Lea KnopfFünf Meter

Fünf Meter

Alles klar. Wir fangen nochmal ganz von vorne an.

Diese Geschichte wurde mittlerweile schon viel zu oft durchgekaut, aber so läuft

das doch eigentlich immer.

Und sie wird auch in Zukunft ständig wieder aufgewärmt. Jedes Mal, wenn 

irgendwem der Gesprächsstoff ausgeht.

Die Leute hier fragen sich ständig, wer die Schuld an all dem trägt.

Ich frage mich, wem man hier noch irgendwas glauben soll.

 

Worauf kann man sich wirklich noch besinnen?

Und wenn man alles wegnimmt, was unnötig ist, was bleibt noch übrig?

Die Hütte? Von mir aus die Hütte. 

Mitten im Wald. Alt und zerbrechlich. Mit einer Stromversorgung, die so gut

funktioniert, wie der Plan sich in einem Horrorfilm zu trennen und unter

Heizversorgung wird an der Stelle ein Kamin im Wohnzimmer verstanden, der

einen Raum so schlecht heizt, dass er die Bitte sich eine dicke Jacke dorthin

mitzunehmen wie eine Drohung klingen lässt. 

Klischee, aber die Hütte ist schön. 

Machen wir uns nichts vor, sie ist wirklich wunderschön oder war es wenigstens.

Wenn man sie sieht, hört man auf dem einen Ohr “House of the Rising Sun” und

auf dem anderen die Klaviertöne aus Norman Bates’ Motel.

Was bleibt ist also eine wunderschöne Hütte, die zum angsteinflößenden

Mittelpunkt dieses Abends geworden ist. 

Und nun die Leute im Inneren der Hütte. 

Scheiß egal, ob wir von einer Party, einem Saufgelage oder einem gottverdammten

Buchclub reden, der darin stattfinden sollte.

Unterm Strich kann man nur sagen, dass sich diese sechs Leute zwischen

17 und 25 Jahren in dieser Hütte mit 15qm zusammengefunden haben.

Und was ist jetzt noch von ihnen übrig? 

Offensichtlich. Von diesen sechs Menschen haben alle die Hütte verlassen, aber

nur fünf den Wald. Also sind noch fünf übrig. 

Und natürlich geht es hierbei darum. 

Diesem gesamten 10.000 Seelen Dorf geht es darum

Mir nicht. Jedenfalls nicht nur. 

Sechs Menschen. 

Einer von ihnen ist weg. 

Bis er verschwunden ist, soll die Atmosphäre gut, die Stimmung ausgelassen

gewesen sein, aber das kann ich mir bei diesen sechs Leuten beim besten Willen

nicht vorstellen, wenn ich sie hier so vor mir sehe. 

Sie blicken alle durch einen hindurch als ginge die Welt in wenigen Sekunden unter.

Die Frage danach, wo der Junge gerade steckt, scheint für die Mehrheit

nicht so interessant zu sein, wie die Frage danach, wem man dafür die Schuld

geben kann. Das gilt für sämtliche Bewohner dieser Stadt.

Und wen beschuldigen die übrigen fünf Personen? 

Ich schätze, dass sie einander im Moment gegenseitig die Schuld

zuschieben, obwohl sie jeder für sich die Verantwortung dafür bereits bei sich

selbst gefunden haben. 

Die Menschen, die einander nie in den Rücken fallen oder einander belügen

wollten, es sich sogar einst geschworen hatten, sitzen jetzt hier aufgereiht, wie im

Klassenraum vor uns und hüllen sich in Schweigen.

Der Hass in ihren Herzen und die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben.

Mehr ist nicht zu sehen. 

Fünf Menschen. Keine Beweise. 

Fünf “Zeugen” von denen einer unglaubwürdiger ist, als der andere. 

Jeder hat seine eigene Geschichte genau einmal erzählt. Ein einziges Mal. 

Und die fünf Geschichten, die diesen Abend beschreiben sollen, könnten nicht

unterschiedlicher sein. 

Es ist als hätte einer vom Urknall und ein anderer von 9/11 geredet. 

Und was haben der Urknall und 9/11 gemeinsam? 

Den fünf Personen zufolge haben sie gemeinsam, dass eines der drei Mädchen

irgendwann ging und dass einer der drei Jungs auch irgendwann nicht mehr da

war. 

Darin sind sich immerhin alle einig.

Bei der Frage danach, wer zuerst ging, herrscht Uneinigkeit und vermutlich

größtenteils auch einfach Unwissenheit.

Aber wie verlassen zwei Leute getrennt oder zusammen diese kleine hellhörige

Hütte ohne, dass es jemand mitbekommt? 

Außerdem haben die Geschichten gemeinsam, dass gegen 3 Uhr früh ein lauter

Knall zu hören war, den alle nach wie vor für einen Schuss halten, woraufhin sie die

Polizei gerufen haben. 

Einer von ihnen, ein selbst ernannter Jäger hat vor Ort einen Tipp abgegeben: 

Ein Schuss. Schrotflinte. 150m von der Hütte entfernt. 

Die Anderen waren sich zu unsicher, um eine Prognose zu wagen und selbst wenn

sie es getan hätten, wer würde ihnen glauben?

Wir werden jedenfalls nie erfahren, was stimmt, weil nie eine Waffe oder Kugel

oder sonst was gefunden wurde.

Was sollte man noch betrachten? 

Naja, das Verschwinden des Jungen eben. 

Er wurde in der Nacht vom Erdboden verschluckt und ist bis heute nicht mehr

aufgetaucht ist.

Keine Spur von ihm. 

In dieser Kleinstadt voller gelangweilter Irrer, die tagein tagaus schlecht

übereinander reden und sich trotzdem nett auf der Straße grüßen, kennt jeder

jeden und das ist das Problem. 

Keiner von ihnen denkt, dass sich der Junge einfach so vom Acker machen würde,

weil er doch so ein anständiger Junge ist und die machen sowas ja nicht. 

 

Ich kann zwar nicht für jeden hier sprechen, aber wenn ich die Chance hätte meine

Flügel auszubreiten und aus dieser Stadt zu flüchten, wäre ich die erste Person auf

dem Dach, aber wenn ihm das der Bäcker des Vertrauens und die nette Dame, die

er einmal die Woche in der Reinigung trifft, nicht zutrauen, will ich mich mit

meiner Einschätzung nicht in den Weg stellen. 

In dieser Stadt glaube ich den Menschen generell genauso sehr, wie den fünf

Menschen aus der Hütte. Wenig bis gar nicht.


 

Kommen wir jetzt also zu dem Mädchen. 

Sie schien für ein paar Stunden unauffindbar.

Ist ja nicht so, als hätte einer der übrigen vier mal nach ihr gesucht. 

Aber sie tauchte wieder auf. 

Im Gegensatz zu dem Jungen. 

Hier kommen wir zu einer weiteren Gemeinsamkeit aller Geschichten. 

Sie tauchte wieder auf, indem sie ungefähr drei Sekunden nachdem der Schuss zu

hören war, die Tür zur Hütte aufriss.

Wenn der Schuss jedoch wirklich mehrere hundert Meter entfernt war, konnte sie

es bis dato nicht zurück zur Hütte geschafft haben und die Waffe hätte man

irgendwo in der Umgebung oder bei ihr finden müssen. 

Nichts. 

Keine Schmauchspuren, gar nichts.

Vielleicht hatte sich der Hobbyjäger bei seiner Einschätzung auch einfach geirrt. 

Es drängt sich jedoch der Gedanke auf, dass sie die Waffe nach dem Schuss

irgendwohin geworfen hat und sie einfach nicht gefunden wurde.

Wenn man jedoch zu den Polizisten, die sich aktuell an diesem Fall die Zähne

ausbeißen, sagen würde, dass sich die Waffe in der Umgebung befinden müsste

und sie sie einfach noch nicht gefunden haben, würden sie einem sofort ins

Gesicht spucken, weil jeder von ihnen jeden Zentimeter des nicht allzu

großen Waldes auf der Suche nach irgendetwas höchstpersönlich

umgegraben hat und jedes Blatt dreimal umgedreht hat. 

Außerdem hätte sie für die Entsorgung nur wenige Sekunden gehabt. 

Nicht unmöglich, aber wirklich unglaubwürdig. 

Fakt ist, sie hatte keine Waffe bei sich, als sie in der Hütte ankam.

Dazu kommt noch, dass man dann komplizierte Theorien für den Aufenthalt einer

Leiche oder eines angeschossenen Jungen aufstellen und beweisen müsste, um

einen Schritt vorwärts zu machen.

Die Suche dauerte 13 Tage an, bis auch der letzte Polizist zu dem Ergebnis kam,

dass weder ein Beweis noch der Junge selbst gefunden werden würde. 

Deshalb würde man auch nie erfahren, ob der Schuss wirklich 150m entfernt war

oder doch 200 oder eben nur 20.

Wer sollte es irgendwem verdenken, diesen Fall nicht lösen zu können? 

Dieser Fall ist wie die Bibel. 

Jeder hat eine Meinung dazu. 

Manche verstehen sie so, wie sie das möchten und dafür werden sie von

den Anderen verurteilt. Alle anderen Menschen verstehen sie so, wie jeder sie

verstehen soll und am Ende redet man entweder aneinander vorbei, weil man

unterschiedlicher Meinung ist oder man ergeht sich in wenig hilfreichen Floskeln

über einen Gott, der eben da ist oder halt auch nicht. 

Vielleicht braucht man diese nie endende Diskussion auch einfach, weil die

Menschheit aus Konflikten geboren wird und sich über solche tagtäglich

definiert. 

Die Menschen brauchen immer etwas, worüber sie sich aufregen können. 

Selbst wenn sie sich heute mal nur darüber aufregen können, dass der neue

Nachbar nicht an die Auferstehung glaubt. 

An der Stelle geht es nicht um Kritik an der Institution Kirche. es geht um

Menschlichkeit und bei diesem Fall würde ich es genauso betrachten.

Jeder hat seine Meinung zu diesem Fall, weil alle ständig darüber reden.

Der Großteil der Stadtbewohner geht davon aus, dass es ein Fremder war.

Wer eine andere Meinung hat, wird schief angeguckt, weil es doch nicht sein kann,

dass eins dieser lieben Kinder aus dieser lieben Gemeinde einem anderen so etwas

antut. 

Und so endet jedes Gespräch darüber in einem Streit oder in wenig hilfreichen

Floskeln über den bösen Unbekannten.

Die Schwester des Jungen gehört ebenfalls zu der Gruppe aus der Hütte. 

Sie ist die Einzige, die sich bis zu einem gewissen Zeitpunkt “normal”  verhalten

hat.   

Sie weiß zwar auch nicht, wo er ist, aber sie schoss sich direkt auf das Mädchen

ein, das für kurze Zeit verschwunden war, nachdem sie die Hütte erneut betreten

hatte. 

Egal wie unlogisch es ist, dass sie ihrem Bruder etwas getan hat, sie ließ nicht

davon ab und sie lässt bis heute nicht davon ab. 

Ihr Freund versuchte sie mit harmlosen Theorien über seine Abwesenheit

kurzzeitig zu beruhigen. 

Er ist jemand, der immer dann einen schlechten Witz auf den Lippen hat, wenn

ihn gerade wirklich keiner hören will. So einen hat er ihr in dem Moment zum

Glück erspart, da man ihr ansah, dass sie sich ehrlich Sorgen um ihn machte.

Sie sah es jedoch überhaupt nicht ein, sich abzuregen und so ging sie mit schweren

Schritten auf ihre Freundin zu und wäre ihr wirklich gern an die Gurgel

gegangen, aber die Anderen hielten sie zurück.

In diesem Moment war sie völlig außer sich. Später auf dem Revier wirkte sie

überraschend klar.

Sie erzählte ihre Geschichte vor den Beamten und sie klang sinngemäß ungefähr

so:

Wir waren in der Hütte und haben einen Schuss gehört.

Vor dem Schuss ist sie gegangen und mein Bruder verschwunden.

Nach dem Schuss kam sie zurück und mein Bruder nicht. Fall abgeschlossen. 

Die übrigen drei beschuldigten sich größtenteils untereinander und niemand war

dazu bereit oder in der Lage irgendeinem seiner bzw. ihrer Freunde ein Alibi für die

Sekunden des Schusses oder die Zeit davor und danach zu geben. 

Nur weil man einen Schuss hört, muss man doch trotzdem sehen, wer gerade

neben einem steht oder vor einer Sekunde noch stand oder etwa nicht?

Natürlich kann es sein, dass sie sich zum Zeitpunkt des Schusses nicht alle im

selben Raum aufgehalten haben, aber für vier von sechs Leuten sind die

Möglichkeiten der Verteilung auf zwei Räume nunmal begrenzt.

Jeder beteuert die eigene Unschuld, aber wenn man nicht nachvollziehen kann,

wer wann wo war, bringt das gar nichts und jeder von ihnen lügt. 

Es gibt es nichts Schlimmeres, als einen Raum voller Lügner, die alle verdächtig

sind. 

Aber verdächtig was getan zu haben? 

Ohne ernstzunehmende Aussage oder Beweise, wie die Leiche oder Waffe könnte

alles passiert sein. 

Er könnte seit Stunden in einem kleinen Kellerloch liegen oder schon tot sein. 

Er könnte im Wald vergraben sein oder sich in die nächste Großstadt abgesetzt

haben, auch wenn das niemand aus der Stadt glauben möchte. 

Den Menschen hier gefällt die Vorstellung nicht, dass es auch noch Leute gibt, die

sich mehr vom Leben erhoffen, als den ständigen Wechsel von einem

langweiligen Job ohne Karriereaussichten und einem Familienleben, in dem man

festhängt, wobei man tagtäglich aufs Neue aufgezeigt bekommt, dass der

Schriftsteller Richard Bach Recht damit hatte, als er sagte, dass die Mitglieder einer

Familie nur selten unter dem gleichen Dach aufwachsen. 

Die meisten Bewohner der Stadt sind von ihrer Theorie des bösen Fremden

fasziniert. 

Ein schauriger Gedanke für die meisten von ihnen, aber so haben sie wieder

etwas, worüber sie in Zukunft reden können. 

Eine Kleinstadt voller Leute, die regelmäßig ihren Kopf aus dem Fenster strecken,

um bloß nichts zu verpassen. 

Es steht nicht in meiner Stellenbeschreibung diese Stadt und diesen Fall hier zu

bewerten und wenn ich es versuchte, ich würde scheitern.

Ich werde nur das Gefühl nicht los, dass sich hier niemand gegenseitig

beschützen oder entlasten will. Nicht mal, wenn es der Wahrheit entsprechen

würde oder gar die eigene Haut retten würde. 

Worauf könnte man sich noch fokussieren? 

Ach ja, das Bild.

 

Eines Tages stapfte die Schwester des Jungen in das Cafe, in dem das Mädchen

arbeitet, das zwischenzeitlich verschollen war. 

Sie fuchtelte vor ihrem Gesicht mit dem Handy des Witzbolds herum,

während sie hysterisch rum kreischte, dass sie noch bereuen würde, was sie ihrem

Bruder angetan hat.

Bis dato war unklar, wann der Junge das letzte Mal gesehen wurde, aber das Bild

beleuchtet eine ganz spezielle Geschichte.

Zu sehen war eins der vielen Bilder, die an dem Abend entstanden sind, von denen

alle scheinbar wertlos sind, bis auf dieses.

Auf dem Bild zu sehen: Die sperrangelweit geöffnete Eingangstür zur Hütte in

Großaufnahme aus dem Inneren aufgenommen. 

Ein Zeitstempel: 1:30 Uhr. 

Zwei Leute: Ein geradewegs Richtung Wald und ins Nichts laufendes Mädchen, das

sich von der Hütte immer mehr entfernt und immer mehr von der Dunkelheit

verschluckt wird. 

Sie ist schlecht zu erkennen, aber der Kleidung zufolge als das Mädchen, das später

am Abend wieder auftauchen würde, zu identifizieren. 

Sie ist ungefähr 10 Meter von der Hütte entfernt.

Ungefähr 5 Meter hinter ihr: Der Junge. 

Der Junge, der danach auf keinem anderen Bild mehr zu sehen sein würde. 

Er läuft ebenfalls mit großen Schritten in Richtung Wald. 

Ebenfalls kurz davor in der Dunkelheit zu versinken.

Offenbar folgt er ihr. 

Man hat das Mädchen zu diesem Bild befragt und ihre Version lautet: Sie wollte

die Party früher verlassen und sich den 8km Weg Richtung Stadt allein bahnen. 

Der Weg ist, soweit ich das gesehen habe zwar markiert, aber um halb 3 Uhr

nachts bei fehlender Beleuchtung hilft das auch keinem.

Klassische Serienkillersituation, aber das schien sie nicht zu kümmern.

Von dem Bild habe sie nichts mitbekommen und auch nicht davon, dass der Junge

kurz nach ihr ging. Er habe sie weder angesprochen, noch sei er ihr gefolgt oder

habe sich sonst irgendwie bemerkbar gemacht.

Nachdem sie angeblich eine Weile im Wald umher irrte, musste sie kapitulieren

und sich eingestehen, dass sie den Weg nicht finden würde und ging zurück zur

Hütte. 

Wenige Meter davon entfernt die Hütte zu erreichen, hörte sie dann schließlich

den Schuss und rannte in die Hütte. 

Ihre Version.

Seine Version wird man wohl niemals hören. 

Auf die Frage, wie sie es geschafft hat, den Weg zurück zur Hütte zu finden ohne

sich zu verlaufen, hat sie selbst keine Antwort.

Man sieht niemanden sonst auf dem Bild und der Witzbold behauptet, es nicht

selbst gemacht zu haben, aber es hätte wirklich jeder sein Handy nehmen können.

Auch die Frage danach, warum das Bild entstand, führt ins Leere.

 

Ohne irgendwelche Beweise könnte man auf diesem Bild allein niemals eine

Anklage aufbauen.

Sinn- und zwecklos.

Zum Schluss könnte man jetzt noch die einzelnen Personen genau betrachten. 

Ihre Persönlichkeit ganz individuell. 

Man kann sich sicher für jeden der übrig gebliebenen fünf Personen ein passendes

Motiv zusammendichten, das ein Verbrechen rechtfertigt, aber ein Schritt nach

vorn ist das nicht. 


Naja, von wem reden wir hier? 

Da wäre die liebende Schwester. 

Wenn man mit seinem Bruder auf eine Party geht, sagt das allein ja schon einiges

über beide aus. Ihre hysterische Reaktion auf das Verschwinden ihres Bruder und

auf das Bild vom Handy des Witzbolds hielt jeder für authentisch. 

Ihr Wunsch nach Rache ist verständlich und auch der Wunsch jemanden dafür

hassen zu können, selbst wenn es die eigene beste Freundin ist. 

Sie war immer die, der man die Herzenswärme und den guten Willen im Gesicht

ablesen konnte. Wenn man über Gefühle reden wollte oder ein Kuchenrezept

brauchte, ging man zu ihr. 

Diese Sache im Wald würde sie verändern. 

Eine rachsüchtige Seite an ihr kam zum Vorschein, die nur darauf wartete ihren

Frust irgendwem ins Gesicht zu schreien. 

Der Witzbold. 

Der Idiot, der jedem auf die Nerven geht, den aber niemand aus der Gruppe wirft,

weil’s ohne ihn nur halb so lustig wäre.

Selbst wenn seine Witze so ausgelutscht sind, wie sämtliche Phrasen aus so gut

wie jedem amerikanischen Radio Pop Song, so sorgte er doch meistens dafür, dass

jeder Spaß hat. 

Dann wäre da der Älteste der Gruppe. 

Der Typ, den man einfach um sich haben wollte. Jemand der einen immer fünf

Minuten zu früh abholt und fünf Minuten zu früh zurück bringt. 

Der Typ, mit dem man nie zusammen sein könnte, aber man würde ihm immer

wieder den eigenen Lieblingsgoldfisch übers Wochenende anvertrauen ohne sich

Gedanken zu machen.

Der Typ, an den man sich im Notfall zuerst klammern würde und der, von dem alle

sagen würden, dass er der Letzte wäre, der jemanden umbringt oder entführt. 

Ja, auch er hat seine düsteren Seiten, aber wer kennt die schon? 

Er ist außerdem der Einzige, der so viel Kraft hat, dass er dazu in der Lage

wäre sie alle aufzufangen nachdem was passiert ist, aber das wollte er einfach

nicht. 

Für ihn bedeutet diese Gruppe nach dem Abend im Wald nichts mehr. 

Das Mädchen, das bis jetzt noch gar keine Rolle gespielt hat.

Die Jüngste in der Runde. 

Ein liebes Mädchen. 

Was soll man dem noch hinzufügen? 

Genauso farblos, wie diese Phrase ist sie nämlich auch. 

Oftmals einfach zu normal und zu glatt. 

Hin und wieder nervt sie, aber sie ist allgemein zu kantenlos, um sie einfach so aus

dem Freundeskreis zu werfen, auch wenn man wohl am ehesten auf sie hätte

verzichten können. 

Sie wirkt wie die Unschuld in Person mit ihren großen Kulleraugen und wenn man

sie sieht, will man ihr einfach nur einen Kakao machen und sie vor 9 ins Bett

bringen.

Sie ist nett.

Es ist wirklich leicht sie zu mögen.

Nur schwer sie zu lieben. 


Der verschwundene Junge.

Das klassische Arschloch, das hin und wieder seine netten Momente hatte,

 wenn er gerade mal wieder die Richtige getroffen hatte. 

Loyal seinen Freunden gegenüber, aber oft einfach zu hochmütig, als dass es für

andere Menschen erträglich wäre. 

Der größte Optimist dieser Stadt, der sich auch darauf verstand sich für seine

Arschlochmomente zu entschuldigen.

Diese Entschuldigungen endeten nicht mit einem melodramatischen Kuss unterm

Sternenhimmel. Er war im Kern ein normaler, anständiger Junge, der manchmal

eben ein Penner war, aber im Allgemeinen wusst er sich zu benehmen.

Damit war die Sache in der Regel erledigt und ein Nachspiel hatten sein Verhalten

nie. 

Ein Junge, der augenscheinlich nichts Schlimmes getan hat, was einen Mord

provozieren würde und dennoch lautet die Frage: Wo steckt er? 

 

Und zum Schluss das Mädchen, das zwischendurch wieder aufgetaucht ist. 

Ein manchmal zu fieses und zu pessimistisches Mädchen, das nicht gut allein sein

kann und sich deswegen in der Regel gern mit den anderen fünf Leuten umgibt.

Immer ein bisschen mit dem Kopf in den Wolken.

Immer ein bisschen verstrahlt.

Sie hatte schon immer etwas Aufrichtiges und Zerbrechliches an sich. 

Sie war immer sehr geheimnistuerisch, aber das hat niemanden gekümmert, weil

man ihr von der ersten Sekunde an ansah, dass sie eigene Kämpfe im Innern

austrägt. 

Sechs Leute.

Jeder von ihnen auf seine eigene Weise gebrochen. 

Fünf von ihnen potenzielle Mörder. 

Natürlich könnte es auch ein Fremder gewesen sein, aber wie stehen die Chancen

dafür in diesem kleinen 10.000 Seelen Dorf?

Zu diesem beklemmenden Kleinstadtgefüge gehört für sämtliche Eltern auch, dass

sie sich um ihre Kinder keine Sorgen machen müssen, solange sie mit Leuten

unterwegs sind oder besser gesagt mit Kindern von Leuten, die sie kennen

Und so hofften auch die Eltern des Jungen darauf und wir sehen ja, was daraus

geworden ist.

Und selbst wenn es ein Fremder war, warum ist dann unter den fünf Leuten aus

der Hütte einer unglaubwürdiger als der andere?

Niemand hat was gesehen, niemand weiß was und niemand hat was gemacht. 

Bei der Ankunft der Polizei in dieser Nacht wirkte jeder auf seine eigene Weise

schockiert und schuldig zugleich. 

Die beiden Beamten vor Ort haben erzählt, dass sie in diesem Wald, vor dieser

wunderschönen Hütte,  allein mit diesen fünf Menschen noch nie im Leben eine

solche Angst hatten.

Keiner von ihnen wirkte bedrohlich und doch sah man das eigene Leben an sich

vorbeiziehen, wie in einem schlechten Film, wenn man sie vor dieser Kulisse

betrachtete.

Ein Bild von fünf Menschen, die vor einer wunderschönen, hell leuchtenden Hütte

stehen. Neben ihnen ein mit Blaulicht ankommender Streifenwagen mit zwei

Beamten darin. 

Alle fünf im Halbkreis aufgestellt, wie drapiert. 

Dieses Bild wird mich noch eine Weile verfolgen.

Die Schwester, die kaum still stehen kann, hysterisch mit den Händen in der Luft

herum fuchtelt und währenddessen mehr mit sich selbst redet, als mit den

Anderen. 

Sie bewegt sich verzweifelt und verheult hektisch von a nach b. 

Die Sorge um ihren Bruder hat nun den Höhepunkt erreicht.

Der Witzbold, dem eine stille Träne nach der anderen die Wange hinunter läuft,

während er abwechselnd in Richtung Streifenwagen und Hütte blickt. 

Das Mädchen, das verschwunden und wieder aufgetaucht ist, starrt jetzt verstört

auf die Erde und gibt sich Mühe nicht die Fassung zu verlieren, während sich 

Mr. IchPasseAufDeinenGoldfischAuf darum bemüht, dass sie nicht den Halt

verliert, indem er sie an der Taille fest umklammert. 

Er redet auf sie ein und versucht sie wieder in die Realität zurück zu holen, aber

wer weiß, ob der Ort, an dem ihre Gedanken gerade feststeckten nicht noch

dunklere Aussichten bietet, als die Wahrheit, die vor ihnen allen liegt?

Würde sie nicht so unter Schock stehen, wäre sie vermutlich dazu in der Lage nicht

nur sich, sondern gleich sie alle 5 rauszuboxen, um über jeden Verdacht erhaben

zu sein. 

Ihre Überzeugungskraft war schon immer unglaublich. Im Normalfall könnte sie

selbst in einem Mordprozess mit Geständnis und Mordwaffe voller Fingerabdrücke

noch mindestens ein sechs zu sechs bei jeder Jury rausholen. 

Und das farblose Mädchen, das weder weint noch lacht. 

Sie steht nur da und blickt verzweifelt in die Richtung der Pessimistin im Arm des

Goldfischsitters.

Vermutlich würde sie sich dieser Umarmung gern anschließen, weil sie selbst

enorme Angst hat vor allem was noch kommen würde.

Auch der Witzbold würde sie bestimmt in den Arm nehmen, wenn er nicht gerade

zu sehr damit beschäftigt wäre, einen Kollaps zu vermeiden. 

Die Frage ist wohl, wer da wen getröstet und wer da wen gestützt hätte.

So wie sie da steht, könnte sie einem leid tun, aber man muss sagen: So läuft das

auf dieser Welt eben für farblose Mädchen. Sie bekommen nicht das, was sie sich

wünschen oder was sie brauchen, weil sie in der Ecke sitzen und zu große Angst

haben, darum zu bitten. 

Ein Experiment der Menschlichkeit, wenn man mich fragt. Das alles hier.

So habe ich dieses Bild schon immer betrachtet. 

Denn das ist es, was man vor sich sieht.

Man sieht fünf Leute, die die Wahrheit in der Erde vergraben haben und für die

Art, wie sie es getan haben, verdienen sie alle, jeder für sich einen Oscar.

So betrachtet man diese fünf Menschen und man sieht:

Ein Bild von Angst und Kalkül gemalt. 

Zu einer Anklage würde es nie kommen. 

Vielleicht war es keiner von ihnen und alle waren einfach zu blau, um sich an

irgendwas zu erinnern, daher die seltsamen Geschichten, die sich

überhaupt nicht decken.

Vielleicht war es einer von ihnen und auf abstruse Weise decken ihn alle anderen. 

Vielleicht waren es mehrere und vielleicht waren sie es alle. 

Ich weiß es nicht und inwiefern sie alle lügen, wird man wohl nie sagen

können. 

Was man aber jetzt bereits sagen kann, ist, dass keiner von ihnen die Wahrheit

sagt. 

Sie sagen alle, dass sie sich Sorgen um ihren Freund machen und nicht wollen, dass

ihm etwas zustößt.

Doch wie groß kann meine Sorge sein, wenn ich dazu in der Lage bin ein

vermutlich den Fall aufklärendes Geheimnis schweigend mit mir rum zu tragen

und mit einer Lüge im Herzen zu sterben, die ihn vielleicht das Leben gekostet hat?

Jeder muss sich jetzt selbst überlegen, was die Wahrheit ist. Die eigene Wahrheit.

Was stimmt und was stimmt nicht? 

Ich weiß es zum Teil selbst nicht so richtig. 


Man würde den Jungen jedenfalls nie finden. 

Ich könnte jetzt fragen, ob das was ändert, aber ich kenne die Antwort.

Klassischer Fall von: Sowas ist tragisch, aber passiert ja doch nur anderen

Menschen und trotzdem schauen wir uns nachts allein in der Unterführung des

Bahnhof gelegentlich um, wenn wir ein Geräusch hören.

Als wären Bundy oder Pennywise persönlich hinter uns. 

Während man einen guten Film sieht, ein gutes Buch liest, einen guten Song hört

(…), fühlt man sich eben für einen kleinen Moment besonders, bis einem wieder

einfällt, dass man kein Teil dieser Geschichte ist und nie einer war. 

Einem hat nur für einen Moment der Gedanke gefallen, es wäre so. 

9 thoughts on “Fünf Meter

  1. Hi,
    mir hat Deine Geschichte wirklich unglaublich gut gefallen. Sie ist wirklich gänzlich anders, als alle, die ich bisher hier gelesen habe. Hut ab!
    Mir gefällt der Erzählstil sehr, der eines unbeteilgten, aussenstehenden Betrachters. Klasse finde ich, dass es keine klassische Story in der Story selbst gibt. Was passiert ist oder sein mag, muss jeder Leser für sich selbst finden. Dass es auch keine Auflösung am Schluss gibt, und den Leser weiter in seiner eigenen Fantasie zurücklässt, finde ich großartig.
    Einer meiner bisherigen Favoriten hier!

    P.S. vielleicht hast Du ja Zeit und Lust, auch meine Geschichte zu lesen. >> Glasauge
    Über ein Feedback würde ich mich sehr freuen.

  2. Hallo Lea, deine Geschichte hat mich einfach Mega überrascht, weil sie anders ist als die anderen Geschichten, die ich bisher gelesen habe. Ich hab auch wirklich ein paar Zeilen gebraucht, um reinzufinden. Was ich ganz besonders mag, ist die Tatsache, dass die Menschen keine Namen haben – man aber dennoch sofort weiß von wem du sprichst. Irgendwie könnte man die Figuren dadurch austauschen, aber auch so gar nicht.
    Ein kleines Seelendorf waren für mich auf jeden Fall weniger als 10000 Menschen und eine Erklärung zum Titel würde mich noch interessieren.
    Irgendwie ist es wirr, etwas aggressiv, unglaublich ehrlich und wird mir auf jeden Fall im Gedächtnis bleiben.
    Liebe Grüße, Jenny / Madame_papilio

  3. Moin Lea,

    was ist denn das bitte? Ist das ne Abschlussklausur im Fach Psychologie? Richtig, richtig gut! Etwas ganz anderes, als alles was ich zuvor gelesen habe. Originell, voll Wortwitz und absolut authentisch! Man fühlt die Storie und die Fragen bleiben trotzdem! Stark!

    Mein Like hast du…

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

  4. Mehr Analyse als klassische „Story“ ist Deine Geschichte auf jeden Fall besonders. Vor allem durch die Erzählweise dieser moralischen Instanz, die gleichzeitig wissend wie desillusioniert wirkt. Und das offene Ende… Hast Du ein Ende für Dich? Wer erzählt uns das alles und woher weiß er oder sie, was er oder sie weiß? Gefällt mir jedenfalls in der ganz eigenen Analytik sehr gut.

  5. Moin Lea,

    Also..das ist eine wirklich tolle Geschichte! Auch, wenn viele Parameter vorgegeben waren, hatte man das Gefühl, viele Autoren nehmen diese Vorlagen, packen eine 08/15 Story dazu und laden sie hoch. Du nicht. Und das ist großartig!

    Die Perspektive eines Menschen von außen, das hab ich bisher noch gar nicht gelesen! Respekt! Auch diese Erzählart, mit ein wenig “mir doch egal” und schulterzuckend, gefält mir sehr gut!

    Deine Geschichte hat definitiv ein paar Likes verdient, hier ist meins!

    LG Chris
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/identitaet-6

  6. Deine Geschichte verdient deutlich mehr Likes und Aufmerksamkeit. Du hast eine sehr interessante Idee entwickelt Der Schreibstil ist flüssig und lässt sich super lesen. Du wirfst Fragen auf, die bis zu dem weiterhin offenen Ende nicht vollständig beantwortet werden. Und trotzdem, oder gerade deswegen, ist die Geschichte insgesamt wirklich sehr gut.
    Mein “Like” gebe ich Dir gerne.
    LG
    L. Paul (Die Mutprobe)

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