LauraFollower Fünftausend

Die Sonne fiel auf ihr glänzendes blondes Haar. Die feinen langen Wimpern schimmerten golden, als sie ihr Gesicht leicht zum Fenster neigte. Obwohl sie sie niemals tuschte, waren sie so perfekt. Genauso wie der ganze Rest von ihr. Ihre mit Sommersprossen gesprenkelte Haut duftete so blumig wie der Frühling, ihr herzförmiges Gesicht glich dem einer zarten Elfe und ihr Haar war so wundervoll gelockt, wie das eines Engels. Sie war vollkommen. Vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen. Alle liebten sie. Wie sollte es auch anders sein? Sie war klug. Hübsch. Charmant. Einfach hinreißend. Elisa Wolf war eine Göttin.
Ein leises Vibrieren riss Pia aus ihrer Trance. Unauffällig schob sie ihren Schreibblock beiseite und zog ihr Handy nach unten auf ihren Schoß. Herr Winkler hatte nichts bemerkt und fuhr mit dem Deutschunterricht fort. Natürlich war ihm nichts aufgefallen. Wie denn auch? Niemand achtete auf Pia. Für die meisten Leute war sie Luft. Ein durchschnittliches, achtzehnjähriges Mädchen mit durchschnittlichen Noten, einem unauffälligen Äußeren und einer langweiligen Persönlichkeit.
Pias Augen wanderten unter den Tisch zu ihrem Handy-Display, wo sie in der oberen linken Ecke das kleine weiße Kamera-Symbol entdeckte. Sie spürte, wie ihr Herz vor Freude schneller schlug. Mit dem Finger fuhr sie über das Display und berührte schließlich das Instagram-Symbol. Instagram. Eine App, mit der Pia früher eigentlich nie so wirklich etwas hatte anfangen können. Ein soziales Netzwerk, in dem sich die Menschen präsentierten. Sie veröffentlichten hübsche Fotos von sich und sammelten auf ihren Profilen unzählige Follower und digitale Herzen. Das taten sie, um anderen Menschen zu gefallen. Um Bestätigung zu bekommen. Für ihr gutes Aussehen, ihr spannendes Leben und ihre tiefgründigen Gedanken. Diese narzisstische Welt hatte Pia eigentlich immer verabscheut. Sie passte dort einfach nicht hinein – sie mit ihrem nichtssagendem Leben, ihrer Unscheinbarkeit und ihrer langweiligen Persönlichkeit. Eigentlich. Das hatte sich vor drei Monaten geändert. Sie wollte einfach dazugehören. Gesehen werden. Gehört werden. Also hatte auch sie sich ein Profil mit hübschen Bildern eingerichtet. Es hatte gerade einmal drei Monate gedauert, da folgten ihr 4.999 Leute auf Instagram, die täglich ihre schönen Bilder und ihre nachdenklichen Texte mit Herzchen markierten. Mit jedem Herzchen und jedem Kompliment unter den Fotos wuchs Pias Selbstbewusstsein. Ein Selbstbewusstsein, das nur in der digitalen Welt der sozialen Medien existierte, denn in der echten Welt war Pia einfach nur sie selbst. Das schüchterne, ruhige Mädchen, an das sich später in ein paar Jahren niemand ihrer Klassenkameraden mehr erinnern würde.
Pia öffnete das letzte Bild, das sie gepostet hatte. Sie wusste, dass der weiße Bikini auf der honigbraunen Haut bei ihren Followern gut ankommen würde. So war es immer. Nackte Haut und hübsche Gesichter funktionierten nun mal am Besten. Fast zweitausend Herzen nach gerade einmal vier Stunden. Pia hatte Mühe, ihre Freude zu verstecken und verbarg ihr breites Lächeln hinter ihrer Hand. Sie sah nach, was die Leute unter ihrem Bild kommentiert hatten. Wie immer waren es fast ausschließlich Komplimente. Sie schrieben, wie hübsch sie war, dass sie eine Model-Figur hatte und fragten, woher sie ihren Bikini hatte. Pia ergötzte sich an jedem einzelnen Kommentar und antwortete jedem einzelnen. Bevor sie anfing, jedes Kompliment mit einem Herzchen zu markieren, scrollte sie durch die gesamten Kommentare. Sie war auf der Suche nach einem bestimmten. Nach einer Weile fand sie ihn. Endlich. „Schöne Frau … wie immer.“ Hinter dem Kommentar standen ein zwinkernder Smiley und ein Herz. Der Name des Users war MephisTales. Niemand machte Pia so viele Komplimente, wie MephisTales. Er hatte bisher jedes einzelne ihrer fast fünfzig geposteten Bilder kommentiert. Pia wusste nicht genau, wer sich hinter dem Namen verbarg, aber es schien ein Mann zu sein. Immer wieder öffnete sie sein Profil und durchstöberte es nach neuen Fotos. Er gab nur wenig von sich preis, offenbarte aber eine Affinität für Literatur und eine Vorliebe für Sonnenuntergänge. Auf seinem Profilbild konnte man ihn nur schemenhaft erkennen. Ein gut gebauter Mann. Den Blick über seine Schulter aufs Meer gerichtet. Keine neuen Bilder. Jedenfalls keine, die Pia noch nicht kannte. Sie wunderte sich schon lange darüber, dass er auf jedes ihrer Bilder reagierte, aber bisher nicht auf den „Folgen-Button“ geklickt hatte. Das bedeutete, dass er ihr Profil ständig aufrufen musste, um ihre Bilder zu sehen, weil sie nicht in seinem Nachrichten-Feed erschienen. Einmal, vor ein paar Wochen, hatten sie sich sogar Nachrichten geschrieben. Er hatte ihr geschrieben, wie wunderschön sie war und was sie für ein großes Talent hatte, sich selbst in Szene zu setzen. Pia hatte ihm geantwortet, dass sie viele solcher Nachrichten bekam und hatte begonnen, ein bisschen mit ihm zu flirten. In ihrer letzten Unterhaltung hatte er ihr geschrieben, dass er sie gern küssen würde. Pia hatte sich sehr geschmeichelt gefühlt und ihm geantwortet, dass auch sie ihn gern küssen würde und dass sie hoffte, dass sie sich eines Tages auch im richtigen Leben begegnen würden.

Pia überlegte nicht lange. Sie hatten schon eine Weile nicht mehr geschrieben und sie genoss es, ein bisschen mit ihm zu spielen. „Hey“, schrieb sie. „Dir scheinen ja immer noch alle meine Bilder zu gefallen. Sag mal, warum folgst du mir dann nicht einfach? Dann verpasst du nichts von mir.“ Bevor sie die Nachricht abschickte, setzte sie noch einen zwinkernden Smiley dazu.
Plötzlich wurde sie von der dominanten Stimme ihres Deutschlehrers aus ihren Gedanken gerissen.
„… eine der bedeutsamsten, wenn nicht sogar DIE bedeutsamste Tragödie der deutschen Literatur. Faust erzählt die Geschichte eines Mannes, der mit seinem eigenen Leben unzufrieden ist und sich mit dem Teufel einlässt, um seine eigenen Begierden zu stillen. Er zerstört damit das Leben eines unschuldigen jungen Mädchens.“
Herr Winkler ging durch die Reihen, während er weiter sprach. „Jetzt seid ihr dran. Ihr habt eine halbe Stunde Zeit. Lest das Kapitel Straße I – Begegnung mit Margarete und bearbeitet die Aufgaben auf dem Arbeitsblatt.“ Herr Winkler drehte sich wieder um und schritt langsam wieder auf seinen Schreibtisch zu. Er sah gut aus. Das wusste er auch. Praktisch jedes Mädchen aus dem Deutsch-Leistungskurs stand auf ihn und einige hatten sich nur seinetwegen für den Kurs entschieden. Er war jung, vielleicht Mitte oder Ende dreißig, hatte braunes Haar und ein hübsches Gesicht. Seine charmante und Kumpel-mäßige Art machte ihn zum Lieblingslehrer vieler Schüler. Auch Pia mochte ihn, wenn auch eher wegen seines interessanten Unterrichts in ihrem Lieblingsfach. Ansonsten nahm auch er sie nie wirklich wahr, obwohl sie gut in Deutsch war. Sehr gut sogar, das konnte sie sich ohne falsche Bescheidenheit eingestehen. Herr Winkler hatte ihr Talent erkannt und gab ihr für ihre schriftlichen Arbeiten stets gute Noten. Im Unterricht ließ er hingegen immer die hübsche, talentierte Elisa seine Fragen beantworten. Deutsch war auch Elisas große Stärke. Sie galt als Musterschülerin und wusste auf jede von Herrn Winklers Fragen immer eine passende Antwort. Pia traute sich nicht, sich aktiv am Unterricht zu beteiligen. Sie wusste, dass sie mit Elisa mithalten konnte, traute sich aber einfach nicht, ihre Gedanken mit ihren Mitschülern zu teilen. Es würde ihr sowieso niemand zuhören. Niemand in diesem Raum wusste, wer sie wirklich war. Niemand wusste, dass sie gern Gedichte schrieb und wie gut sie sich mit Literatur auskannte. Ganz anders bei Elisa. Jeder wusste, wie talentiert und fleißig sie war und dafür liebte und bewunderte man sie.

Beim Vorbeigehen blieb der Blick des Lehrers für einen kurzen Moment auf Pia haften. Ihre Blicke trafen sich. Es fühlte sich an, als würde er sie mit seinen Augen durchbohren. Pia zuckte innerlich zusammen. Warum hatte er sie so intensiv angesehen? Hatte sie seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen? Er wandte seinen Blick wieder von ihr ab und stellte sich nun vor sein Pult.
„Achtet bei der Interpretation des Kapitels besonders auf das Verhältnis zwischen Gretchen und Faust. Wisst ihr noch, was die Erkenntnis aus der letzten Stunde war?“
Herr Winkler richtete seinen Blick wieder auf die Schüler. Sofort schossen die ersten Hände in die Höhe. Auch Pia wusste die Antwort, meldete sich aber nicht. Herr Winkler drehte den Kopf nach rechts und lächelte Elisa zu. Anders als sonst hatte Elisa sich diesmal nicht von selbst gemeldet. Sie wirkte ungewohnt gedankenverloren, beinahe so, als wäre sie bei irgendetwas ertappt worden. Ihr hübsches Gesicht errötete, als sie erschrocken zu ihrem Lehrer herauf sah. Hatte sie nicht aufgepasst? Womit war sie beschäftigt gewesen?
„Elisa, kannst du meine Frage beantworten?“
Pia beobachtete, wie Elisa seinem Blick auswich und ihr Handy unauffällig unter ihre Lektüre schob. Sie hatte nicht aufgepasst. Gleich würde sie sich vor ihren Mitschülern blamieren. Herr Winkler würde sicher enttäuscht von seiner Musterschülerin sein. Die Stille war unangenehm, beinahe unerträglich. Pias Augen wanderten abwechselnd zwischen Elisa und dem Deutschlehrer hin und her, bis Elisa endlich die Stille durchbrach.
„Im letzten Kapitel erblickt Faust in einem magischen Spiegel das wunderschöne Gretchen und ist so verzaubert von ihr, dass er sich nicht von ihr lösen kann.“ Die helle, zarte Stimme wurde gegen Ende des Satzes immer leiser. Ein enttäuschtes Murmeln ging durch die Reihen, die Arme gingen wieder runter. Die Lippen des Deutschlehrers formten sich zu einem zufriedenen Lächeln.
„Sehr gut. Du hast das Werk auch schon zu Ende gelesen, richtig?“
Elisa nickte kaum merklich und wich seinem Blick noch immer aus. Als Herr Winkler seinen Schülern den Rücken kehrte, um sich zu setzen, bemerkte Pia, wie die schöne Elisa ihr Handy schnell wieder hervor holte und wie gebannt auf das Display starrte. Pia bewunderte sie dafür, dass sie, selbst wenn sie besorgt und ernst aussah, eine so engelsgleiche und zarte Ausstrahlung hatte.
„So, Leute. Ihr habt eine halbe Stunde“, ertönte die Stimme des Lehrers, die Pia plötzlich aus ihren Gedanken riss. Die Schüler schlugen ihre Lektüre auf und begannen, zu schreiben. Einen Moment später vibrierte Pias Handy wieder. Endlich. Er hatte ihr geantwortet.

„Möchtest du gern, dass ich deinem Profil folge?“
Pia musste lächeln. Sie überlegte kurz, bis sie antwortete.
„Wieso denn nicht? So musst du nicht jedes Mal auf mein Profil schauen, um zu sehen, ob ich etwas Neues gepostet habe.“
„Ich schaue gern auf dein Profil. Jeden Tag.“
Pias Herz hüpfte vor Aufregung. Sie ließ sich etwas Zeit mit der Antwort. Während ihre Mitschüler am Schreiben waren, hörte man höchstens leises Murmeln in den Reihen. Herr Winkler saß an seinem Schreibtisch und war ebenfalls beschäftigt, also nutzte Pia die Zeit, um sich weiterhin mit ihrem Verehrer zu unterhalten.
„Ich würde auch gern mehr von dir sehen. Auf deinem Profil sieht man ja nicht so wirklich Fotos von dir. Ich weiß gar nicht, ob du hübsch bist“, antwortete sie. Sie wollte ihn ein wenig ärgern.
„Ich bin nur ein gewöhnlicher Typ.“
Pia musste wieder grinsen. Dass sie für ihre Bilder so viele Komplimente bekam, schmeichelte sie sehr. Sie genoss es, in der digitalen Welt im Mittelpunkt zu stehen. Jemand zu sein. Begehrenswert und schön. Nicht so, wie in der wirklichen Welt, in der sie niemand beachtete. Von all ihren Bewunderern gab ihr niemand so sehr das Gefühl, schön und bedeutsam zu sein, wie MephisTales. Wieso folgte er ihr nicht einfach? Wäre es auch nicht für ihn eine Ehre, wenn er ihr fünftausendster Follower werden würde? Egal, dann würde es halt jemand anderes werden. Pia war sich sicher, dass sie sehr bald an ihr Ziel kommen würde und endlich den Danksagungs-Post veröffentlichen konnte, den sie schon vor einer Woche vorbereitet hatte. Ein umwerfendes, makelloses Portrait-Bild mit einer riesigen 5.000-Zahl im Hintergrund.
„Wenn du nicht möchtest“, schrieb sie weiter, „Wäre nur deine Chance gewesen, Nummer Fünftausend zu werden. “ Sie setzte einen zwinkernden Smiley an das Ende ihrer Nachricht. So wie er es immer mit seinen Nachrichten tat.
Er antwortete nicht mehr. Pia war enttäuscht. Sie sah wieder von ihrem Handy hoch und sah, dass ihre Mitschüler noch immer am Schreiben waren. Außer Elisa. Was war heute nur mit ihr los? Eigentlich war sie immer so fröhlich, lachte viel und beteiligte sich am Unterricht. Doch jetzt wirkte sie so verbissen und sorgenvoll. Pia beobachtete, wie Elisa, genauso wie sie, heimlich unter dem Tisch auf ihrem Smartphone herum tippte. So wie jetzt hatte Pia sie nur ein einziges Mal erlebt.

Es war fast einen Monat her. Eigentlich hatte Pia gar nicht auf diese blöde Hausparty gehen wollen. Sie hasste Partys. Als einer ihrer Mitschüler seine ganze Klasse zu sich nach Hause eingeladen hatte, hatte sie schon beschlossen, nicht hinzugehen – so wie immer. An diesem Tag begegnete sie Elisa auf dem Heimweg. Pia konnte sich nicht erinnern, ob sie vorher jemals miteinander geredet hatten. Wie ein strahlender Engel kam sie auf sie zu, mit dem schönsten Lächeln, das sie je gesehen hatte.
„Kommst du morgen auch zu Tobis Party?“
Pia war eingeschüchtert und hatte im ersten Moment keinen Ton herausbekommen. Sie war sich nicht bewusst gewesen, dass Elisa sie je wahrgenommen hatte.
„Nein, ich glaube nicht.“
„Ach, komm. Du warst die letzten Male schon nicht dabei. Es ist jedes Mal ziemlich witzig“, entgegnete Elisa lachend, „Es wird wahrscheinlich die letzte Party vor unserem Abitur sein. Einmal musst du dabei gewesen sein. Ich werde auch da sein.“
Pia lächelte unsicher zurück. „Okay“, gab sie schließlich nach. Hatte Elisa ihr gerade signalisiert, dass sie sie auf der Party treffen wollte? Vielleicht würde sie diesmal doch eine Ausnahme machen und hingehen.

Sofort hatte Pia ihren Entschluss bereut. Es war fast zweiundzwanzig Uhr, als sie erschien, und die Party war bereits in vollem Gange. Die ganze Klasse war da, auch Herr Winkler war gekommen, um sich in lockerer, ungezwungener Atmosphäre von seinem Deutsch-Leistungskurs zu verabschieden. Pia war komplett fehl am Platz. Ihre Mitschüler nahmen kaum von ihr Notiz; die meisten begrüßten sie nicht einmal. Die laute Musik und der Geruch von Alkohol bereiteten ihr Unbehagen. Sie schlängelte sich an den tanzenden Leuten vorbei und hielt nach Elisa Ausschau. Sie war nirgends zu finden. Pia rettete sich in die Küche, wo es deutlich ruhiger war. Zwei ihrer Mitschülerinnen, Annika und Melanie, machten sich laut gackernd über die Reste des Buffets her und tranken dabei billigen Sekt. Annika war Elisas beste Freundin. Pia war enttäuscht. Elisa schien sie versetzt zu haben, ansonsten wäre sie sicher hier bei ihrer besten Freundin zu finden gewesen.
„Auf jeden Fall die Augen! Aber stell dir vor, wie attraktiv er erst wäre, wenn er Musiker wäre“, sagte Annika und schüttete sich den restlichen Sekt in den Mund.
„Also bei mir kommen seine Augen erst an zweiter Stelle, auf Platz eins ist definitiv sein Hintern“, entgegnete Melanie, „Allerdings finde ich ihn gerade so geheimnisvoll, weil er eben nicht so ein komischer Möchtegern-Rockstar ist, sondern so … gebildet. Weißt du, was ich meine?“
„Ja, voll!“ Die Mädchen fingen wieder an zu gackern.
Ein sehr geistreiches Gespräch. Pia wollte sich gerade wieder umdrehen, doch die beiden kamen gleich auf sie zu. Sie umkreisten sie wie zwei Geier ihre Beute und Pia merkte, dass sie einen Moment brauchten, um sich an ihren Namen zu erinnern.
„Pia, sag du auch mal. Was findest du an Herrn Winkler besonders sexy?“
Pia war peinlich berührt und verärgert darüber, dass sie sie in so ein Gespräch verwickeln wollten.
„Er ist nicht mein Typ“, antwortete sie leise.
„Ach so, wer ist dann dein Typ?!“ Sie machten sich über sie lustig. Pia wollte dieser unangenehmen Situation so schnell wie möglich entkommen.
„Ich finde sein Gesicht sehr hübsch.“
„Ich finde sein Gesicht sehr hübsch“, äfften die Mädchen sie nach und fingen an zu lachen.
„Also ich hätte da schon eine Idee, wie ich im Abi auf meine eins in Deutsch komme“, grölte Melanie dann und verfiel zusammen mit Annika in schallendes Gelächter.
Pia verdrehte die Augen und machte sich schnell aus dem Staub. Sie würde unmerklich verschwinden, aber vorher musste sie noch kurz zur Toilette. Sie drängte sich wieder vorbei an ihren tanzenden und trinkenden Mitschülern und lief den Flur hinauf, bis sie an der Gästetoilette ankam. Als sie die Tür öffnete, saß sie dort auf dem Boden – Elisa. Sie war betrunken und sah aus, als hätte sie gerade geweint. Pia schloss die Tür hinter sich und setzte sich zu Elisa vor die Toilette. Ihr anmutiges Gesicht wirkte jetzt so zerbrechlich und verzweifelt.
„Was ist passiert?“
„Ach, es ist wegen meiner Eltern“, antwortete Elisa leise und schluchzte, „Sie zwingen mich, Jura zu studieren. Jura interessiert mich einen scheiß. Aber das ist ihnen egal, sie sagen, dass ich mit meinem Potenzial was Vernünftiges studieren muss. Ich habe ihnen immer wieder gesagt, dass ich Modedesignerin werden will und dass ich echt gut bin. Das bin ich wirklich! Ich könnte das Studium schaffen. Aber für sie ist die Sache beschlossen. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.“
Elisa fing an, heftiger zu weinen und lehnte sich an Pias Schulter. Pia tätschelte ihren Kopf und sog den himmlischen Duft ihrer lockigen Haare ein. Sie hatte recht. Modedesignerin wäre der perfekte Beruf für sie. Sie hatte einen Blog und ein Instagram-Profil, auf dem sie ihre selbst entworfenen Kleider präsentierte und einige ihrer Entwürfe hatte sie schon selbst geschneidert. Dann hatte sie sich in Pose geworfen und sich in ihren eigenen Kleidungsstücken fotografieren lassen. Die Fotos waren alle umwerfend, Pia hatte sie alle gesehen und bewundert. Gerade, als sie nach den richtigen Worten suchte, um die aufgelöste Elisa zu beruhigen, ging die Tür auf und ihr Deutschlehrer starrte verwundert auf sie herab.
„Oh. Tut mir leid. Ist alles in Ordnung?“
Elisa nahm den Kopf wieder von Pias Schulter und wischte sich die restlichen Tränen aus dem Gesicht.
„Alles in Ordnung, Herr Winkler. Ich habe nur ein bisschen zu viel getrunken.“
Das hatte sie wirklich. Als sie versuchte, aufzustehen, musste Pia sie stützen. Herr Winkler kam zur Hilfe und hielt Elisa am Arm fest.
„Du solltest dich ein bisschen ausruhen. Dann geht es bestimmt gleich wieder“, sagte er tröstend und verließ das kleine Badezimmer mit der schwankenden Schülerin. Pia blieb allein zurück.

„Pia.“ Die Stimme ihres Deutschlehrers holte sie wieder in die Gegenwart zurück. Mist. Sie hatte die Aufgaben nicht bearbeitet. Peinlich berührt über die plötzliche Aufmerksamkeit sah sie nach vorn.
„Ja?“
„Im vorherigen Kapitel hat Faust ein Geschenk für Gretchen, mit dem er sie überraschen möchte. Das Geschenk wird ihr aber nicht von Faust persönlich überreicht, sondern sie findet es selbst in ihrem Schlafgemach. Weißt du noch, wer das Geschenk für sie versteckt hat?“
Pia überlegte fieberhaft. Sie hatte den Unterricht in den letzten Wochen etwas schleifen lassen und sich mehr auf ihr Instagram-Profil konzentriert. Faust hatte sie nur halbherzig gelesen und sie erinnerte sich nicht mehr genau an das Kapitel. Sie musste sich erinnern. Sie wollte sich auf keinen Fall die Blöße geben, es war schon schlimm genug, dass sie alle anstarrten. Jetzt! Es fiel ihr wieder ein. Natürlich!
„Das war Mephisto“, antwortete sie schüchtern. Sie sah, wie sich die Lippen des Lehrers zu einem verschmitzten Lächeln formten.
„Richtig“, sagte er und zwinkerte ihr zu.
Warum hatte er das getan? Pia wurde rot und wünschte sich, sich auf der Stelle in Luft aufzulösen. Während Herr Winkler mit seiner Fragerei fortfuhr, vibrierte Pias Handy wieder. Heimlich zog sie es auf ihren Schoß und sah, dass sie eine neue Instagram-Benachrichtigung hatte. MephisTales folgt dir jetzt.

Irgendetwas ratterte in ihrem Kopf. Pia hatte plötzlich ein seltsames Gefühl in der Magengegend. Ihre Gedanken mussten ihr einen Streich spielen. Das kann nicht sein, sagte sie sich. Sie musste sich irren, das wäre vollkommener Wahnsinn. Der Gedanke ließ sie aber nicht los. War ihr Deutschlehrer MephisTales? War das möglich?
Langsam hob sie ihren Kopf. Herr Winkler ging die Fragen des Arbeitsblattes durch und rief seine Schüler nach und nach auf. Er schien zu bemerken, dass Pia ihn beobachtete. Er bewegte seinen Kopf zur Seite und ihre Blicke trafen sich. Dann nickte er kaum merklich und lächelte kurz, bis er sich wieder der nächsten Frage widmete. Was hatte das zu bedeuten?
Pias Handy vibrierte wieder. Als sie ihr Instagram-Profil öffnete, sah sie es. Fünftausend Follower. Endlich. Endlich konnte sie ihren schon lange vorbereiteten Post veröffentlichen und sich bei all ihren Followern bedanken. Es gab eine neue Nachricht. Jemand hatte ihr Bikini-Bild kommentiert und Pias Atem geriet ins Stocken.
„Hey. Ist das dein richtiger Account? Es scheint ein Fake-Profil von dir zu geben, schau mal hier. PS: Deine Fotos sind wunderschön! Ich drücke dir so sehr die Daumen, dass es mit dem Modedesign klappt!“ Unter dem Text war ein Screenshot eines Instagram-Profils.
Pia zögerte nicht lange, bis sie den Kommentar unter ihrem Foto löschte. Ihr Herz begann wie wild zu schlagen. Ihr Profil durfte unter keinen Umständen gelöscht werden, es war doch alles, was sie hatte, alles, was sie bedeutsam machte. Es war der einzige Ort, an dem sie bewundert wurde und an dem sie sein konnte, wer und wie sie wollte. Es war wie ein wunderschönes Tagebuch in einer Welt, in der Pia leben wollte. Das würde sie nicht aufgeben. Sie scrollte wehmütig durch ihre vielen schönen Bilder. Sie sah auf jedem einzelnen Bild einfach atemberaubend aus, wie ein Engel, wie eine Göttin. Das blond-goldene Haar, die großen blauen Augen und die zarten Gesichtszüge. Ja, Pia war sich sicher. In der digitalen Welt, in ihrer eigenen Realität, wollte sie Elisa Wolf  sein und niemand anders. Und das durfte ihr keiner nehmen. Ihr Instagram-Name war Queenelisa. Das war sie. Das war, wer sie wirklich war. Auch wenn sie Fotos von Elisa Wolf benutzte, Bilder von ihrem Instagram-Profil kopierte und als ihre eigenen ausgab. Auch wenn sie Bilder von Elisas Modeblog postete, genauso wie sie Elisa auch manchmal heimlich fotografierte und die Bilder für ihr Instagram-Profil benutzte. Trotzdem war es sie, die all dies aufgebaut hatte, die dem Profil Persönlichkeit gab und die mit ihren Followern schrieb, sich mit ihnen anfreundete oder sogar mit ihnen flirtete. Das war doch alles sie.


„Wir sehen uns dann also morgen. Und bitte bearbeitet bis dahin die nächsten beiden Kapitel, bis zu den Prüfungen ist es nicht mehr lange und Faust wird ein wesentlicher Bestandteil der Abi-Klausur werden“, verkündete Herr Winkler.
Die Schüler begannen, ihre Sachen einzupacken. Auch Pia schob schnell ihre Sachen in ihre Tasche. Sie wollte so schnell wie möglich nach Hause, um ihren lange geplanten Post zu veröffentlichen. Sie war gespannt, wie ihre Follower reagieren würden. Als sie aufstand, um sich ihre Jacke überzuziehen, sah sie, wie Elisa zu ihr herüberschaute. Ihre Augen sahen traurig aus, irgendwie, als würde sie sich für etwas entschuldigen wollen. Sie warf sich ihre Tasche über die Schulter, ohne Pia dabei aus den Augen zu lassen. Sie flüsterte ihr etwas zu. Pia war sich nicht sicher, ob sie ihre Lippenbewegungen richtig deutete, aber wenn sie sich nicht täuschte, hatte sie Tut mir Leid gesagt. Was sollte das bedeuten? Was tat ihr Leid? Die schöne Göttin wandte sich von ihr ab und verließ gemeinsam mit ihren Freundinnen den Raum. Pia hatte ein ungutes Gefühl. Vielleicht sollte sie Elisa morgen ansprechen und sie fragen, was sie damit gemeint hatte.
Pia wandte sich wieder um und sah, dass Elisas Handy auf dem Boden unter ihrem Stuhl lag. Sie hatte es vergessen und anscheinend hatte es niemand bemerkt. Pia wartete, bis der Rest ihrer Mitschüler den Raum verlassen hatte und lief dann zu Elisas Platz, um ihr Handy aufzuheben. Sie würde es ihr morgen zurückgeben und Elisa würde ihr sehr dankbar dafür sein, dass sie ihr Handy gefunden hatte. Vielleicht würde sie dann ihre Freundin sein wollen. Pia malte sich aus, wie schön es wäre, die Freundin von Elisa zu sein. Gerade, als sie das Handy in ihre Tasche stecken wollte, hörte sie eine Stimme hinter sich.
„Ist das Elisas Handy?“
Als sie sich umdrehte, sah sie direkt in die stechenden blauen Augen ihres Deutschlehrers.
„Sie hat es vergessen. Ich gebe es ihr morgen zurück“, gab Pia zur Antwort und wollte gerade an Herrn Winkler vorbei laufen, als dieser sich ihr in den Weg stellte.
„Lass es doch hier. Ich schließe es in meinen Schreibtisch ein und sie bekommt es gleich morgen früh wieder.“ Er streckte die Hand aus und zwinkerte ihr zu, so wie einen Moment zuvor im Unterricht. Pia wusste nicht recht, wie sie reagieren sollte. Sie tat, was er wollte, holte Elisas Handy aus der Tasche und gab es ihrem Lehrer, der daraufhin zurück zu seinem Schreibtisch ging und es dort ablegte.
Pia schluckte. Sollte sie ihn fragen? Sollte sie ihn fragen, ob er ein Profil auf Instagram hatte und sich dort MephisTales nannte? Pia wollte auf keinen Fall, dass er erfuhr, dass sie sich als Elisa ausgab. Aber es mochte ja sein, dass sie sein Profil einfach zufällig gefunden hatte oder jemand ihr erzählt hatte, wer hinter dem Profil steckte. Warum hatte er ihr aber zugezwinkert? Warum hatten sich ihre Blicke in der letzten halben Unterrichtsstunde so oft getroffen? Pia musste ihn einfach fragen, es ließ ihr keine Ruhe. Entschlossen ging sie langsam auf Herrn Winkler zu, der sich wieder zu ihr umgedreht hatte und ihr wieder mit seinem durchdringenden Blick in die Augen sah.
„Herr Winkler, ich muss Sie etwas fragen.“
Ihr Lehrer lachte kurz, ohne den Blick von ihr abzuwenden. Seine schmalen Lippen formten sich wieder zu einem verschmitzten Lächeln, so wie vorhin. Er drehte sich um und ging zur Tür. Dann schloss er sie. Pia verstand nicht, was hier vor sich ging und lief langsam auf ihn zu.
„Frag ruhig.“ Er sah sie an, als wüsste er schon ganz genau, was sie gleich sagen würde. Pia kam sich komisch vor und überlegte kurz, ob sie ihre Frage wieder zurücknehmen sollte; vielleicht irrte sie sich ja. Nein, die Blamage wäre einfach zu hoch, sie musste einen Rückzieher machen. Er würde sich über ihre Frage wundern, ihr sagen, dass sein Privatleben sie nichts anginge und sie fragen, wie sie zu dieser Annahme kam. Sie konnte ihn nicht fragen.
„Ach wissen Sie, vergessen Sie’s, es ist nicht so wichtig. Ich muss nach Hause.“
Sie wollte gerade an ihm vorbei zur Tür hinaus gehen, da stellte er sich ihr in den Weg. Sie wich verwundert zurück.
„Nein, Pia. Sag mir, was du auf dem Herzen hast. Was immer es ist.“
„Also schön“, platze es aus ihr heraus, „Haben Sie ein Instagram-Profil, auf dem Sie sich MephisTales nennen?“ Erschrocken über ihre plötzliche Ungeniertheit hielt sie den Atem an und versuchte, seine Reaktion zu deuten. Zu ihrer Überraschung schien sich ihr Lehrer ganz und gar nicht über ihre Frage zu wundern. Er lachte kurz, während er sie mit seinem Blick durchbohrte. Langsam hatte sein Gesichtsausdruck etwas Hämisches und Überlegenes. Sie hatte recht. Herr Winkler war MephisTales. Und er wusste, dass sie sich auf Instagram für Elisa ausgab, im Unterricht hatte er ihr deutliche Signale gegeben. Es war kein Zufall gewesen, dass er ihr eine Frage gestellt hatte, auf die die Antwort Mephisto lautete. Aber wieso? Wieso hatte er dann so viele Nachrichten mit ihr ausgetauscht?
„Ich wusste, dass du darauf gekommen bist“, antwortete ihr Lehrer, ohne ihr aus dem Weg zu gehen, „Schon als du mir geschrieben hast, dass du nach der Schule noch nichts vorhast.“
Wie bitte? Wovon sprach er?
„Ich muss zugeben, dass mich deine Nachrichten anfangs ziemlich überrascht haben und ich mir nicht sicher war, ob du wusstest, dass du die ganze Zeit mit mir geschrieben hast. Vorhin konnte ich sehen, dass du jetzt erst darauf gekommen bist und als du mir trotzdem zurückgeschrieben hast, wusste ich, dass du nach dem Unterricht zu mir kommen würdest.“
„Ach ja?“, fragte Pia verwirrt.
„Nun, ich muss sagen, dass ich mich sehr geschmeichelt fühle. Das erlebt ein Lehrer nicht alle Tage, dass ihn eine Schülerin um so etwas bittet.“
Wovon zum Teufel sprach er? Pia versuchte schnell, ihre Erinnerungen zu sortieren. Um was hatte sie ihn gebeten? Meinte er, dass er ihr fünftausendster Follower werden sollte? Oder dass sie gern mehr von ihm sehen wollte? Oh nein.
„Ähm … Herr Winkler, ich … ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, also …“, stammelte sie und wich seinem eindringlichen Blick aus.
„Für mich wäre es kein Problem. Möchtest du das immer noch? Ja?“
Er kam zwei Schritte näher auf sie zu. Er stand jetzt so dicht an Pia, dass sie seinen warmen Atem auf ihrer Haut spüren konnte. Was passierte hier gerade? Völlig durcheinander und hilflos gab sie ein kleinlautes „Ja?“ von sich.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Das Gefühl für Raum und Zeit hatte sie völlig verloren, sie hatte sich die ganze Zeit über in einem transzendentalen Zustand befunden. Wie lange es gedauert hatte, konnte sie nicht genau sagen. Ein paar Minuten vielleicht? Eine halbe Stunde? Sie hatte versucht, all ihre Sinne zu unterdrücken, ihrem Körper nicht zu erlauben, sich zu wehren, sondern ihn einfach funktionieren zu lassen. Alles war wie von selbst geschehen, als wäre es das einfachste der Welt. Ich hoffe, es hat dir auch gefallen, hatte er danach zu ihr gesagt. Sie hatte genickt und nichts mehr gesagt. Danach hatte er seine Sachen genommen, als wäre nichts gewesen und ihr gesagt, er würde bald wiederkommen, um den Raum abzuschließen und dass sie bis dahin bitte gehen sollte. Wieder hatte sie nur genickt. Jetzt saß sie hier, auf dem Stuhl ihres Deutschlehrers und starrte vor sich hin. Ihre Arme und Beine fühlten sich schwer an und sie fühlte sich unfähig, sich zu bewegen.
Sie hörte ein Vibrieren. Elisas Handy. Es lag noch immer vor ihr auf dem Tisch und bewegte sich mit jedem Vibrieren langsam über den Holztisch. Pia hob ihren schwachen Arm und zog das Handy an sich heran. Elisa hatte Instagram-Nachrichten bekommen. Sie tippte auf das ihr so vertraute Symbol und blinzelte ein paar Mal. Was sie sah, konnte sie kaum glauben. Sie sah ein Instagram-Profil, das nicht ihres war. Es hatte aber ihren Namen. Pia Gerstner. Das Profilfoto zeigte einen nichtssagenden Sonnenuntergang. War das möglich? Oder waren ihre Sinne noch so getrübt, dass sie den Verstand verloren hatte? Sie tippte auf das Profil. Vier Fotos. Auf allen war Pia zu sehen, es waren Bilder, die sie selbst von sich gemacht hatte, teilweise schon mehrere Jahre alt. Harmlose Bilder, bloß ein paar Selfies und Naturaufnahmen. Bilder, die sie für ihr erstes Instagram-Profil gemacht hatte. Es war ihr erster Versuch gewesen, doch es hatte niemanden interessiert. So wie dieses Profil hatte auch ihr altes nur wenige Follower  gehabt und irgendwann hatte sie vergessen, dass es noch irgendwo in den Tiefen des Internets existierte. Und Elisa hatte ihre Fotos geklaut und ein neues Profil von ihr erstellt. So wie sie es mit ihr gemacht hatte.
Sie tippte auf die Follower-Zahl. Sieben Leute folgten ihr. Es waren alles Menschen, die sie nicht kannte – Fremde. Außer einer. Pia drehte sich der Magen um. Sie hatte damit zu kämpfen, sich nicht auf der Stelle auf den Schreibtisch zu übergeben. Ihr Herz begann zu rasen. Instinktiv tippte sie auf die Nachrichten, die vor ein paar Sekunden angekommen waren. Er war es. Mit zitternder Hand tippte sie auf das Nachrichten-Symbol und hielt dabei den Atem an.
„Es war schöner, als ich es mir vorgestellt hatte.“ Dahinter ein zwinkernder Smiley. Der Chat-Verlauf über der letzten Nachricht war ewig lang. Pia scrollte und scrollte, sie musste sich zwingen, nichts von all dem zu lesen. Da waren noch neue Nachrichten von einer anderen Person. Auf dem Foto erkannte sie Annika – Elisas beste Freundin. Sie tippte auf den Nachrichtenverlauf.
„Das ist alles nur ihre Schuld und nicht seine, Elisa. Er dachte ja, dass du mit ihm flirtest und du weißt doch, was auf Partys alles passieren kann. Außerdem ist er doch heiß, jede andere hätte alles getan, um an deiner Stelle zu sein, du musst aufpassen, dass du die Sache nicht überdramatisierst. Wenn Melanie nicht letzte Woche heimlich an Pias Handy gegangen wäre, wüsstest du jetzt nicht mal davon, dass es ihre Schuld ist. Mein Gott, warum hat die Bitch nicht ein Fake-Profil von mir erstellt? Ich wäre ihr bis an mein Lebensende dafür dankbar gewesen. Bitte überlege dir das mit der Polizei nochmal, Süße. Er dachte doch, dass du es auch willst und du warst betrunken. Bestimmt hast du ihm auch gewisse Signale gegeben. Lass uns morgen nochmal reden, ja? Und übertreib es nicht mit diesem komischen Profil, es interessiert sich doch sowieso keiner für Pia Gerstner.“

Pia ließ das Handy aus ihrer Hand fallen. Ihr war schlecht und sie wollte nach Hause. Sie fühlte sich, als würde alles still stehen und als würden ihre Bewegungen immer langsamer werden. Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Irgendwo musste ihre Hose liegen.


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