte seiner Beförderung zum Senior Sales Manager im kommenden Quartal nichts mehr im Wege stehen. Mit 25 Jahren gehört er zu den jüngeren in der Firma, doch seinen Kollegen begegnet er inzwischen auf Augenhöhe. Das Gehalt und sein Ansehen passen.

Julian zieht auf den letzten 1.000 Metern seiner Laufrunde durch den Grünzug seiner Heimatstadt Bielefeld noch einmal das Tempo an. Der Frühling offenbart sich inzwischen an vielen Stellen. Viele verschiedene Vogelstimmen fluten den Waldrand am einbrechenden Abend und bereits in wenigen Wochen wird einem der Blick in den Wald durch blühende Hecken und Büsche verwehrt. Julian fühlt sich gut. Energiegeladen. Sein drahtiger Körper dankt ihm die regelmäßigen Sporteinheiten, die Atemzüge wechseln rhythmisch mit seinen großen Laufschritten.

Hier in der Natur fühlt sich Julian wohl und beim Laufen kann er seinen Gedanken nachgehen. Gedanken, die ihn immer wieder zu ihr führen. Seinem großen Glück.

Morgen würde er Leonie endlich wiedersehen. Nach ihrer Seminarwoche in München, wollte er sie mittags vom Bahnhof abholen. Leonie arbeitet in der Personalabteilung einer großen Modekette und kümmert sich um die landesweiten Schulungen der neuen Mitarbeiter. Mindestens die Hälfte des Arbeitsjahres war sie unterwegs. Umso mehr freut er sich darauf, sie wieder bei sich zu haben.

Nach Büroschluss hatte er bereits einen farbenfrohen Frühlingsstrauß mit Hyazinthen gekauft und sie in seiner Wohnung in eine Vase gestellt. Ihre Lieblingsblumen. Sein Lieblingsmensch. Leonie und Julian lernten sich vor einem Jahr auf der WG-Party eines Bekannten kennen und waren schnell unzertrennlich.

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Sie unterhielt sich mit zwei ehemaligen Kommilitonen von Julian, doch ihr Blick, wanderte an diesem Abend immer wieder zu ihm. Nur flüchtig, dass es ihm anfangs kaum auffiel.   Später trafen sich ihre Blicke häufiger, sie strich sich dabei ihre langen Haare aus dem Gesicht und schaute ihn dann immer länger und leicht provokant mit ihren braunen Augen an. Nicht, ohne zwischendurch lachend in das Gespräch mit den beiden Jungs zurückzukehren. Verdammt, in diesem Moment war es bereits um ihn geschehen, und als sie nur zwei Stunden später in einem der WG-Zimmer am Ende des Flurs gemeinsam verschwanden, war die Sache mit den beiden klar. Kein einmaliges Aufeinandertreffen.

Sie verließen die Party gemeinsam und mit dem Tempo, in dem sie sich an diesem Abend näher gekommen waren, sprinteten sie in den folgenden Wochen durch ihre Beziehung. Bereits nach einem Monat zog Leonie bei ihm ein. Seine Frau. Vor zwei Monaten hatten die beiden dann auf Langeoog geheiratet. Nur sie zwei und die Standesbeamtin. Seine Eltern waren aufgrund der Schnelligkeit, mit denen die beiden sich in ihr Abenteuer stürzten nicht begeistert, Julian, du bist erst 25 Jahre alt, ihr habt noch so viel Zeit. Aber genau diese Schnelligkeit und Kompromisslosigkeit fand er aufregend und genau richtig. Leonie lebte vollkommen im Hier und Jetzt, er kannte kaum ein Detail ihrer Vergangenheit, dafür schenkte sie ihm umso mehr von ihrer Präsenz und Aufmerksamkeit, wenn die beiden zusammen waren. Ihr lautes Lachen erfüllte seit einem Jahr die Wohnung und sein Herz. Er war glücklich. Nach ihrer Rückkehr aus München wollten sich die beiden nun um die Planung für ihren Kanadaurlaub im Sommer kümmern.

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Bei dieser Erinnerung an ihr erstes sehr intimes Treffen und die folgendem Monate im Zeitraffer lächelt er und biegt mit seinen letzten Laufschritten in seine Wohnstraße ein.

Die Haustür zum Mehrfamilienhaus steht offen und Julian rennt direkt in den Hausflur hinein. Die Treppen bis in den dritten Stock nimmt er noch einmal in einem explosiven Tempo. Durchziehen bis zum Schluss.

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Einzig das Licht des Laptopmonitors zeichnet sich an den kahlen Zimmerwänden ab. Die Raufasertapete hatte bereits bessere Zeiten erlebt, im Grunde genommen der ganze Raum. Verlebt und ohne Liebe eingerichtet. Einfach gar nicht. Eine Matratze, zerknüllte Bettwäsche, die Klamotten achtlos in einem Regal verstaut.

Dies alles würde bald der Vergangenheit angehören. Sein gemachtes Nest erwartete ihn bereits. Die Vorbereitungen der letzten Monate waren abgeschlossen, der finale Köder ausgelegt, die Kamera ausgerichtet. Bereits in wenigen Stunden würde er auch den letzten Schatten seiner Vergangenheit endlich mit in seine Arena einladen. Das Spiel hatte begonnen.

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Auf der Fußmatte vor Julians Wohnung liegt sein iPhone. Reflexartig tastet er nach der kleinen Tasche seiner Laufhose und fühlt doch nur den sich unter dem Stoff abzeichnenden Wohnungsschlüssel. Sein iPhone kann es schließlich nicht sein, zu seinen Laufrunden nimmt er es nie mit. Es musste noch auf dem Küchentisch liegen.

Er schließt die Wohnungstür auf, greift gleichzeitig nach dem Smartphone und blickt noch immer irritiert auf das Display. Der Bildschirm aktiviert sich über die FaceID und gibt den Blick frei auf einige Apps. Es erscheinen nur die üblichen vorinstallierten Standard-Apps des Herstellers. Das kann nicht meins sein oder hat sich sich das verdammte Ding auf seine Werkseinstellungen zurück gesetzt, Julians Puls, bereits erhöht vom Laufen, legt noch eine Schippe drauf. Doch in der Küche angekommen, liegt sein iPhone wie erwartet auf dem Tisch. Julian pustet erleichtert aus. Zum Glück! Er schlüpft aus seinen verschwitzten Laufsachen und springt unter die Dusche. Um das fremde Smartphone konnte er sich später noch immer kümmern, vermutlich hatte es sein nerdiger Nachbar Thorsten aus der Dachgeschosswohnung verloren. Als Daytrader arbeitete er mit verschiedenen Smartphones um die Kurse dieser Welt immer aktualisieren zu können.

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Die Kamera gibt den Blick auf den Küchentisch frei und zeigt beide Smartphones. Noch hat er den Köder also nicht komplett geschluckt. Noch kein Drama. Doch zappelt er bereits an seiner Angel. Wird diesem Glückspilz erst einmal bewusst, dass er dieses Spiel verlieren wird, würde er die Leine langsam einholen und genießen. Geduld, er brauchte einfach nur Geduld…

*

Mit noch nassen Füßen steht Julian vor dem Kühlschrank, schnappt sich einen Smoothie und setzt zu einem großen Schluck an. Der nächste Griff geht wieder zum fremden Smartphone und der Homebildschirm erscheint.

Vor der Tür war es ihm gar nicht aufgefallen, aber warum konnte er den Bildschirm via FaceID starten? Die Neugier siegt und bevor er das iPhone zu Thorsten bringen wollte, öffnet er die Foto-App.

Was zum Teufel… Julian starrt auf die Fotos. Er sieht sich nach einer Laufrunde beim Ausdehnen vor dem Haus. Eine flüchtige Aufnahme. Genauso wie das folgende Foto beim Einkaufen im Supermarkt um die Ecke. Schnelle Aufnahmen mit dem Handy. No Filter. Beim Anblick der nächsten Fotos wird im schlecht. Leonie und er am Baggersee vor der Stadt. Es war ein Sommerfoto, sie in Bikini und er in einer blauen Shorts und weißem T-Shirt. Das Selfie wurde von Leonie gemacht. Er sieht sie als lachendes Paar.

Und wäre diese Situation hier in seiner Küche mit diesem fremden Smartphone und den vielen Fotos mit seinem Gesicht nicht schon verrückt genug, so konnte er sich in diesem Moment nicht an diese Situation mit Leonie erinnern. Ihm wird schwindelig. Weitere Bilder zeigen ihn dann wieder bei irgendwelchen Alltagsdingen. Ein Foto im Coffee Store, beim Verlassen seiner Firma.

Was für ein kranker Scheiß…

In den Kontakten findet sich keine einzige Nummer. Und auch sonst befinden sich keine weiteren Daten auf dem iPhone.

Julian greift nach seinem Smartphone und wählt Leonies Nummer. Es klingelt durch, doch Leonie nimmt nicht ab. Er tippt mit zitternden Daumen eine WhatsApp-Nachricht an Leonie:

Ruf mich bitte an!

Die Nachricht wird zugestellt und Julian starrt noch einige Sekunden auf das Display, bis ihm klar wird, dass Leonie gerade nicht online ist. Dann stürmt er aus der Wohnung und nimmt immer zwei Stufen auf einmal, um in den nächsten Stock zu seinem Nachbarn zu gelangen. Wildes Klingeln bringt Thorsten nicht unbedingt schneller an die Tür.  Als Daytrader verbringt er den Großteil seiner Zeit in seinen eigenen vier Wänden. Wenn Julian abends von seinen Laufrunden oder einem Restaurantbesuch zurückkam, konnte er das Flimmern der Monitore – es mussten definitiv mehrere sein – durch die Fensterscheiben sehen.

„Ist das dein Smartphone?“ Julians Stimme ist lauter und greller als beabsichtigt, er streckt seinem Nachbarn das Smartphone entgegen, kaum hat dieser die Tür geöffnet.

„Nö. Meins hängt am Ladekabel.“ Mit einer gelangweilten Armbewegung zeigt Thorsten über seine Schulter in den Flur, wo tatsächlich ein iPhone über ein USB-Kabel mit der Steckdose verbunden ist. Den hektischen und aggressiven Ton von Julian komplett ignorierend.

„Was machst du denn für nen Stress. Was ist denn los?“

„Entschuldige, ich habe das Smartphone vor meiner Tür gefunden und dachte, dass es dir gehört.“

„Wenn du niemanden dafür findest, nehm ich es wohl! Aber jetzt muss ich wieder. Die Börse in Frankfurt schließt gleich. Bis dann.“ Thorsten grinst träge und schließt die Tür.

„Ja, bis dann.“

Was für ein merkwürdiger Typ. Julian steckt das iPhone in seine Jogginghosentasche und geht die Stufen langsam herunter.

Wieder in seiner Wohnung zeigt ihm sein Smartphone auf dem Küchentisch eine Nachricht von Leonie an.

Sry, kann gerade nicht. Melde mich. LU L.

Bestimmt noch ein Meeting am Abend ihres letzten Arbeitstags in München. Typisch Leonie. Immer busy und in ihrem Job aufgehend. Was er sonst so an ihr liebt, ist ihm jetzt zu viel. Warum rufst du nicht einfach an? Und jetzt? Zur Polizei? Sein Kopf dröhnt, kein Belastungskopfschmerz, wie er ihn schon so manches Mal nach harten Laufeinheiten erlebt hatte. Nein, hier in seiner Küche mit dem fremden Smartphone in der Tasche und seinem eigenen Smartphone in der Hand ohne Verbindung zu Leonie, ist es ein verzweifelter und pochender Schmerz, der sich über seiner Stirn ausbreitet.

Das Smartphone in seiner Hosentasche vibriert und Julian zuckt zusammen.

Eine Nachricht. Die Nummer des Absenders kommt ihm bekannt vor, es ist Leonies Nummer. Aber warum auf dem fremden Smartphone?

Du hast etwas, was mir gehört. Und ich habe etwas, was du zurück willst.

Die drei blinkenden Pünktchen auf dem Display zeigen an, dass es das noch nicht gewesen ist und der Absender noch eine weitere Nachricht verfasst. Es folgt ein Datei. Ein verwackeltes Video mit einer Nahaufnahme seines Lieblingsmenschen. Das Video war nur einige Sekunden lang. Und es zeigt Leonie, die mit rot unterlaufenen Augen und Rotz aus der Nase laufend in die Kamera brüllt: „Hilf mir Julian!“ Er hört die Panik in ihrer Stimme und sieht ihr sich windendes Gesicht. Dann stoppt das Video und eine weitere Nachricht geht ein.

Komm heute um 23 Uhr zum Bahnübergang Quernheimer Strasse. Allein, keine Polizei. Nur dann siehst du deine Freundin wieder und ich bekomme, was mir gehört.

Zuviel, die letzten zwei Stunden sind ihm einfach zu viel. Was hat diese Nachricht zu bedeuten? Leonie ist in München. Gerade erst hat er doch ihre Nachricht gelesen. Aber natürlich könnte sie auch sonst wo sein. Was soll er verdammt noch einmal tun? 23 Uhr. Das ist bereits in knapp drei Stunden.

*

Genau hier wollte er ihn haben. Die Nachrichten und das Video seiner Freundin haben gesessen. Die installierte Kamera in der Küchenlampe zeigt Julian durch die Küche tigern. Manchmal gerät er aus seinem Blickfeld. Dann wieder sieht er wie sich Julian die Haare rauft, sich an den Tisch setzt, wieder aufsteht, erst auf das eine und dann auf das andere Display blickt, schnauft und „Fuck!“ ruft. Ja, denk nach, was du nun tun sollst. Aber heute hast du ein Treffen mit deinem Schicksal und du hast keine Ahnung, welche Schmerzen es für dich vorgesehen hat.

*

Julian versucht noch mehrfach Leonie anzurufen und ihr zu schreiben. Doch jeder Anruf prallt an ihrer Mailbox ab und die zehn weiteren Nachrichten – die sich für ihn irgendwo zwischen panisch und stalking-mäßig anfühlen – bleiben allesamt unbeantwortet. Ich muss die Polizei anrufen. Er will bereits den Notruf wählen, als ihm ein Gedanke durch den Kopf schießt: Warum genau dieser Treffpunkt?

Der Bahnübergang an der Quernheimer Straße liegt etwa dreißig Minuten außerhalb der Stadt an einer Waldlichtung. Die Regionalbahn schlängelt sich hier durch den ostwestfälischen Wald. Mit einem Schlag wird Julian in die Vergangenheit katapultiert. Denn erst seit 20 Jahren befindet sich dort ein beschrankter Bahnübergang. Und dies hier musste etwas persönliches sein.

Kurz zuvor gab es an diesem Ort einen schrecklichen Unfall zwischen einer Bahn und einem Auto, bei dem der fünfjährige Julian auf der Rückbank saß. Bei all der Aufregung um das Handy, die Fotos und die Sorge um Leonie hat er die Bedeutung des Treffpunkts für ihn komplett außer Acht gelassen. Hier hatte Julian vor zwanzig Jahren seine Eltern verloren. Bei dem Unfall wurde Julian schwer verletzt und blieb für viele Wochen im Krankenhaus. Er litt anschließend unter einer retrograden Amnesie, Julian konnte sich an die Jahre vor dem Unfall und den Unfall selbst nicht mehr erinnern.

Alles, was er über den Unfall wusste, hatten ihm seine Adoptiveltern, die ihn direkt nach seinem Krankenhausaufenthalt zu sich nach Hause nahmen, erst viel später erzählt. Er wuchs behütet bei ihnen auf und sie kümmerten sich gut um ihn. Und doch gab es Nächte, in denen er in seinen Träumen dort war. In der Dunkelheit. Am Bahnübergang. Erinnerungsfetzen, die sich langsam in sein nächtliches Kopfkino einnisteten.

Im Traum hatten sein Eltern im Auto gestritten. Er hielt sich die Ohren zu. Dann war da ein grelles Licht und Lärm, der noch viel schlimmer war, als zwei Erwachsene, die sich anbrüllten. Ein Aufprall, ein Herumwirbeln, ein Schmerz, wie er ihn noch nicht zuvor erlebt hatte und danach Stille. Alles lag in einem Nebel, Julian wusste, dass er träumte und versuchte krampfhaft seine Augen zu öffnen. Doch bei diesem Versuch blickte Julian durch das zersplitterte Autofenster und sah seine Mutter viele Meter entfernt auf dem Asphalt liegen. Sie flüsterte ihm etwas zu, doch Julian konnte es nicht verstehen. Er versuchte näher zu ihr zu gelangen, doch er konnte sich nicht bewegen. Auch nach dem Aufwachen sollte er jedes Mal noch einige Minuten reglos im Bett verharren, bis er sich wieder von den Zehen aufwärts bewegen konnte. Die Worte seiner Mutter waren undeutlich, brabbelnd, vermischt mit Blut. Und das Gefühl, dass da noch jemand oder etwas neben ihm auf der Rückbank war, aber nun nicht mehr dort saß. Dann wachte er auf. Jedesmal. Nie hatte er die Worte seiner leiblichen Mutter entschlüsseln können. Nie hatte er mit jemandem über diesen immer wieder kehrenden Alptraum gesprochen. Und doch hatte sich nun irgendein kranker Typ genau diesen Treffpunkt seiner Vergangenheit ausgesucht.

*

Es ist kurz vor 23 Uhr. An diesem Straßenstück gibt es keine Beleuchtung, der Mond scheint von einem wolkenlosen Himmel, doch die Bäume werfen dunkle Schatten auf den Bahnübergang. Julian fährt an den Straßenrand, schaltet den Motor aus und lässt das Standlicht an. Er hat sich einen Hammer unter die Jacke gesteckt. Einen schnöden Hammer. Was anderes ist ihm nicht eingefallen. Es ist wie ein schlechter Film. Scheisse, was mache ich hier…“, Julians Drang doch die Polizei zu rufen und einfach umzudrehen ist stark. Noch vor vier Stunden hatte er sich während seiner Laufrunde für seine beiden Deals in der Firma gefeiert und jetzt steht er an einem dunklen Bahnübergang und wartet auf… ja, auf was eigentlich? Die Sorge um Leonie schmerzt ihn körperlich, ihr panischer Gesichtsausdruck in der Nachricht lässt ihn hier ausharren. In was auch immer er hier hineingeraten ist, er will da zusammen mit Leonie wieder heraus.

Aus dem Wald tritt eine Gestalt, die Kapuze ins Gesicht gezogen. Ein Mann. Aber keine Leonie. Seine Leonie.

„Steig aus!“ Der Mann spricht ruhig, aber bestimmt.

Julians Herz schlägt inzwischen so schnell, dass er sein Blut in den Ohren pochen hört, auch die Kopfschmerzen sind noch da und die Worte des Mannes dringen mit Verzögerung zu ihm durch. Aussteigen, ich soll aussteigen.

Julian öffnet mit zitternden Händen die Autotür und tritt aus dem Auto, den Körper noch schützend hinter der geöffneten Fahrertür.

„Zeig dich!“

Der Mann ist bleibt etwa fünf Meter vor ihm stehen, seine Arme eng am Körper liegend. Er ist schlank und hat ungefähr Julians Größe, bei einem Kampf wären seine Chancen vielleicht gar nicht so schlecht. Julian lehnt die Autotür an und steht dem Typen nun gegenüber.

„Wer bist du? Und wo ist Leonie?“ Seine Stimme klingt gar nicht nach ihm. Zitternd und voller Angst.

Sein Gegenüber bleibt still, Julian meint sogar, ihn verächtlich schnaufen zu hören. Dann nimmt er seine Kapuze herunter.

„Du fragst mich, wer ich bin? Einmal darfst du raten!“

Julians Beine geben nach und er muss sein Gleichgewicht wiederfinden. Er sieht in das Gesicht seines Gegenübers. Er sieht sich.

„Du?“ Julian wird alles klar.

„Du hast mich in dieser Nacht allein gelassen und dein Leben weitergelebt, als hätte es mich nie gegeben!“

„Ich konnte mich an nichts erinnern. Hätte ich gewusst, dass du auf der Rückbank gesessen hast…“

„Halt den Mund. Jetzt rede ich. Ihr habt mich einfach dort liegen lassen. Von unseren nichtsnutzigen Eltern hatte ich auch nichts anderes erwartet. Tja, sie waren dann ja auch tot. Schlechtes Karma. Aber von dir? Zwei Tage bin ich halb erfroren durch den Wald geirrt, bis mich jemand am Straßenrand fand und einen Krankenwagen rief…“

Der Mann, den Julian seid zwanzig Jahre nicht mehr gesehen hatte, der ihm so ähnlich und doch so fremd ist, kommt langsam auf ihn zu.

„…wochenlang habe ich nicht gesprochen. Sie wussten nicht, wer ich bin. Dich hatten sie wohl in irgendeine Spezialklinik gebracht, unsere Eltern waren tot. Diese beschissenen Leute vom Jugendamt haben es einfach auf die Reihe bekommen. Zu blöd, dass sich unsere Erzeuger dazu entschlossen hatten, uns ohne Geburtsurkunde in einem Loch großzuziehen. Es durfte uns eigentlich gar nicht geben. Und doch haben wir beide diese Nacht überlebt…“

Julian merkt, dass ihm Tränen über die Wangen laufen und er starr vor Panik wird.

„…nur das mein Leben weiterhin einem Alptraum glich. Eine Pflegefamilie reihte sich an die nächste, die zwischenzeitlichen Heimgruppen waren die Hölle. Und du bist mit deinen neuen Eltern auf einem Pony in den Sonnenuntergang geritten. Aber damit ist nun Schluss. Jetzt nehme ich dir alles!“

„Bitte, wir können doch darüber reden. Wo ist Leonie? Tu ihr nichts!“

„Du hast es immernoch nicht gecheckt. Du glaubst gar nicht, was Leonie schon alles mit mir getan hat und was ich noch mit ihr machen werde. Was wir zusammen erlebt haben. Sie ist die einzige, die mich versteht. Ich liebe ihr lautes Lachen. “

In diesem Moment weiß Julian, dass er diese Nacht nicht überleben wird. Das fremde Smartphone. Das Foto am Baggersee. Er konnte sich nicht an diese Situation erinnern, weil er tatsächlich nicht dort war. Leonie war so schnell in sein Leben getreten. Zu schnell. Zu perfekt. Zu einfach. Zu kompromisslos.

Sein Herz ist bereits gebrochen, noch bevor sein Zwillingsbruder mit einigen schnellen Schritten auf ihn zustürmt und Julians Herzschlag mit mehreren Messerstichen in dieser Nacht beendet.

Ihm wird schwarz vor Augen. Und dann ist da wieder seine Mutter, die auf dem Straßenasphalt liegt. Und jetzt hört er ihr Flüstern: „Wo ist dein Bruder? Wo ist Jonas?“

*

Der Zug fährt ein, die Gleise kreischen unter dem tonnenschweren Gewicht der abbremsenden Waggons. Er wartet mit einem Strauß Hyazinthen am Bahnsteig.

Leonie steigt aus dem Zug und ihr Blick findet sein Gesicht. Sie springt in seine Arme, der Blumenstrauß fällt zu Boden: „Was für hässliche Blumen. Und hast du es zu Ende gebracht?“. Jonas grinst seine Leonie an, nickt und drückt sie fest an sich. Der perfide Plan seiner Pflegeschwester ist aufgegangen. Und sein verdammtes großes Glück zum Greifen nah.

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