Yolanka KopsGedächtnisschwund

„Ich weiß, dass etwas Schlimmes passieren wird, Pastor Benjamin, aber wenn ich zur Polizei gehe, dann wird auch mir Schlimmes widerfahren. Was soll ich tun?“, fragt der fremde Mann, der in der Nische des Beichtstuhls sitzt. „Vertraue auf Gott, mein Sohn, er wird die Verbrecher richten, du musst nur glauben“, antwortet Pastor Benjamin und ist sich nicht bewusst, dass er mit dieser Aussage sein eigenes Urteil gefällt hat. Der Mann bedankt sich und verlässt die Kirche. Währenddessen bereitet der Pastor den morgigen Gottesdienst vor und findet ein Handy auf dem Altar. Er betrachtet es einige Zeit skeptisch und schaltet es dann ein, um herauszufinden, wer der Besitzer sein könnte. Das Mobiltelefon ist nicht passwortgeschützt und ihm fällt sofort der Ordner mit der Aufschrift „Fotos“ ins Auge. In der Hoffnung dort bekannte Gesichter zu sehen, öffnet er den Ordner, erstarrt kurzzeitig, um schließlich ein gestottertes „W-was?“ herauszubringen. Seine Atmung wird hektischer, die Hände werden schwitzig und schließlich lässt er das Handy auf den Altar zurückfallen und krallt stattdessen seine Finger in das kalte Gestein. Die Fingerknöchel stechen kalkweiß hervor und machen seinem Gesicht allerhand Konkurrenz. Nach einigen Minuten hat er sich so weit gefasst, dass er zumindest seine Hände lösen kann und nun kritisch das Handy vor sich mustert. „Das kann nur ein gemeiner Scherz sein“, denkt er sich, „doch wer würde so etwas tun?“ Auf den Fotos sieht er sich selbst. Sich und Kinder. Er missbraucht diese Kinder. Er, der Pastor dieser ruhigen Gemeinde. In dem kleinen Dorf ist noch nie etwas Schlimmes geschehen und dann soll ausgerechnet der Pastor der Übeltäter sein? Das kann er nicht glauben. Aber seine Augen lügen nicht: Der Mann auf den Fotos ist er. Oder zumindest jemand, der ihm zum Verwechseln ähnlichsieht. „Woher kommt das Handy überhaupt? Wieso sind auf einem fremden Handy Bilder von mir? Wer möchte mir solch eine Freveltat unterstellen?“, fragt er sich im Geiste. Je länger er die Bilder betrachtet, umso weniger kann er noch einen klaren Gedanken fassen. Er ist sich sicher, dass er nie auch nur imstande dazu wäre, anderen Menschen Leid zuzufügen. Er ist schließlich nicht grundlos Pastor geworden. Außerdem könnte er es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, solch schreckliche Taten begangen zu haben, aber dann als Stellvertreter Gottes aufzutreten. Eingehend beäugt er die Fotos. Der Mann auf den Bildern ist noch jung, nicht älter als zwanzig Jahre. Pastor Benjamin bemerkt, dass jemand in die rechte untere Ecke des Fotos Zahlen eingefügt hat. 18.11.96. „Das kann nicht sein“, denkt er, „Fotos von mir, mit diesem Datum.“ Ein unangenehmer Schauer überfällt ihn. Wieder mal gerät er ins Stocken. Erinnerungen schießen ihm durch den Kopf. Erinnerungen an Geschrei, Kindergeschrei. Er hört förmlich Glas zersplittern und instinktiv duckt er sich zu Boden. Er reißt den Mund auf, als würde er selbst auch schreien, aber kein Ton verlässt seine Kehle. Er kauert sich zusammen und versucht sich vor der herannahenden Gefahr zu verstecken. Aber das kann er nicht. Das hat damals schon nicht funktioniert und heute, 24 Jahre später, auch nicht. Seine Gedanken projizieren Bilder aus vergangenen Situationen. „Das ist nicht real. Das ist nicht real“, murmelt er immer wieder vor sich hin. Scheinbar beruhigt er sich allmählich dadurch. Seine Atmung ist zwar noch etwas zittrig und sein Gesicht hat bisher noch nicht seine gewöhnliche Hautfarbe angenommen, aber er löst sich aus der verschreckten Haltung und stellt fest, dass seine Gedanken ihm mal wieder nur einen Streich gespielt haben. Das passiert ihm in letzter Zeit häufiger. Er vermutet, dass diese Gedanken Bruchstücke von Erinnerungen sind und dass sie von dem Unfall stammen. Eben dem Unfall, bei dem seine Eltern mit ihren beiden Söhnen im Auto mit einem anderen zusammenprallten. Das Ehepaar starb und die beiden Jungen kamen ins Krankenhaus. Am 18. November 1996 wurden er und sein Bruder zu Waisen. Er selbst hatte keine Erinnerung mehr an den Unfall und die Stunden davor, der gesamte Tag war aus seinem Kopf gelöscht, man hatte ihm nur davon erzählt. Da sein Bruder Paul erst elf Jahre alt war, kam er in ein Heim. Die beiden hatten keinen Kontakt mehr und fünf Jahre später erhielt der Pastor einen Brief, in dem stand, dass sein Bruder bei einem Brand ums Leben kam. Ab diesem Zeitpunkt war er also der letzte seiner Familie. Zumindest weiß er bis heute nicht, dass es sonst noch jemanden gibt, der mit ihm verwandt ist. „Aber wieso steht das Datum des Unfalls auf den Bildern? Wer auch immer mir etwas unterstellen möchte, der weiß mehr über mein Leben als mir lieb ist“, denkt er, „Das kann doch alles nicht wahr sein.“ Noch immer betrachtet er ungläubig die Fotos und stellt fest, dass alle dasselbe Datum tragen. Er läuft hin und her und erinnert sich plötzlich an den Mann, der vor nicht einmal einer halben Stunde eine Beichte bei ihm abgelegt hatte. „Meinte er, dass mir etwas Schlimmes geschehen wird? Aber das kann nicht sein, ich kenne den Mann doch gar nicht. Ob er das Handy hier hingelegt hat? Ob er wusste, dass ich es finde? Vielleicht war das das Ziel.“ Das Ganze erscheint ihm merkwürdig und lässt ihn schaudern. Da weiß ein Fremder eindeutig zu viel über sein Leben. Er kann sich nicht erklären, warum ihm jemand derartiges antun will. Wenn diese Bilder an die Öffentlichkeit gelangen, ist er seinen Job, nein seine Berufung, los. Nicht nur das, er verliert sicherlich auch seine Freunde und alle werden ihn für einen Kinderschänder halten und er wird wahrscheinlich sogar ins Gefängnis kommen. Sein Leben ist zerstört. Er zittert. Hektisch schaut er sich um und ist froh, dass außer ihm niemand in der Kirche zu sein scheint. Niemand darf seinen Ausbruch oder diese Bilder entdecken. „Vielleicht kann ich einfach so tun, als wäre das nie passiert. Das ist bloß ein dummer Jugendstreich“, redet er sich ein. Aber sein Körper schenkt seinen verharmlosenden Gedanken keinen Glauben. Das Zittern wird stärker, die Atmung schneller. Er stolpert die Stufen vom Altar hinunter und lässt sich atemlos auf eine der Bänke fallen. Das Handy fest in seiner Hand versucht er, sich zu beruhigen. Sein Atem wird flacher, zu flach. Er möchte aufstehen, um besser atmen zu können. Er drückt sich an der Lehne der Bank mit seiner freien Hand hoch, rutscht aber sofort wieder ab. Er findet keinen Halt, die Gedanken schießen unaufhaltsam auf ihn ein, lassen ihn nicht los. Er fühlt sich, als würde eine Hand ihn immer weiter nach unten drücken. „Ich träume, ja das muss es sein, ein Albtraum, nichts weiter“, flüstert er in die Stille, die nur ab und zu durch sein schnapphaftes Ringen nach Luft unterbrochen wird. Langsam fasst er sich wieder. Er ist sich sicher, dass der Mann auf den Fotos nicht er ist. Er kann sich nicht mal an die Kinder erinnern. Und wenn er es wäre, hätte man ihn doch sicher schon längst angezeigt. Es gibt keinerlei Beweise, dass er Kinder vergewaltigt hat. Außerdem muss irgendjemand diese Fotos geschossen haben und wieso sollte derjenige sie dann erst 24 Jahre später veröffentlichen? „Das macht doch alles keinen Sinn“, spricht er lauter als gewollt aus. Diese Gedanken machen ihn noch verrückt. Er sollte auf sich selbst hören und den Rat befolgen, den er vor kurzem dem fremden Mann gegeben hat. „Gott wird richten“, wiederholt er seine Worte. Er muss den Mann von vorhin finden und ihn fragen, ob ihm das Handy gehört. Normalerweise, wenn Dinge in der Kirche vergessen werden, spricht er es entweder in der nächsten Messe an oder bewahrt sie auf, bis sich ein Besitzer meldet. Doch diese Methode kann er bei diesem Fundstück nicht anwenden. Der Besitzer könnte die Fotos erwähnen und dann könnte sich der Pastor nicht mehr herausreden. Selbst wenn er beweisen könnte, dass er niemanden vergewaltigt hatte, so wäre das Vertrauen seiner Gemeinde in ihn schon geschwächt, vielleicht sogar irreparabel zerstört. Außerdem geht er nicht davon aus, dass das Handy verloren wurde. Die Besucher halten sich eigentlich nicht in der Nähe des Altars auf und dort hat er schließlich das Handy gefunden. Sicherlich hat man es dort absichtlich platziert und dieser Gedanke lässt ihn beben. Jemand will, dass er es findet und die Bilder entdeckt. Sicher war derjenige sich auch bewusst, dass niemand es vor ihm finden würde. Und jetzt steht er da. Der Pastor, dem niemand glauben wird, wenn diese Fotos entdeckt werden. Der Pastor, der seine Existenzgrundlage aufgrund einer Lüge verlieren wird. Ein eiskalter Schauder läuft ihm über den Rücken. Viele Menschen werden von ihm enttäuscht sein. Er fröstelt, aber seine Hände sind so nass, als hätte er sie vorher in ein Fass voller Öl getunkt. Er schlägt die Hände vor dem Gesicht zusammen und bläst lautstark die angehaltene Luft aus seiner Nase. Aber trotz dieser ganzen Ängste steht dort auch der Pastor, der Vertrauen in Gott und seine Gemeinde zeigt. Er kann sich nicht vorstellen, dass einer der Dorfbewohner ihm solche Untaten unterstellen will. So wie es auf jedem Dorf ist, kennt jeder jeden und alles spricht sich herum. Geheimnisse kann niemand lange für sich behalten. Und genau das macht ihm Angst. „In nicht einmal einer Woche weiß jeder hier von diesen Fotos und mein Leben ist zerstört“, denkt er und sucht verzweifelt nach einer Lösung. Doch er findet keine. Zur Polizei gehen kann er auch nicht. „Die würden mir nicht glauben, sondern denken, ich versuche mich aus der Sache herauszureden und als das Opfer darzustellen.“ Dabei war er das Opfer. Natürlich sind diese Kinder auch Opfer von grausamen Gewalttaten, aber er kann doch nicht dafür die Schuld tragen. Oder? „Nein“, spricht er aus, ohne darüber nachzudenken. Dieses kleine Wort spukt ihm schon die ganze Zeit im Kopf herum. Es fühlt sich beinahe so an als würde es ihn anschreien. Es klingt in seinen Gedanken nicht nach einem selbstbewussten und standhaften Nein, sondern eher nach einem verzweifelten, leicht schluchzenden Nein. Nach einem Nein, dass man ausspricht, wenn man aus der Fassung gebracht wurde, wenn man sprachlos ist, dies aber irgendwie ausdrücken möchte. Es klingt nach einem Nein voller Angst und Schrecken. Nach einem Nein, dass er so nicht hören und selbst auch nie so von sich geben möchte. Er fühlt sich schrecklich. Immer wieder kreist diese eine Frage in seinem Kopf herum. „Warum ich?“ Er findet keine Antwort auf diese Frage und die wird er vielleicht auch nie finden. Im Leben gibt es nicht auf jede Frage eine Antwort und nicht für jedes Problem eine Lösung. „Das ist bloß eine Prüfung. Gott will sehen, ob ich auf ihn vertraue. Das tue ich. Ich werde nichts machen müssen. Das ist Gottes Plan für mich, seine Gesinnung und nach dieser werde ich mich richten. Er weiß, was gut für mich ist und er stell mich auf die Probe. Ich muss lernen mit schwierigen Situationen umzugehen und darf dabei nicht die Nerven verlieren.“ Mit diesen Gedanken und dem Glauben an Gottes Vorsehung sieht er wieder auf die Fotos. Bei jedem Bild spricht er die Worte „Gott sei mit dir“ aus und befreit sich so unbewusst von seinen grundlosen Schuldgefühlen und seinen schlechten Gedanken, die ihn nur noch verrückt machen. Er nimmt sich vor, das Handy auf dem Heimweg zu entsorgen. Mit diesem Entschluss entledigt er sich seines Pastorengewands und begibt sich in Richtung Kirchenausgang. Wie jeden Tag, bevor er nach Hause geht, wirft er einen Blick in die sogenannte Kritikbox, die er im kleinen Vorraum der Kirche platziert hat. Dort können die Besucher nicht nur offen und anonym ihre Meinung zu den Gottesdiensten äußern, sondern auch Verbesserungen oder Themen vorschlagen, die sie gerne in den nächsten Messen angesprochen haben möchten. Er öffnet die Box und stutzt. Darin liegen einige Zettel. Nichts Ungewöhnliches bis dahin. Aber oben auf den Zetteln liegt ein kleines Buch. Ihm ist das Buch bekannt. Das muss es als Pastor, aber er kennt es noch von früher. In seiner Kindheit besaß er ein solches Buch. Dort in der Kiste liegt eine Lutherbibel. Er nimmt sie heraus und betrachtet sie. „Wer sollte eine Bibel in die Kritikbox werfen?“, fragt er sich in Gedanken, schlussfolgert allerdings keine logische Begründung. Die Ecken sind abgestoßen und man erkennt deutlich, dass es sich um ein älteres Exemplar handeln muss. Pastor Benjamin schlägt die Bibel auf und erstarrt. Das Buch in seinen Händen beginnt im Takt seiner Finger zu zittern und nach einigen Sekunden fällt es zu Boden. Er vergisst kurzzeitig zu atmen und schnappt schließlich hektisch nach Luft. Seine Hände zittern so sehr, dass er sie zu Fäusten ballt, um das Zittern zu unterdrücken, aber in erster Linie, um es einfach nicht mehr zu bemerken. Doch auch wenn er das Zappeln seiner Gliedmaßen ignoriert, ändert sich die Situation nicht. Sein Herz rast und durch den erhöhten Puls müsste er eigentlich schwitzen. Aber dem ist nicht so. Er fröstelt. Seine Beine gleichen Wackelpudding und er kann sich nicht mehr auf ihnen halten. Er sinkt zu Boden, schlingt seine Arme um die schlotternden Knie und atmet heftig aus und ein. Die Konturen seiner Umgebung verblassen immer mehr und er versucht einen einzelnen Punkt an der gegenüberliegenden Wand zu fokussieren. Sein gesamter Körper bebt und sein Gesicht gleicht der weißen Wandfarbe. Die Umrisse werden wieder schärfer. Zaghaft drückt er sich vom Boden ab. Als er steht, erkennt man ein starkes Schwanken, das er durch ein Anlehnen an der Wand versucht wegzudrängen. Er bemüht sich wieder zu Atem zu kommen, aber jeder Atemzug fühlt sich an, als würde jemand mit hundert kleinen Nadeln in seine Lunge stechen. Er hat das Gefühl zu ersticken und doch weiß er, dass dem nicht so ist. Seiner Kehle entrinnt hin und wieder ein unmerkliches Hauchen, gefolgt von einem dröhnenden Prusten. Sein Körper spielt verrückt und seine Gedanken drehen sich im Kreis. „Wie kann das sein? Das ist unmöglich. Diese Bibel. Wie kommt sie hierher? Ich hatte sie ihm doch bei unserem Abschied mitgegeben.“ Er hört ein Schluchzen. Es klingt nach einem Kind. Das Schluchzen wird lauter und schließlich wandelt es sich in ein Schreien. Das Geschrei ist so schrill, dass der Pastor die Hände auf die Ohren legt und sie fest gegen seinen Kopf presst. Doch das Gekreische und Geheule wird nicht leiser, vielmehr scheint es an Lautstärke zuzunehmen und alles andere zu übertönen. Er quetscht seinen Schädel zwischen seinen Händen ein, aber es gelingt ihm nicht den Lärm abzuschalten. Schließlich hebt er seinen Kopf und schaut sich um. Er sucht nach der Quelle des Radaus, doch wird nicht fündig. Wie vorhin schon ist niemand sonst mit ihm in der Kirche. Als er dies realisiert, beruhigt sich seine Atmung etwas. Er nimmt die Hände vom Kopf und legt seine noch zitternden Finger auf seine Knie. Doch lange verweilen sie nicht dort, denn sie wandern zu seinen Schläfen und vollbringen kreisende Bewegungen. Vom vielen Nachdenken schmerzt schon sein Kopf. Aber dieses Wirrwarr an Gedanken lässt nicht nach. „Was ist das heute nur für ein Tag? Was habe ich denn verbrochen, um so gestraft zu werden?“, er faltet die Hände, legt den Kopf in den Nacken, schaut gen Himmel und spricht ein Gebet. Er hofft, dass er Gott somit besänftigen kann und er so von dieser Qual an Erinnerungen und Fantasien befreit wird. Er will doch wieder in Ruhe leben, ohne von diesen Hirngespinsten heimgesucht zu werden. Seine Gedanken spielen ihm immer häufiger Streiche und so langsam zerrt es an seinen Nerven. „Vielleicht muss ich mich der Herausforderung stellen, um endlich davon erlöst zu werden“, mit diesen Worten spricht er sich selbst neuen Mut zu und öffnet erneut das Buch. Die erste Seite springt dem Leser sofort ins Auge. Dort sieht man einen kindlich gemalten Hund, an dessen Seiten ein großer Junge und ein kleiner gezeichnet sind. Unter dem größeren Jungen steht der Name Benjamin und unter dem kleineren Paul. Der Name des Hundes lautet Professor Knuffels. Dem Pastor ist sofort klar, dass es sich um das Exemplar aus seiner Kindheit handelt. Er hat damals mit seinem Bruder Paul dieses kleine Kunstwerk entworfen und weil sie beide diese Bibel und ihren Hund so liebten, hatten sie es, ohne groß darüber nachzudenken, in die Bibel hineingemalt. „Aber wie kommt es hierher?“, er betrachtet das Buch immer noch skeptisch. Er hat seinem jüngeren Bruder Paul diese Lutherbibel mitgegeben, als sie getrennt wurden und sein Bruder in ein Heim kam. Als er dann die Nachricht vom Tod seines Bruders erhielt, stand in dem Brief, dass sein Bruder keine persönlichen Gegenstände besaß. „Was also macht diese Bibel hier? Hat jemand ein Duplikat erstellt, um mich in die Irre zu führen? Mein Bruder ist tot und das Buch muss mit ihm verschwunden sein, sonst hätte man mir es ausgehändigt. Hat das vielleicht etwas mit dem Handy zu tun? Es kann doch kein Zufall sein, dass das alles zur selben Zeit geschieht.“ Er blättert die Bibel durch und bleibt an einer markierten Stelle hängen, die scheinbar die einzige gekennzeichnete ist. Es handelt sich um den 2.Thessalonicher, in dem der Teilsatz „Denn es regt sich bereits das Geheimnis der Bosheit“ farbig hervorgehoben ist. „Was hat das zu bedeuten? Welches Geheimnis?“ Ein ohrenbetäubendes Tönen erschreckt ihn. Seine Gedanken brechen kurzzeitig ab, nur um dann um das Geräusch zu kreisen. „Was war das?“, er flüstert. Das Geräusch verstummt nicht, im Gegenteil, es schallt von allen Wänden ab. Er kennt den Klang nur zu gut. Es ist die Orgel, die oben auf der Empore der Kirche steht. „Dort oben ist jemand“, wispert der Pastor. „Derjenige muss schon die ganze Zeit da gewesen sein. Hat er das Handy gesehen? Ist es vielleicht der Besitzer? Wer auch immer es ist, er darf nicht dort sein und sicherlich hat er alles mitangesehen. Was hat das alles zu bedeuten und warum werde ich beobachtet?“, fragt er sich in Gedanken. Am liebsten würde er verschwinden und nie wieder zurückkommen, aber das kann er seiner Gemeinde nicht antun. Und vor allem könnte er selbst mit dieser Entscheidung nicht glücklich werden, da er sich immer vorwerfen würde, seine Gemeinde, seine Kirche und Gott im Stich gelassen zu haben. Er zittert am gesamten Körper, doch er nimmt seinen ganzen Mut zusammen und geht vorsichtigen Schrittes wieder in den Hauptraum der Kirche. Das Getöne der Orgel wird immer donnernder und er versucht möglichst keinen Ton von sich zu geben, damit er nicht entdeckt wird und er selbst erst einmal beobachten kann. Er hat beinahe Angst, dass das geräuschvolle Klopfen seines Herzens oder seine tiefen Atemzüge ihn verraten. Trotz seiner schlotternden Knie tippelt er auf Zehenspitzen in Richtung des Lärms. Er wischt seine schwitzigen Hände an seiner Hose ab und beschließt hinter den Altar zu schleichen, denn von dort hat er die beste Sicht hoch zur Empore. Als er die drei Stufen hoch zum Altar huscht, beeilt er sich so sehr, dass er mit seinem linken Fuß an der Kante der obersten Stufe hängen bleibt und stolpernd der Länge nach zu Boden fällt. Er schreit erschrocken auf und sofort verklingt die Orgel. Der Pastor ist starr vor Angst. Er rührt sich nicht und bleibt reglos auf dem Boden liegen. „Das ist das Ende. Jetzt hat er mich gesehen. Was mach ich jetzt nur?“, er hört Schritte. Das Holz der Treppe, die zur Empore führt, knarzt. Er weiß genau, dass die Person, sein Beobachter, gerade in diesem Moment auf dem Weg zu ihm ist. Aber er kann sich nicht bewegen. Er kann sich auch nicht umdrehen. Wenn ihm schon etwas zustößt, dann möchte er der Person nicht ins Gesicht blicken. Er faltet erneut die Hände zum Gebet. Vielleicht erhört Gott ihn und erlöst ihn endlich von diesen Qualen. Die Schritte werden immer lauter. Er hört jeden einzelnen. Sein Herz ist schneller. Jedem Schritt folgen drei Herzschläge. Er hält den Atem an, um keine auffälligen Geräusche mehr zu machen. „Vielleicht weiß er ja gar nicht, dass ich hier bin. Das ist sicher alles nur ein blöder Zufall. Sicherlich ist das nur der nette Mann, der immer die Orgel kontrolliert und ich habe einfach nur den Termin vergessen. Wer sollte das auch sonst sein?“, er redet sich diese Worte ein und beruhigt sich damit. Insgesamt ist es ruhig geworden in der Kirche, beinahe gespenstig still. Er hört keine Schritte mehr und als er sich sicher ist, dass die Person die Kirche verlassen hat und er jetzt wieder allein ist, dreht er sich um. Er erschrickt und zieht scharf die Luft ein. Vor ihm steht ein Mann. Der Mann schaut mit finsterem Blick auf ihn hinunter. Dann verziehen sich seine Mundwinkel zu einem gemeinen und hinterlistigen Grinsen. „Hallo Bruder“, spricht er höhnisch und lacht einmal kurz spöttisch auf, „Oder sollte ich Pastor Benjamin sagen? Gott wird also richten? Ist das so?“, provoziert er den Pastor und versucht ihn so aus der Reserve zu locken, was ihm aber nicht gelingt. Der Pastor ist wie gelähmt. Noch immer liegt er am Boden und betrachtet mit verwirrtem Ausdruck den Mann über ihm. Er weiß sich nicht zu helfen. „Weglaufen bringt nichts, er hätte mich schon gefangen, wenn ich gerade aufgestanden wäre. Liegen bleiben wird mir aber auch nicht helfen. Und wieso nennt er mich Bruder?“, durcheinander versucht er irgendwie rational zu denken, aber diese Bruder-Sache hat ihn ziemlich aus der Bahn geworfen. Der fremde Mann beobachtet ihn mit Adleraugen, eine falsche Bewegung und er stürzt sich auf den Pastor. „Erkennst du mich nicht, Bruder?“, der Mann sieht ihm mit starrem Blick in die Augen und zwingt seinen Körper regelrecht zu einer Antwort. Die Unterlippe des Pastors wackelt, als er ein stotterndes „Paul?“ herausbringt. „Ja, ich bin es. Paul. Dein Bruder. Schade, dass du mich nicht erkannt hast, dabei habe ich dir doch Hinweise gegeben. Zuerst das Handy mit diesen scheußlichen Bildern, von deinen Taten damals und dann die Lutherbibel mit dem Zitat.“ „Aber du bist tot, ich habe doch diesen Brief bekommen.“ Der Pastor versteht die Welt nicht mehr. „Ach ja, der Brief. Den habe ich geschrieben, alles gelogen, damit du dich in Sicherheit wähnst. Du warst sicher froh, als du gehört hast, dass ich tot bin. Da konnte schließlich niemand mehr dein Geheimnis erfahren.“ Paul erhebt die Stimme, sein Ton wird rauer und er klingt wütend. Pastor Benjamin zuckt zusammen, er kann nicht glauben, was gerade passiert, schließlich wispert er: “Das warst du? Und von welchem Geheimnis redest du bitte? Ich habe keine Geheimnisse, weder vor dir noch vor Gott. Wieso tust du mir das alles an?“ Pauls Blick verfinstert sich noch mehr, wenn das überhaupt noch möglich ist. „Wieso ich dir das antue?“, schreit er wutentbrannt, „Wieso hast du mir das damals angetan?“ Der Pastor schreckt abermals zusammen und kriecht ein Stückchen zurück, um mehr Abstand zwischen ihn und seinen Bruder Paul zu schaffen. Aber Paul rückt nach und hockt sich schließlich gegenüber von ihm auf den Boden. „Ich durfte nicht für dich sorgen, Paul, ich wollte ja, wirklich, aber man hat mich nicht gelassen. Sie sagten, du wärst zu jung und ich wäre selbst noch zu jung, um unsere Eltern zu ersetzen und dir ein Vorbild zu sein. Es tut mir leid, Paul, ich wollte dich nie im Stich lassen. Glaub mir bitte. Du hast nicht das Recht, mir solch einen Schrecken einzujagen, ich habe mir fast vor Angst in die Hose gemacht“, witzelt er und lacht kurz nach dieser Aussage auf, doch sein Versuch, die Situation zu entschärfen und die Stimmung aufzuheitern, gelingt nicht. Im Gegenteil, Paul wird noch wütender und braust auf: „Ich habe kein Recht?! DU hattest kein Recht, dich an mir und den anderen Kindern zu vergehen!“ Paul ist außer Kontrolle und schlägt mit der Faust auf den Boden. „Du hast nicht nur die Nachbarskinder missbraucht, sondern auch mich. Deinen eigenen Bruder. Zum Glück habe ich Fotos davon gemacht, damit ich für Gerechtigkeit sorgen kann. Ich konnte leider nicht vorher zu dir kommen, lieber Bruder. Die Vergewaltigungen waren unmittelbar vor dem Autounfall mit unseren Eltern und danach ging alles so schnell, sodass ich mich nicht schon früher an dir rächen konnte. Aber ich muss wohl Gott sein, denn heute werde ich richten. Und zwar über dich!“ Der Pastor blickt ihn verstört an. „Ich habe niemanden missbraucht! Was redest du da für einen Unsinn?“, schreit er. Ein stechender Schmerz durchzuckt seinen Schädel. Schreie. Weinen. Kinder. Sein Bruder. Er wie er diese Kinder vergewaltigt. Erinnerungsfetzen schießen ihm ins Gehirn. „Was habe ich getan?“, sein Körper zittert, die Atmung bleibt aus. „Wie konnte ich ihm das antun? Ich bin ein Monster.“ Pastor Benjamin erinnert sich. „Aber wieso konnte ich mich die ganzen Jahre über nicht daran erinnern?“ Seine Welt steht Kopf. Noch schlimmer, es scheint, als hätte man sie in die Waschmaschine gesteckt und den Schleudergang eingeschaltet. Er hat Kinder missbraucht und vergewaltigt. Er legt seine Hände über seine Augen und atmet mehrmals tief durch. „Das ist nicht wahr“, murmelt er, „Das ist nicht wahr“, wiederholt er, „Das ist nicht wahr“, schreit er schließlich und blickt seinem Bruder standhaft in die Augen. Er will sich nicht mehr von ihm auf der Nase herumtanzen lassen. Er ist sich sicher, dass sein Bruder sich das alles ausgedacht hat. Er steht auf und stellt sich ihm gegenüber. Dann streckt er die Arme aus und schubst ihn. Paul stolpert nach hinten, fängt sich aber schnell wieder. „Was ist? Kannst du die Wahrheit nicht vertragen?“, spottet Paul. Pastor Benjamin möchte erneut auf ihn losgehen, doch Paul weicht ihm ruckartig aus, sodass der Pastor die Stufen hinunter strauchelt und dort zu Boden geht. Paul geht auf ihn zu: „Du bist ein Kinderschänder! Du gehörst ins Gefängnis!“ Der Pastor erstarrt. „Ich kann nicht ins Gefängnis“, grübelt er. Sein Hirn setzt aus und ohne darüber nachzudenken zieht er seinem Bruder die Füße weg. Dieser verliert den Halt und fällt auf die Steinstufen, die zum Altar führen. Er bleibt regungslos liegen. Der Pastor steht blitzschnell auf und begibt sich in Angriffsposition, da er einen Rückschlag seines Gegenübers erwartet. Doch dieser bleibt aus. Er besieht sich Paul genauer und bemerkt, dass sich unter seinem Kopf eine Blutlache gebildet hat. Er hat sich den Schädel bei seinem Sturz an der Stufe angeschlagen. Das Blut fließt in Strömen aus seinem Kopf und verteilt sich auf den Stufen. Der Pastor bekommt Panik. Er beginnt zu schwitzen und hektisch hin und her zu laufen, doch er geht nicht in die Nähe des Verletzten. „Ich muss hier weg“, denkt er und verlässt zügig die Kirche. Seinen Bruder lässt er verblutend dort zurück, ohne den Notruf zu wählen. Er läuft auf direktem Weg nach Hause und meidet alle Menschen, die ihm begegnen. Er kommt bei seinem Haus an und möchte die Tür aufschließen, doch seine Finger zittern so sehr, dass er das Schlüsselloch mehrere Male verfehlt, bis er endlich den Schlüssel in die Tür steckt. Er lässt die Tür hinter sich lautstark ins Schloss fallen und gleitet dann an ihr hinab. „Ich habe ihn getötet“, flüstert er. Die Umrisse seiner Umgebung verschwimmen und nach einigen Sekunden wird ihm schwarz vor Augen.
Er kommt wieder zu Bewusstsein, als die Türklingel dröhnend zu schellen beginnt. Mit starken Kopfschmerzen steht er vom Boden auf und öffnet die Tür. Vor ihm stehen zwei Polizisten. „Guten Tag Herr Pastor. Wir kommen leider mit schlechten Nachrichten zu Ihnen. Wir haben Ihren Bruder in der örtlichen Kirche tot aufgefunden. Er ist eine kleine Treppe hinuntergefallen und hat sich eine große Platzwunde am Kopf hinzugezogen und schließlich an dieser Verletzung gestorben.“ Er hört zwar, was ihm die Polizisten erklären, doch er kann es nicht zuordnen. „Mein Bruder?“, fragt er verblüfft, „Aber er ist doch schon vor ein paar Jahren bei einem Brand in seinem Heim ums Leben gekommen. Sie müssen sich irren, das kann gewiss nicht mein Bruder sein.“ Die Polizisten wundern sich und erörtern, dass es sich zu einhundert Prozent um seinen Bruder handelt und die Benachrichtigung über seinen früheren Tod eine Falschmeldung gewesen sein muss. Der Pastor ist geschockt, doch er kann nicht wirklich eine Reaktion zeigen. Er ist die ganzen Jahre davon ausgegangen, dass sein Bruder Paul tot ist und jetzt ist er es tatsächlich und er selbst ist nicht einmal traurig. Es hat sich schließlich nichts geändert, sein Bruder ist tot. „Aber was hat mein Bruder denn in meiner Kirche gesucht?“, fragt er sich. Doch weder er selbst noch irgendjemand sonst weiß von der Krankheit des Pastors. Eine psychische Krankheit, bei der der Betroffene nach einem schockierenden Ereignis all seine Erinnerungen verliert. Er bedankt sich bei den Polizisten und begibt sich wieder ins Haus. In seinem Schlafzimmer möchte er sich umziehen, als er in seiner Hose ein fremdes Handy entdeckt. Er bemerkt, dass es nicht passwortgeschützt ist und durchsucht es nach Hinweisen zum Besitzer. Dort findet er Fotos. Auf den Fotos sieht er sich selbst. Sich und Kinder. Er missbraucht diese Kinder.

6 thoughts on “Gedächtnisschwund

  1. Hallo Yolanka,

    ich habe eben deine Geschcihte gelesen und muss sagen, die Idee, dass (VORSICHT SPOILERWARNUNG, für alle, die das hier lesen, aber die Geschichte noch nicht gelesen haben) der Pastor durch seine Krankheit am Ende wieder von vorne mit der Situation konfrontiert wird.

    An deinem Text kann ich eigentlich nichts großartiges bemängeln, außer dass es ihm sehr gut täte, wenn du einige Absätze einfügst. Der riesige Block macht ihn etwas schwer zu lesen.
    Eine Anmerkung hab ich noch: Wenn du schreibst …, dachte er … sollte das, was die Person denkt, nicht in Anführungszeichen stehen. Anführungszeichen gehören nur um eine wörtliche Rede. Das macht es für den Leser leichter verständlich. Wenn du bei einem gedachten Teil das “dachte er/sie weglässt, ist es gut, diese Passage kursiv zu setzen.

    Ansonsten finde ich die Idee ganz gut und lass dir deshalb meine Stimme da.

    Viel Spaß weiterhin am Schreiben und es würde mich freuen, wenn du die Zeit fändest, um auch mal bei mir vorbeizuschauen und einen Kommentar zu hinterlassen.

    Viele Grüße
    J. D.
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/das-leben-eines-toten-mannes

  2. Hallo 🙂
    Ich bin durch @wir_schrieben_zuhausr auf Deine Geschichte gestoßen und war gleich von Beginn an gefesselt und gespannt. Die Szene mit dem Beichtstuhl war als Einstieg klasse gewählt und es geht spannend weiter. Mein Herz hast Du <3
    Vielleicht magst Du ja auch mal bei mir vorbeilesen? Meine Geschichte ist die Nachtschicht, ich würde mich freuen!
    Liebe Grüße, Anna

  3. Hallo :).
    Eine sehr gut geschriebene Story, mit flüssigem Schreibstil. Ich bin sehr davon mitgerissen worden.

    Das einzige, was mir aufgefallen ist, ist dass du Gedanken in “Anführungszeichen” setzt. Das macht man nur mit gesprochenen Sätzen. Wenn man etwas denkt, dann mit ‘diesen Zeichen’ (‘…’).
    Aber sonst ist es wirklich sehr gut 👍

    Ich freue mich auch immer über neue Leser meiner Stories “Leos Geheimnis” und “verlorene Identität”. Besonders letztere braucht noch ein wenig Unterstützung…

  4. Hallo, Yolanka, heute ist mein Glückstag, denn heute lese ich fast nur Geschichten, bei denen ich mich frage: Wieso lese ich die (1), hätten die nicht ins Buch gemusst? und (2) wieso haben die nur so wenige Stimmen (ich gab Dir gerade mit meinem Like das zehnte Like)? Beides ist mysteriös!

    Denn Deine Story ist genial – dieser Kreislauf aufgrund seiner Krankheit! Dass darauf noch niemand gekommen ist!

    Joahhh, das mit den Absätzen hat Kollege McFarlaine ja schon gesagt. Mehr gibts auch nicht zu meckern.

    Ich wünsche mir, dass Du dranbleibst, am Schreiben!
    Herzliche kollegiale Grüße!
    Kathrin aka Scripturine / https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/die-nacht-in-der-das-fuerchten-wohnt

    … und ich freue mich natürlich tierisch über einen Gegenbesuch 🙂

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