Ela EffpunktGaslampe

„Frau Vangelis, gut, dass ich Sie erreiche. Der Stalker war wieder da und hat mir einen Drohbrief da gelassen. Bitte, können wir kurzfristig einen Termin vereinbaren? Ich drehe noch völlig durch.“ – „Natürlich, Herr Fontana. Lassen Sie mich mal schauen. Morgen ist leider nichts mehr frei, aber können Sie übermorgen um 14 Uhr in meiner Praxis sein?“ – „Vielen Dank, ja, das schaffe ich. Bis Samstag dann!“

***

„Haben Sie das alles schon in Ihre No Stalk-App[1] eingetragen?“, will Simone nach den erschreckenden Schilderungen ihres attraktiven Patienten Leano Fontana wissen. „Klar, das habe ich sofort gemacht. Frau Vangelis, mein Leben ist nur noch die Hölle. Diese ständige Angst, ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte. Und das ist ja noch nicht alles. Ich habe Ihnen ja von meinem Bruder erzählt. Seitdem er mich bei der Scheidung von meiner Ex so unterstützt hat, stehen wir uns näher als je zuvor und er steht kurz vor dem Ausrasten. Wenn ich rausfinde, wer mich terrorisiert, habe ich echt Sorge, dass Carlo irgendwas Dummes macht und sich damit selbst in Schwierigkeiten bringt. Das würde mich fertig machen.“ – „Sie sollten mit Carlo über Ihre Befürchtungen sprechen. Vielleicht können Sie ihm so etwas den Wind aus den Segeln nehmen und ihn zur Vernunft bringen, wenn Ihre Sorge sich als berechtigt herausstellen sollte.“, gibt Simone Leano noch mit auf den Weg aus ihrer Praxis und verabschiedet ihn mit einem ermunternden Lächeln.

Nachdem sie noch ein paar Anrufe vom Anrufbeantworter abgehört und zurückgerufen hat, schließt sie ihr Büro ab und geht in den Behandlungsraum nebenan, um die Pflanzen zu gießen und auch diesen abzuschließen. Bei Verlassen des Raumes fällt ihr Blick auf einen schwarzen Gegenstand auf ihrem weißen Ledersessel, der sich als Smartphone entpuppt. Das muss Herrn Fontana aus der Tasche gefallen sein, nimmt sie an und steckt es ein, um es ihm auf dem Heimweg vorbei zu bringen.

Simone lässt sich erschöpft in den Autositz sinken und reibt sich die Schläfen. Diese Kopfschmerzen wollen in letzter Zeit einfach kein Ende nehmen. Sie atmet durch und steckt gerade den Zündschlüssel ins Schloss, als neben ihr der Sperrbildschirm des Smartphones aufleuchtet. Vielleicht ja ein Versuch, sein Handy ausfindig zu machen. Zu sehen ist eine Nachricht: „Es gibt Neuigkeiten in Ihrem Fall. Kennen Sie diese Person?“ Kurz darauf folgt die Bildvorschau eines Fotos, das Simones Atem stocken lässt. Kurzerhand wirft sie das Smartphone zurück auf den Beifahrersitz und gibt Gas.

 

Zuhause angekommen, ist Simones Mann Kilian bereits dort und trainiert an seinem Boxsack. Verschwitzt unterbricht er sein Training und kommt auf Simone zu, um sie mit einem Kuss zu begrüßen.

„Geht’s dir gut? Du schaust aus, als hättest du einen Geist gesehen. Wo warst du überhaupt? Wolltest du nicht heute eigentlich zuhause bleiben?“ – „Es gab einen Notfall und ich musste kurzfristig doch in die Praxis. Ich habe nicht damit gerechnet, dass du schon hier sein würdest, sonst hätte ich was zu Essen mitgebracht. War denn heute auf dem Präsidium nichts los?“

Kilian zieht argwöhnisch eine Augenbraue nach oben. „Was ist nur los mit dir? Heute ist die Nacht der Museen, wir haben einen Tisch im African Queen reserviert und danach leistest du mir Gesellschaft, wenn ich im Kriminalmuseum aushelfen muss, und lernst meine Kollegen kennen.“ – „Davon hast du mir gar nichts erzählt. Schatz, sei mir bitte nicht böse, aber heute ist mir nicht danach“, jammert Simone und wirft sich auf die Couch. „Das ist jetzt bitte nicht dein Ernst. Du selbst hast den Tisch im Restaurant reserviert. Und ich verlange wirklich nicht viel. Es geht um diesen Abend und du weißt genau, wie wichtig es mir ist. Wie stehe ich denn vor den Kollegen da, denen ich gesagt habe, dass du mitkommst? Ist dir das eigentlich völlig egal?“

Während Kilian wütend seine Boxhandschuhe auf den Boden wirft und zum Kühlschrank geht, schließt Simone die Augen und reibt sich die Schläfen. Verwirrung mischt sich mit schlechtem Gewissen. Wann habe ich denn reserviert? Das müsste ich doch wissen.

Sie wird jäh aus ihren Gedanken gerissen, als Kilian ihr Portmonee neben sie auf das Sofa fallen lässt. „Dir ist aber schon klar, dass der Begriff ‚Geld einfrieren’ anders gemeint ist, ja?“ Fragend lässt Simone ihren Blick zwischen ihrem Portmonee und Kilian hin und her wechseln. „Was meinst du damit?“ – „Ich habe deinen Geldbeutel im Eisfach gefunden. Simone, mal ganz ehrlich, ich mache mir Sorgen um dich. Auch unseren Freunden ist schon aufgefallen, dass mit dir was nicht stimmt. Du wirkst völlig zerstreut, verlegst laufend Dinge, vergisst, was wir besprochen haben, versuchst, mir die Worte im Munde rumzudrehen. Manchmal habe ich den Eindruck, du bist nicht mehr du selbst. Vielleicht bist du ja schizophren oder so, mit verschiedenen Identitäten halt. Oder du wirst dement. So kannst du doch jedenfalls nicht mehr Patienten behandeln, wenn du nicht mehr weißt, was du tust.“ – „Oh bitte, bist du nun auf einmal Psychologe und nicht mehr Polizist, dass du meinst, irgendwelche Diagnosen in den Raum zu werfen? Nur zu deiner Info, was du meinst, nennt sich ‚dissoziative Identitätsstörung’ und nicht Schizophrenie und ich habe nichts dergleichen“, wirft Simone ihm scheinbar selbstsicherer an den Kopf, als sie sich innerlich fühlt, und lässt Kilian mit gerunzelter Stirn im Wohnzimmer zurück.

Kilian betrachtet das Smartphone in seiner Hand, das er in Simones Handtasche gefunden hat, ihr aber nicht gehört. Die Bildvorschau der Whatsapp auf dem Sperrbildschirm zeigt unverkennbar seine Frau, die dabei ist, einen Umschlag in den privaten Briefkasten eines Wohnhauses einzuwerfen. Das hell getünchte Einfamilienhaus liegt im Dämmerlicht, die Rolladen sind heruntergelassen. Simone trägt ihre schwarze Lieblingsjogginghose und einen dunkelblauen Hoodie.

Mit Kopfhörern im Ohr liegt Simone auf dem Bett und versucht, sich auf die Anleitungen zur Progressiven Muskelentspannung zu konzentrieren, doch es will ihr nicht so recht gelingen, denn ihr schwirrt der Kopf vor Gedanken. Was ist nur los? Hat Kilian Recht? Bin ich wirklich krank? Eine Gefahr für meine Patienten? In letzter Zeit häufen sich wirklich die merkwürdigsten Dinge, das stimmt schon. Aber sollte ich als Psychotherapeutin nicht die Anzeichen kennen und bemerken? Oder bin ich schon zu verwirrt, um das beurteilen zu können? Ich sollte mich mal meinem Supervisor anvertrauen, vielleicht versteht er, was mit mir los ist.

Abrupt werden ihr die Kopfhörer aus den Ohren gezogen. Kilian. „Kannst du mir mal verraten, was das hier ist? Wieso ist da ein Foto von dir drauf? Wer hat das gemacht und wo bist du da? Hast du eine Affäre? Wirst du erpresst? Verdammt noch mal, rede endlich mit mir. Bist du deswegen so komisch?“ Er wirft das Smartphone neben Sie aufs Bett. Simone steigen die Tränen in die Augen und sie merkt, wie ihre Anspannung wächst. „So ist es nicht, ehrlich. Ich habe das Handy heute in meiner Praxis gefunden, es muss einem Patienten von mir gehören. Die Nachrichten sind also nicht für mich.“ – „Und wieso wird deinem Patienten ein Foto von dir geschickt? Du hast auch noch nicht gesagt, wo du da bist.“ Simone gibt sich geschlagen, ihren Mann mit möglichst wenig Informationen füttern zu wollen. „Kilian, ich weiß nicht, wer das Foto geschickt hat. Aber das Haus, das auf dem Foto zu sehen ist, ist das Haus, in dem der Patient lebt. Er wird gestalkt und vermutlich hat ein Privatermittler ihm das Foto geschickt.“

Kilian setzt sich auf das Bett und hält kurz inne. „Du stalkst deinen Patienten? Hast du doch eine Affäre oder hättest gern eine mit ihm oder was soll das?“ – Nein, das verstehst du falsch. Ich stalke ihn nicht und ich habe auch keine Affäre.“ Kilians misstrauischer Blick spricht Bände. „Wenn das so ist, dann können wir das ja ganz schnell aufklären. Dein Patient wird ja wissen, dass du ihm etwas hast zukommen lassen. Was war es denn? Ein Gutachten? Eine Rechnung? Es wird ja auch nicht zwingend jeder zum potentiellen Stalker, der sich in der Nähe des Hauses aufhält.“ – „Da gibt es allerdings noch ein anderes Problem. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, was ich dort eingeworfen habe. Ich erinnere mich nicht mal, dort gewesen zu sein.“ – „Woher weißt du dann, dass es sein Haus ist?“ – „Weil ich auf dem Heimweg vorbeigefahren bin, um mich zu vergewissern. Es tut mir Leid, ich glaube, du hattest die ganze Zeit Recht. Irgendwas stimmt nicht mit mir.“ Nun kann Simone ihre Tränen und das verzweifelte Schluchzen nicht länger zurückhalten.

Sie spürt Kilians starken Arme, die sich um sie legen und sie an ihn heranziehen. „Keine Sorge, wir schaffen das. Wir behalten das alles einfach für uns und sprechen mit niemandem darüber. Aber du solltest in dem Zustand wirklich nicht mehr arbeiten gehen, sondern besser zu Hause bleiben. Wer weiß, wozu du noch fähig bist?“ Mit tränenerstickter Stimme widerspricht Simone ihrem Mann. „Ich wollte mal mit meinem Supervisor sprechen. Er kann vielleicht als Fachmann objektiver beurteilen, was mit mir los ist und ob das gefährlich ist. Und ich muss auch meinen Patienten aufklären. Er lebt in permanenter Angst und ich bin es ihm schuldig, das aufzuklären. Es war ja keine böswillige Absicht von mir.“ – „Simone, das solltest du wirklich lassen. Dein Supervisor ist dazu verpflichtet, es zu melden, wenn er meint, es sei Gefahr in Verzug. Da greift auch keine Schweigepflicht mehr. Und dein Patient wird hundertprozentig Strafanzeige stellen, wenn er weiß, wer ihm das alles angetan hat. Wenn er nicht sogar völlig ausrastet und dir was antut. Und welches Gericht sollte dir glauben, dass du nichts mehr davon weißt? Sowas ist schnell gesagt, aber nicht zu beweisen. Dazu kommt noch, dass du als Psychologin sowieso besonders auf dem Prüfstand stehst, weil du ganz genau weißt, was du sagen musst, um einen bestimmten Eindruck zu erwecken. Niemand wird dir glauben. Und für mich kann es auch dienstlich schlimme Konsequenzen haben, wenn rauskommt, dass ich dich dabei unterstütze, eine Straftat zu decken. Versprich mir bitte, dass du mit niemandem darüber sprichst, sonst kann ich dich nicht mehr beschützen.“ – „Ich verspreche es. Danke, dass du noch zu mir hältst, obwohl ich so oft gesagt habe, dass du dich irrst“, gibt Simone kleinlaut zurück.

***

Am Montag sitzt Simone nervös und nägelkauend im Wartezimmer ihres Supervisors Viktor Baumann. Trotz ihres Versprechens gegenüber Kilian hat sie bis zuletzt mit sich gehadert, ob sie Viktor nicht doch alles erzählen solle, um sich den Rat eines Außenstehenden einzuholen, doch sie ist zu beschämt und hat panische Angst. Angst vor den möglichen Konsequenzen, Angst vor der Wahrheit, Angst, sich ihrer eigenen Identität nicht mehr sicher zu sein. „Simone, hören Sie? Sie können reinkommen.“

Simone hat große Mühe, sich auf das Gespräch über Schwierigkeiten in ihren Therapien zu konzentrieren. Viktor kennt sie seit etwa fünf Jahren, lange genug, um zu merken, dass sie heute nicht ganz bei der Sache ist. „Sie wirken heute sehr unruhig und angespannt. Geht es Ihnen nicht gut?“ Seine Mimik drückt ehrliche Besorgnis aus und doch schwankt Simone zwischen Angst, Scham und ihrem bis dahin ungebrochenen Vertrauen zu ihrem Supervisor mit den freundlichen Augen. Schließlich gibt sie sich einen Ruck und redet.

Viktor hört geduldig zu, wie sich Simone tränenüberströmt alle aufgestauten kleinen und großen Ereignisse der letzten Monate von der Seele redet, stellt hier und da eine gezielte Frage, um mögliche Störungsbilder zu bestätigen oder auszuschließen. Schließlich wird Simone etwas ruhiger, ein Stück weit ist die Anspannung von ihr abgefallen. Viktor reicht ihr ein weiteres Taschentuch und schenkt sich etwas Wasser nach. Simone hat ihres noch nicht angerührt, zu beschäftigt war sie mit ihren Schilderungen. „Simone, ich denke, ich kann Sie insofern etwas beruhigen, dass ich Sie nicht für gefährlich halte und auch nicht davon ausgehe, dass Ihre Verdachtsdiagnosen auf Sie zutreffen. Das ist natürlich nur ein erster Eindruck und müsste durch weitere Untersuchungen, zum Beispiel beim Neurologen oder durch Fremdanamnesen, abgesichert werden. Aber bitte beschreiben Sie mir doch noch mal ganz genau das Foto von Ihnen vor dem Haus Ihres Patienten.“

Unruhig geht Simone in ihrem Büro auf und ab. Bereits zum vierten Mal hat sie die Festnetznummer ihres Patienten Leano Fontana in ihr Telefon eingegeben und so lange gezögert mit dem Betätigen der Taste mit dem grünen Hörer, bis die Nummer wieder vom Display verschwunden ist. Sie ruft sich noch mal Viktors Worte in den Sinn, um dann allen Mut zusammen nehmen zu können, und gibt die Nummer ein letztes Mal ein.

Leano meldet sich nach dem zweiten Klingeln. „Hallo?“ Seine Stimme klingt ebenso nervös wie Simone sich gerade fühlt, so dass sie kurz vergisst, sich zu melden. „Wer ist da? Hören Sie, lassen Sie mich…“ – „Hier ist Simone Vangelis“, fällt Simone ihm ins Wort, bevor er noch mehr in Stress geraten oder einfach auflegen kann. Sie hört ein erleichtertes Aufatmen am anderen Ende und fortan Leanos freundliches Lächeln in der Stimme. „Frau Vangelis, wie schön, von Ihnen zu hören. Tut mir Leid, dass ich Sie so angefahren habe, aber ich wusste nicht, wer da ist. Ich habe Ihre Nummer nicht in meinem Festnetz gespeichert, nur im Handy.“ – „Gar kein Problem, das ist nur verständlich in Ihrer Situation. Auf Ihrem Handy anzurufen hätte aber wohl keinen Sinn gemacht, denn das liegt seit Samstag bei mir zu Hause. Sie haben es nach unserem letzten Termin bei mir in der Praxis vergessen.“ Hörbare Verwirrung am anderen Ende. „Was meinen Sie? Mein Handy liegt vor mir. Ich hatte es zwar am Samstag eine Zeit lang nicht gefunden, aber als ich zum Auto ging, um da nachzugucken, lag es in der Rinne zwischen Bordstein und meinem Wagen.“

Simone weiß nicht mehr, was sie denken soll. Hat Kilian das Handy dahin gebracht? Aber woher sollte er wissen, um welchen Patienten es sich handelt? Kann er so schnell den Besitzer des Smartphones ermitteln? Aber warum macht er das? Er wollte doch, dass das unter uns bleibt. Oder er hat das Foto gelöscht, denn sonst hätte Herr Fontana wohl schon längst die Polizei zu mir geschickt und wäre wohl kaum so freundlich zu mir… „Frau Vangelis, sind Sie noch da?“ – „J-ja klar, äh, dann muss das ein Irrtum gewesen sein, vielleicht ist es doch das Handy von einem anderen Patienten. Was gibt es bei Ihnen Neues? Ist der Drohbrief eigentlich auf Fingerabdrücke untersucht worden?“ – „Natürlich, der Brief wurde direkt in die KTU[2] gegeben. Aber leider nichts darauf zu finden, der Täter ist sehr gründlich und hat keine verwertbaren Spuren hinterlassen.“ Simone ist verwirrt und erleichtert zugleich. Mit einer Bestätigung des nächsten Termins verabschiedet sie sich von Leano.

Sofort wählt sie die Nummer von Viktor Baumanns Praxis und erzählt ihm von ihrem Gespräch mit ihrem Patienten. „Ich habe auf dem Foto keine Handschuhe getragen. Wenn ich den Drohbrief eingeworfen hätte, hätten also Fingerabdrücke zu finden sein müssen.“ – „Außerdem ist weiterhin ungeklärt, ob Sie nun wirklich das Handy Ihres Patienten hatten und es irgendwie wieder zu ihm gelangt ist, nachdem die Nachrichten gelöscht wurden, oder ob es gar nicht sein Handy ist. Seine Handynummer angerufen haben Sie ja leider nicht.“ – „Das hielt ich für unnötig, für mich war klar, dass es nur von ihm sein konnte. Von wem sollte es denn sonst sein? An dem Tag hatte ich nur diesen einen Termin, sonst war niemand da. Die Nachrichten passten genau zu der Situation, in der er sich befindet. Und überhaupt, das mit dem Handy ändert auch nichts daran, dass ich mich nach wie vor nicht erinnern kann, jemals an dem Haus meines Patienten gewesen zu sein, geschweige denn, dort etwas in den Briefkasten geworfen zu haben.“

Viktor ließ sich nicht beirren. „Gibt es die Möglichkeit, auch ohne Ihr Beisein in Ihren Behandlungsraum zu kommen?“ – „Solange ich da bin, schon, ja. Der Raum wird nicht abgeschlossen, auch, wenn ich im Büro bin, denn da ist ja nichts, was keiner sehen darf oder für Diebe interessant sein könnte. Die Haustüre ist auch immer entriegelt, so lange ich da bin, damit meine Patienten ohne Klingeln in den Wartebereich durchgehen können.“ – „Und gibt es irgendwo Überwachungskameras?“ Gute Idee.

Simone stöbert in den Aufnahmen ihrer Kamera vom Eingangsbereich und dem Parkplatz, der zum Haus gehört. Sie ist bereits an der Stelle angelangt, in der Leano die Praxis verlässt und zu seinem Auto geht. Warum bleibt er denn stehen?, fragt sie sich und versucht krampfhaft, einen sichtbaren Grund dafür zu erkennen. Eine leichte Drehung und sie kann sehen, dass ihr Patient mit seinem Smartphone beschäftigt ist. Es kann also nicht seins sein, das ich gefunden habe. Aber sonst war doch niemand da. Habe ich vielleicht doch eine Identitätsstörung und es selbst dort platziert? Gab es das Handy überhaupt oder habe ich mir das eingebildet? Ich habe es Viktor ja nicht zeigen können, also habe ich niemanden außer Kilian, der mir meine Wahrnehmung bestätigen kann. Während Simone noch über die Ereignisse grübelt, sieht sie auf einmal im Augenwinkel eine unerwartete Bewegung in der Kameraaufzeichnung. Sie lässt die Aufnahme ein Stück zurück laufen. Was sie dann zu sehen bekommt, lässt ihr das Blut in den Adern gefrieren und ihre Welt zusammenbrechen…

***

Einen Monat später sitzt Simone mit ihrer alten Freundin Anna auf einer Parkbank auf dem Klinikgelände. „Nicht zu fassen, dass du jetzt hier bist. Ich muss ehrlich sagen, ich habe schon länger den Eindruck gehabt, dass irgendwas nicht stimmt. Ich habe auch ab und zu vorsichtig versucht, dich darauf anzusprechen, aber irgendwie hast du dich da immer rausgewunden oder Entschuldigungen gefunden für alles, was mir merkwürdig vorkam.“ – „Ich weiß. Irgendwie wollte ich es wohl nicht wahrhaben. Ich habe mich einfach nur geschämt, hatte Angst und habe mir selbst und meiner Wahrnehmung nicht mehr getraut. Im Leben wäre ich nicht darauf gekommen, was sich schlussendlich herausgestellt hat. Nie hätte ich gedacht, dass mir das passieren kann und ich es als Psychologin noch nicht mal bemerke. Viktor hat mir sehr geholfen, alles ins rechte Licht zu rücken und jetzt geht es mir schon deutlich besser. Ich war nur noch ein Wrack, als ich hierher kam.“ Anna legt den Arm um Simone und drückt sie fest an sich. „Was ich nicht verstehe: Er hat ja das Handy da heimlich platziert. Aber woher wusste er von deinem Patienten, dass er gestalkt wird und das alles?“ – „Da hat er die Vorteile seines Berufs genutzt. Ein IMSI-Catcher[3]. Damit hat er mein Telefonat mit meinem Patienten abgehört. Mein Patient hatte ja gesagt, dass es um Stalking geht und dass er einen Drohbrief bekommen hat. Und es wurde auch besprochen, wann genau er bei mir in der Praxis sein würde. Daher war es ein Leichtes für ihn, den Moment abzupassen, als mein Patient weg war und dann das Handy bei mir in der Praxis zu platzieren. Selbst, wenn ich Kilian gesehen hätte, hätte ich womöglich keinen Verdacht geschöpft, denn er hätte ja einfach sagen können, dass er mein Auto vor der Praxis gesehen hätte und mich hätte besuchen wollen. Aber er hatte Glück, dass ich noch im Büro beschäftigt war und nichts mitbekommen habe. So musste er nur noch den Moment abpassen und mir die Nachricht und das Foto zukommen lassen.“

„Aber wie ist denn dieses Foto zustande gekommen? Du warst doch nie bei deinem Patienten zu Hause.“ – „War ich auch nicht. Die Erklärung ist so simpel, dass es kaum zu glauben ist, dass ich darauf hereingefallen bin und es nicht eine Sekunde infrage gestellt habe. Eine Fotomontage. Er hat mich einen Tag nach besagtem Telefonat, das er mitgehört hatte, telefonisch gebeten, ein Schreiben, das zu Hause lag, in einen bestimmten Briefkasten einzuwerfen, damit der Brief noch mit der Spätleerung abgeholt werden würde. Er habe das vergessen und es sei aber wichtig. Während dieses Gefallens muss er mich heimlich fotografiert haben. Herauszufinden, wo mein Patient wohnt, war für ihn als Polizist natürlich ganz einfach. Er musste nur noch Aufnahmen von dessen Haus machen und hatte alles, was er für seine Fotomontage brauchte und um mir quasi den letzten Dolchstoß zu geben. Wer rechnet denn auch damit, dass ausgerechnet ein Mensch, der einem so nahe steht, so perfide und von langer Hand geplant vorgeht. Hier mal steif und fest etwas behauptet, was ich gesagt oder getan haben soll, da mal persönliche Gegenstände an die abstrusesten Orte gelegt. Mich über vermeintliche Äußerungen von anderen isolieren, die mir ansonsten die Augen öffnen könnten. Und mich Stück für Stück immer mehr an mir selbst und meiner Wahrnehmung zweifeln lassen. Und genau so ist es. Irgendwann stellst du alles infrage. Deine Handlungen, deine Erinnerungen, deine Identität. Und genau das ist das Ziel eines ‚Gaslighters’.“

 

 

 

Gaslighting“:

Gaslighting ist die Form einer Manipulationstechnik, eines emotionalen Psychoterrors bzw. systematischen Missbrauchs, bei dem der Missbraucher dem Opfer falsche Informationen gibt, die darauf abzielen, dass das Opfer seiner eigene Wahrnehmung misstraut, schließlich seinen eigenen Verstand und seine psychische Gesundheit in Frage stellt. Die Absicht dieser Aktionen ist es, die Betroffenen zu verwirren, sie einzuschüchtern und zutiefst zu verunsichern. Der Täter oder die Täterin arrangiert dabei etwa die Umwelt des Opfers so, dass dieses an seiner Wahrnehmung der Realität zu zweifeln beginnt, allmählich unsicher wird, immer mehr in eine Verteidigungshaltung gerät. Auf persönlicher Ebene werden betroffene Menschen isoliert, denn sie glauben allmählich, was der Täter oder die Täterin behauptet. Irgendwann versucht diese oder dieser Betroffene, das eigenes Leben zu ändern, und sich den vermeintlichen Realitäten anzupassen. Nur selten ist die Manipulation den Tätern nicht bewusst, denn die meisten handeln berechnend und ohne Rücksicht auf ihre Opfer. Diese Form des subtilen Psychoterrors steht oft in Verbindung mit Mobbing oder Bossing, kann aber auch in Paarbeziehungen, Familien- oder Nachbarschaftsstreitigkeiten vorkommen und wird oft von Menschen mit einer narzisstischer Persönlichkeitsstörung eingesetzt. Unter den TäterInnen findet man daher häufig NarzisstInnen, die nach außen hin selbstbewusst und souverän wirken, aber unter einem geringen Selbstwertgefühl leiden und ständige Aufmerksamkeit, Lob und Anerkennung benötigen, um ihre Unzulänglichkeitsgefühle zu kompensieren. […]

Eine spezielle Form des Gaslighting ist dabei das Eindringen eines Unbekannten in die Wohnung eines Opfers in dessen Abwesenheit, um Gegenstände zu manipulieren, die Wohnungseinrichtung zu verändern, die Arbeit der Betroffenen zu sabotieren oder deren Computer zu manipulieren. […] Manchmal sind es keine drastischen Vorfälle wie oben beschrieben, sondern kleine Entwertungen im Alltag, etwa Sätze wie: “Was redest du da? Das ist doch paranoid!”[…] Dabei werden Erinnerungen in Frage gestellt, Ereignisse dargestellt, die nie passiert sind, d. h., die eigene Erfahrung wird durch den anderen so manipuliert, dass das Opfer sich später schuldig fühlt, auch wenn es nichts falsch gemacht hat. […]

Der Begriff „gaslighting“ leitet seinen Namen vom Theaterstück bzw. Film “Gas Light” mit Ingrid Bergmann ab. In diesem Stück versucht ein Mann seine Frau durch Manipulieren von Gegenständen in ihrer Umgebung in den Wahnsinn zu treiben. Der Film erhielt seinen Titel aufgrund jener Szene, in der der Ehemann die Gaslampen im Raum unbemerkt ein wenig dimmt und seiner Frau einzureden versucht, das Licht im Raum habe sich nicht geändert und es sei bloß ihre Einbildung, die ihr einen Streich spiele.

 

Stangl, W. (2020). Stichwort: ‘Gaslighting’. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
WWW: https://lexikon.stangl.eu/16150/gaslighting/ (2020-04-28)

 


[1] App der WEISSER RING Stiftung zur vereinfachten Dokumentation und zur verschlüsselten Übermittlung von Stalking (https://nostalk.de/)

[2] Kriminaltechnische Untersuchung

[3] Gerät, das Strafverfolgungsbehörden nach Genehmigung eines Richters zur Überwachung der Telekommunikation von Bürgern einsetzen

17 thoughts on “Gaslampe

  1. Hey, finde deine Geschichte echt gut, aber mir fehlt leider mehr Info zwischen „Sie entdeckt Kilian auf der Aufnahme“ und „Sie erzählt es ihrer Freundin.

    Ich verstehe leider nicht, wieso sie in einer Klinik ist und wie sie Kilian überführen konnte etc. (Also was geschehen ist, wie er überführt wurde, ist sie direkt zu ihm gegangen)?

    Ansich aber eine sehr gute Geschichte, am Ende gefällt mir die Aufklärung des Psychoterrors sehr gut! 🤗

    1. Hey, vielen Dank für deine Rückmeldung 😊
      Über den Übergang habe ich etwas länger gebrütet und mich dann für den übergangslosen plötzlichen Szenenwechsel entschieden, um zum einem den Leser im Gespräch mit Anna noch ein wenig in die Irre zu führen und es zum anderen der Phantasie des Lesers zu überlassen, wie die Überführung stattgefunden hat (z.B. mit Unterstützung des Supervisors, direkte Verständigung der Polizei oder Konfrontation mit Kilian [in der psychischen Verfassung eher unwahrscheinlich]).
      Sie ist in der Klinik, um den lang andauernden Psychoterror und den Schock zu verarbeiten, dass ausgerechnet eine der engsten Bezugspersonen ihr solchen Schaden zugefügt hat (“Was sie dann zu sehen bekommt, lässt ihr das Blut in den Adern gefrieren und ihre Welt zusammenbrechen…”). Und natürlich auch, um den Leser erstmal noch auf falscher Fährte zu belassen 😅

      1. Okay, das habe ich mir fast gedacht. Auch das mit der Klinik, wollte nich aber vergewissern ☺️ Habe dir ein like hinterlassen, die Story hat mir gut gefallen ☺️😊

  2. Liebe Ela,
    insgesamt hat mir deine Geschichte sehr gut gefallen! Die Parameter wurden weitestgehend gut umgesetzt und ich empfand die Geschichte als sehr spannend 🙂
    Was mir auch gut gefallen hat, ist dein Schreibstil. Er liest sich sehr flüssig und angenehm.
    Was mich ein bisschen gestört hat, waren die Fußnoten und dass die Auflösung ein wenig vorhersehbar war.
    Dann würde ich gerne noch wissen, ob Kilian auch von einem Rachemotiv angetrieben wurde? Oder handelt er „nur“ aufgrund des Gaslightings?
    Der Titel gefällt mir übrigens auch super gut – vor allem, weil er sich erst ganz am Ende erschließt!

    Mein Like hast du und ich drücke dir die Daumen für das Voting 🙂
    Liebe Grüße

    1. Danke für deine positive Rückmeldung, Kathrin. Dass die Fußnoten gestört haben, kann ich gut nachvollziehen, da man bei der Formatierung hier ganz nach unten scrollen muss.
      Kilian handelt nicht aus Rache, da Simone nichts getan hat, sondern das Motiv ist Macht. Mir ist bewusst, dass auf diese Weise die Hauptfigur meiner Geschichte kein dunkles Geheimnis hat, unter dem der Gegner leidet, sondern wollte nur möglichst lange den Eindruck erwecken, als ob es so wäre.
      Danke für dein Like, liebe Grüße 😊

  3. Liebe Ela, deine Geschichte ist toll und die Infos zum “gaslighting” sind super interessant. Wieder etwas gelernt! Ich hätte mir noch etwas tiefere Einblicke in die Gefühlslage von Simone gewünscht. So etwas muss ja der blanke Horror sein! Insgesamt aber eine spannende Geschichte, die ich sehr gerne gelesen habe. Natürlich lasse ich dir ein Herz da!

  4. Hallo Ela!
    Was für eine interessante Geschichte – Gaslighting, immer wieder aktuell – toll umgesetzt. Dein Schreibstil ist flüssig und gut zu lesen. Ganz verstand ich nicht, wie sie Kilian überführen konnte, aber vielleicht liegt’s auch an meiner langen Leitung? Mein Like hast du.
    Ich würde mich sehr freuen, wenn du auch meine Geschichte liest und mir Feedback gibst.
    Liebe Grüße Lotte
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/der-alte-mann-und-die-pflegerin

  5. Moin Ela,

    starke Geschichte, starke Erzählweise, starker Schreibstil. Hatte ich schon erwähnt das ich deine Geschichte STARK fand?

    Deine Kurzgeschichte war locker geschrieben, kurzweilig und ich konnte sie in einem Rutsch lesen…

    Danke das du deine Gedanken mit uns geteilt hast. Deine erste Geschichte?

    Progressive Muskelentspannung? Ich muss das fragen…kommst du aus dem Fachbereich Psychiatrie?

    Gerne lass ich dir ein Like da und wünsche dir alles Gute für‘s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

    1. Hi Frank,
      vielen Dank für das starke Feedback 😉
      Ja, das ist meine erste Geschichte. Tatsächlich bin ich Psychotherapeutin, habe daher beruflich auch mit der PMR zu tun, wenn auch eher am Rande. 😊
      Liebe Grüße und auch dir toi toi toi fürs Voting!

      Ela

  6. Hallo Ela,
    Mir hat deine Geschichte sehr gut gefallen. Spannendes Thema, gut umgesetzt, toller Schreibstil und nicht zu lang. Von mir gibt es dafür auf jeden Fall ein Like 💛 und ich wünsche Dir weiterhin viel Erfolg 🍀.

    Beste Grüße

    Maddy

    P. S “Alte Bekannte” ist meine Geschichte und vielleicht magst Du sie ja lesen ☺️🙈😁. Würde mich sehr freuen und Feedback ist immer gut 😌.

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