Julia MaurerGewähltes Schicksal

 

Emilys Körper krampfte sich zusammen. Ihr wurde schlecht und schwindlig, gleichzeitig heiß und kalt. Säße sie nicht bereits auf der Bettkante, hätten ihre Beine mit Sicherheit unter ihr nachgegeben, so wie sie in diesem Moment zitterten.

Sie starrte nun schon zwei volle Minuten auf den Bildschirm ihres Handys, unfähig sich auch nur im Geringsten von der Stelle zu bewegen. Dabei würde sie am liebsten laut aufschreien und aus dem Hotelzimmer stürmen, an einen sicheren Ort fliehen und auf Hilfe warten. Aber wer würde ihr hier in einem fremden Land schon zur Hilfe kommen?

 

Vor gut einer Woche war sie aufgebrochen, hatte ihren Koffer gepackt und war nach Australien – dem ersten Ziel ihrer geplanten Weltreise – geflogen. Für so manch anderen gäbe es wahrscheinlich nichts Schlimmeres als ganz allein in fremden Ländern herumzureisen.

 

Für Emily ging damit ein Traum in Erfüllung. In diesen Semesterferien konnte sie dem langweiligen Alltagstrott in Deutschland endlich entfliehen. Ihr gesamtes Erspartes hatte sie für Flüge und Unterkünfte vorgestreckt und sich zum ersten Mal in ihrem Leben richtig frei gefühlt. Frei von Regeln, frei von eintönigen Tagesabläufen und frei von Personen, die ihr vorschrieben, was sie zu tun und zu lassen hatte. Auf ihrer Reise wollte sie sich einfach treiben lassen und endlich einzig und allein das machen, worauf sie Lust hatte.

 

Vor wenigen Minuten verschwand jedoch das Gefühl von Freiheit und wurde nach dem anfänglichen Schock nun durch ansteigende Panik ersetzt. Emily saß mit ihrem Handy in der Hand auf dem Hotelzimmerbett in Sydney und sah sich ängstlich in ihrem Zimmer um, bevor sie die Nachricht des unbekannten Absenders erneut las.

 

 

 

SY12.6-SFO20.6-LAS24.6-MIA28.6-YYZ3.7-SIN10.7-BCN17.7

 

Ich sorge dafür, dass du die Reise bereuen wirst!

 

 

 

Darunter blickte sie auf ein Bild, das einen blutverschmierten Klumpen zeigte. Emily war sich nun sicher. Als Medizinstudentin, die auch ab und zu im örtlichen Krankenhaus aushelfen musste, hatte sie schon häufiger dem realen Anblick menschlicher Organe standgehalten. Und hier hatte ihr jemand zweifellos ein Foto eines sehr frisch entfernten Herzens gesendet. Welcher Psychopath machte so etwas und was wollte er von ihr? Und vor allem: Woher kannte diese Person ihren exakten Reiseverlauf und was wusste sie noch über Emily?

 

 

Luft, sie brauchte dringend frische Luft. Der stickige Raum des Hotelzimmers schien sie zu erdrücken und vielleicht wusste der Psycho, wo sie sich jetzt gerade aufhielt. Sie konnte unmöglich noch eine Sekunde länger hier sitzen bleiben. Emily lief ins Bad und packte hektisch ihre Sachen zusammen. Danach schmiss sie so schnell es ging auch alle herumliegenden Klamotten in ihren Koffer, steckte sich ihr Handy in die Jackentasche, schnappte ihren kleinen Rucksack und rannte aus dem Hotelzimmer. Sie zerrte den Koffer hinter sich her und drückte pausenlos auf den Knopf des Fahrstuhls. So lange konnte der blöde Lift doch unmöglich brauchen, um in den ersten Stock zu fahren. Sie dreht sich nach hinten um, fühlte sich beobachtet und fasste sich an die verschwitzte Stirn. „Jetzt bloß nicht durchdrehen. Tief und gleichmäßig weiteratmen. Es wird alles gut werden“, ermahnte sie sich selbst.

 

Endlich machte es >Pling< und die Fahrstuhltüren öffneten sich. Emily wartete ungeduldig bis die anderen Gäste ausgestiegen waren und schob dann ihren Koffer in den Aufzug. Ihr kam es vor wie in Zeitlupe, bis die Anzeige auf >Rezeption< umsprang. Ohne weitere Überlegung ging Emily auf die Empfangsdame zu und fragte sie, ob sie ihren Koffer vorrübergehend hier abstellen könnte. Emily musste dabei scheinbar genauso nervös geklungen haben, wie die Stimmen in ihrem eigenen Kopf. Die Dame nickte ihr jedenfalls nur mit kritischem Blick zu und bat Emily kurz zu warten, bis sie ihren Namen notiert hatte. Konnte denn niemand verstehen, dass sie hier so schnell wie möglich raus musste?

 

„Emily Pacht ist ihr Name, sagten Sie?“, vergewisserte sich die Empfangsdame. Emily nickte und wippte von einem Fuß auf den anderen. „Für Sie ist etwas abgegeben worden, ich hole es sofort, einen kleinen Moment bitte“, entgegnete die Frau und verschwand in dem kleinen Nebenraum, hinter dem Tresen.

 

 

 

●●●

 

Emily stand auf der Treppe vor dem Hoteleingang und starrte auf das Handy, das ihr die Empfangsdame ausgehändigt hatte. Ihre Welt schien plötzlich angehalten worden zu sein, während um sie herum alle Leute ganz normal ihrer Wege gingen und der strahlende Sonnenschein alles wie einen Traum erscheinen ließ. Einen Albtraum.

 

Emily drückte auf den seitlichen Power-Knopf des Handys und hätte vor Schreck beinahe laut aufgeschrien als plötzlich ihr eigenes Telefon in der Jackentasche vibrierte. Vorsichtig holte sie es hervor und las die eingegangene Nachricht:

 

 

ENTSPERREN 1202

 

 

12.02. Das war Emilys Geburtstag. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Damit verflogen nun auch ihre letzten Hoffnungen, dass das Handy möglicherweise zufällig auf den falschen Namen hinterlegt worden war und nicht mit der SMS des Psychopathen in Verbindung stand.

 

Sie schaute sich erneut um, doch konnte niemanden entdecken, der sie beobachtete. Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass sich die unbekannte Person in unmittelbarer Nähe befand. Aus Angst, was passieren könnte, wenn sie nicht auf den Befehl in der SMS einging, schaltete sie das fremde Handy erneut an und tippte stumm die Zahlenfolge ein, um das Handy zu entsperren.

 

 

 

Die Bilder von menschlichen Organen nahmen kein Ende. Emily wischte immer schneller über den Bildschirm, bis sie plötzlich innehielt. Das Foto zeigte Martin Speer, den Chefarzt des Krankenhauses, indem sie gelegentlich aushalf, bei einer Nierentransplantation. Emily war sich trotz Operationskleidung und Maske sicher, dass das Martin sein musste und glaubte, sich sogar selbst an die fotografierte Szene zu erinnern.

 

Mit dem nächsten Bild wurde Emily schließlich mit der Gewissheit überrollt. Sie sah sich selbst neben Martin stehend, assistierend bei dem Routineeingriff. Auch die folgenden Bilder dokumentierten Emily und Martin bei Operationen im örtlichen Krankenhaus, die noch nicht allzu lange her sein und nur von einem weiteren Kollegen gemacht worden sein konnten.

 

Emily hatte einen schlimmen Verdacht, den sie sich jedoch nicht traute, zu Ende zu denken. Wie auf Knopfdruck meldete das Handy eine eingegangene Nachricht, in der eine Adresse angegeben war.

 

 

Scheune am stillgelegten Bootshafen

 

Gardenstreet 1

 

Komm oder stirb!

 

 

Kaum hatte sie die Nachricht gelesen, summte das Telefon erneut und Emily blickte auf ein Foto, dass sie selbst aus nicht allzu weiter Entfernung genau in diesem Moment zeigte, wie sie auf das fremde Handy in ihrer Hand schaute. Erschrocken drehte sich Emily nach allen Seiten um. Sie müsste doch sehen können, dass jemand sie beobachtete und Fotos von ihr aufnahm, oder? Womöglich wurde sogar schon mit einer Waffe auf sie gezielt!

 

Doch da war niemand zu entdecken. Nur ein paar Touristen, die ihre Koffer zum Hotel rollten und ein Pärchen, dass sich auf Englisch darüber zu streiten schien, in welcher Richtung die nächstgelegene Bushaltestelle lag.

 

Emily überlegte kurz, zu dem Pärchen zu laufen und dabei ganz laut um Hilfe zu schreien. Doch was wäre, wenn der Psychopath genau darauf gewartet hatte und sie in dem Moment erschießen würde? Und möglicherweise nicht nur sie, sondern auch die anderen Personen, denen sie wahrscheinlich gar nicht so schnell zu verstehen geben konnte, was hier gerade geschah und in welcher Gefahr sie sich befand.

 

Emilys Gedanken überschlugen sich, jedoch war kein einziger davon für sie greifbar. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so hilflos und einsam gefühlt wie jetzt. Und noch nie zuvor war sie sich so sicher gewesen einen schwerwiegenden Fehler zu begehen. Aber hatte sie eine Wahl?

 

 

●●●

 

 

Laut Google Maps lag die Gardenstreet noch eine halbe Stunde entfernt, das hieß weitere 5 Haltestellen mit der U-Bahn und danach einen knappen Kilometer Fußweg. Emily saß auf einem Fensterplatz im für diese Zeit ungewöhnlich leeren Bahnabteil und blickte nervös zu jedem neu zugestiegenen Fahrgast, aus Angst, der Unbekannte könnte ihr gefolgt sein. Schließlich konnte jeder einzelne von diesen Menschen ihr Erpresser sein, oder?

 

Nein, dachte Emily. Natürlich musste der Erpresser nicht zwangsläufig auch derjenige sein, der sie im OP fotografiert hatte, aber ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass es sich hierbei um ein und dieselbe Person handelte. Und sie war sich sicher, dass es ein Kollege aus dem Krankenhaus war, mit dem sie höchstwahrscheinlich sogar häufiger zusammengearbeitet hatte, ohne von seiner scheinbar verhaltensgestörten Ader zu wissen.

 

Zu ihrer Angst gesellte sich mit jeder vergangenen Minute, die sie auf ihrem Platz sitzen bleiben musste, gleichzeitig eine starke Wut. Wenn dieser Unbekannte tatsächlich ein Kollege sein sollte und hier nur seine Psychospielchen mit ihr trieb, konnte er was erleben. Egal, wer von den Krankenhausmitarbeitern Emily erpresste, Martin würde ihn danach mindestens aus seinem Job entlassen, dafür würde sie sorgen!

 

 

●●●

 

 

 

Als Emily aus der U-Bahn ausstieg schien ihr durch die Wut entfachtes Selbstbewusstsein plötzlich wie weggeblasen und die Angst übernahm wieder die Kontrolle über jede Zelle ihres Körpers. Schweiß trat ihr auf die Stirn und lief als kalte, nasse Spur an ihrem Rücken herunter während sie den verlassenen Steinweg entlang zur alten Scheune des Bootshafens ging. Was machte sie hier überhaupt? War sie denn komplett verrückt geworden? Sie hatte doch überhaupt keine Ahnung, was sie in der Scheune erwarten würde und niemand wusste, wo sie war, um ihr zu Hilfe zu kommen!

 

Generell schien sich niemand mehr hierher zu verirren, jedenfalls war Emily, seitdem sie sich von der Haltestelle der Bahn entfernt hatte, buchstäblich kein Mensch mehr über den Weg gelaufen. Sie blieb stehen. Diese ganze Aktion war doch viel zu leichtsinnig gewesen, sie hätte irgendwem von der Erpressung erzählen müssen, jemandem unbemerkt eine Nachricht hinterlassen sollen. Sie fühlte ihr Handy schwer in ihrer Hosentasche liegen und schaute ins Geäst des angrenzenden Waldstücks am Wegrand. Sollte sie es riskieren, jemanden anzurufen?

 

Sie verwarf den Gedanken so schnell wieder, wie er gekommen war. Wenn dieser Jemand sie schon auf offener Straße so einfach unbemerkt beobachten konnte, war es hier definitiv ein Kinderspiel. Und wer weiß, was er machen würde, wenn sie ihn provozierte und er Emily beim Telefonieren erwischte. Zwar wusste sie genauso wenig, was sie an ihrem Ziel erwartete, aber möglicherweise bot sich ja eine Chance, zu reden oder vielleicht wollte der Erpresser ja auch nur Geld und die ganze Sache löste sich irgendwie auf, dachte Emily.

 

Also ging sie mit zittrigen Beinen weiter den Weg entlang zur alten Scheune am stillgelegten Bootshafen.

 

 

 

●●●

 

Das Wasser schwappte gleichmäßig gegen den Anleger und verlieh dem verlassenen Gelände eine unheilvolle Atmosphäre. Die alte Scheune war nicht zu verfehlen, wenn man dem Steinweg bis zum Ende folgte. Das Waldstück hatte sich irgendwann aufgelöst und den Blick auf eine große, heruntergekommene Holzscheune freigegeben, die dicht am Ufer gebaut worden war und seit etlichen Jahren schon leer stehen musste. Das Dach war teilweise undicht, Moose und Rost bahnten sich ihren Weg über verwittertes Holz und herausragende Eisennägel. Eine der beiden großen Scheunentüren stand leicht offen, kippte schräg aus dem oberen Scharnier und gab einen Spalt frei, durch den Emily ins halbdunkle Innere spähen konnte.

 

Sie musste ein paar Mal blinzeln, bevor sie etwas erkannte. Eine Liege aus Metall stand in der Mitte des Raums, dahinter eine große Lampe, daneben ein Tisch, auf dem unterschiedliche Werkzeuge lagen. Nichts davon passte hierher, musste vor Kurzem erst in die Scheune gebracht worden sein. Was sollte das alles?

 

Emily erstarrte. Die Erkenntnis, traf sie wie ein Schlag. Sie wusste, was hier vor sich ging – die Bilder der Organe und von ihr selbst im Krankenhaus – das dort in der Scheune war ein Operationssaal.

 

 

●●●

 

 

 

Sie musste hier weg! Emily drehte sich um und wollte gerade loslaufen, als sich ihr jemand mit einer Pistole in der Hand in den Weg stellte. Sie blieb erschrocken stehen, hob beide Hände abwehrend nach vorn. Aber war das nicht..?!

 

„Julian?“, fragte sie entsetzt. „Hallo Emily“, sagte er kühl.

 

Julian war seit letztem Jahr Assistenzarzt im Krankenhaus, etwa zehn Jahre älter als sie und hatte schon viele Male mit Emily zusammengearbeitet. Zwar bestätigte sich dadurch ihr Verdacht, dass nur ein Arbeitskollege hinter den Fotos stecken konnte, jedoch war sie geschockt ihn hier zu sehen. Gerade Julian hätte sie niemals so eine eiskalte Erpressung zugetraut. Er war ihr immer als sehr gewissenhaft und überlegt vorgekommen, ein freundlicher Arbeitskollege, der Menschen in Not half und sie nicht entführte und dann umbrachte.

 

„Was machst du hier? Was soll das alles?“, fragte sie ihn und traute sich nicht sich zu bewegen. Julian trat einen Schritt nach vorn, die Waffe dabei immer noch auf Emily gerichtet. „Dass du dich überhaupt noch selbst im Spiegel ansehen kannst, nach allem, was du getan hast! Gehst du deshalb mit Martin ins Bett? Weil du dich dann besser fühlst?“, entgegnete er hasserfüllt. Emily stutze. Ja, sie hatte eine Affäre mit Martin und es war natürlich nicht die feine englische Art mit seinem eigenen Chef zu schlafen, aber das konnte doch unmöglich ein Grund sein, jemanden bis ins Ausland zu verfolgen und dort völlig geistesgestört mit dem Tod zu drohen, oder? Emily war völlig fassungslos.

 

„Du willst mich allen Ernstes erschießen, weil ich Martin nahegekommen bin? Was stimmt denn nicht mit dir?“, schrie sie lauter und unfreundlicher als geplant, aber sie konnte ihre angestauten Emotionen nicht länger zurückhalten.

 

Julian schien davon jedoch völlig unbeeindruckt. Er ging weiter auf sie zu und blieb schließlich nur wenige Meter von ihr entfernt stehen.

 

„Du weißt ganz genau, wovon ich rede. Euer illegaler Organhandel muss aufhören! Und ich werde dafür sorgen, dass er das auch tut!“

 

 

 

●●●

 

 

 

Emily lag auf dem OP-Tisch in der Scheune und biss sich auf die Unterlippe, um nicht erneut vor Schmerzen aufzuschreien. Unter dem grellen Licht des Strahlers kniff sie die Augen zusammen und konnte kaum etwas in der dunkleren Umgebung erkennen. Sie legte den Kopf auf die rechte Seite und sah das Blut aus ihrer Schulter laufen. Sofort spürte sie wieder den aufkommenden Würgereiz im hinteren Rachen und stöhnte auf. Ihr kompletter Körper fühlte sich feucht und klebrig an, war überzogen von Schweiß, der sich mit dem Blut und ihren Tränen vermischte. Emily wusste nicht, wie lange sie so da lag, an Armen und Beinen festgebunden, unfähig sich zu bewegen.

 

 

 

Sie hatte versucht Julian zu besänftigen, ihm versichert, dass sie nicht wusste, wovon er da sprach und ihn gebeten, die Waffe runterzunehmen. Er hatte nicht auf ihre Aussagen reagiert, sodass Emily dachte, er würde ihr vielleicht einfach nur zuhören und seine Anschuldigungen überdenken.

 

Als sie dann jedoch einen Schritt zur Seite machen wollte, hörte sie nur den plötzlichen Knall und erschrak, als gleichzeitig ihr kompletter Körper unter den Schmerzen der Einschusswunde verkrampfte. Die Welt hatte sich gedreht und war in Zeitlupentempo weitergelaufen. Emily konnte an nichts anderes mehr denken als an das unendliche Brennen in ihrer rechten Schulter und an das finstere Gesicht von Julian, während sein fester Griff sich in ihre Haut bohrte als er sie in die Scheune trug, auf den OP-Tisch legte und fesselte. Und an ihre unglaubliche Angst vor dem, was als nächstes passieren würde.

 

 

 

●●●

 

 

 

Als sich Emilys Augen ein wenig an das Licht gewöhnt hatten, erkannte sie nicht weit von sich entfernt stehend einen Drehstuhl ohne Lehne und dahinter den Tisch mit Operationswerkzeugen, welchen sie bereits vorher durch den Türspalt gesehen hatte. Alles schien schon häufiger in Gebrauch gewesen zu sein. Das Obermaterial des Stuhls war größtenteils abgewetzt und der Tisch von einigen dunklen Flecken gezeichnet. Sie erschauderte, spürte die ansteigende Panik vor dem, was Julian vorhaben könnte.

 

Plötzlich nahm sie eine Bewegung im Augenwinkel wahr und hob den Kopf. Am anderen Ende des Raums erahnte sie die Silhouette von Julian, die zunehmend schärfer werdende Konturen annahm, während er langsam auf die Lichtquelle und Emily zuging. Sie versuchte sich zu befreien, stemmte ihren gesamten Körper gegen die Bänder, die sie fesselten, kämpfte gegen die Schmerzen in der Schulter an und warf ihren Oberkörper ruckartig erst auf die eine und dann auf die andere Seite. Doch sie schaffte es nicht, sich loszureißen. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie sich durch diese Niederlage ihre Hilflosigkeit endgültig eingestehen musste.

 

 

 

●●●

 

 

 

Julian hatte sich auf den Drehstuhl gesetzt, Emily den Rücken zugewandt und atmete mehrere Male hörbar ein und aus.

 

„Wusstest du, dass sie aus der Ukraine kam? Meine Frau?“, fragte er, ohne sie anzusehen. „Ich habe sie dort so oft es ging besucht und wir wollten zusammenziehen, planten, ein gemeinsames Leben in Deutschland anzufangen. Vor etwa zwei Jahren rief sie mich jedoch plötzlich an und erzählte mir, dass sie nicht kommen würde, weil es ihren Eltern sehr schlecht ging und sie dringend ihre Hilfe brauchten.

 

Da ich wusste, dass sie kein Einkommen hatte und deshalb auch kein Geld für Arztkosten aufbringen konnte, bot ich ihr an, sie zu unterstützen, aber sie lehnte jede Hilfe von mir ab; sagte, sie hätte ohnehin schon ein schlechtes Gewissen, wegen allem, was ich für sie tat und, dass sie selbst einen Weg gefunden hatte, wie sie an das nötige Geld kommen würde.“ Julian machte eine Pause und Emily sah seinen Rücken unter einer tiefen Ausatmung in sich zusammensinken.

 

„Sie hatte ihre Niere verkauft. Ihre Niere! Und weißt du, wie viel Geld sie dafür bekommen hat? 30.000 Griwna. Das sind gerade einmal um die 1.000 Euro! Sie hat sich in einem dreckigen kleinen Raum von einem angeblichen Arzt und ohne richtige Narkose eine Niere entnehmen lassen – sie hat ihr Leben riskiert für lächerliche 1.000 Euro!“

 

Julian drehte sich zu Emily um und blickte sie aus tränennassen, aber ernsten Augen an. „Meine Frau ist wenig später an einer Folgeinfektion der Wunde gestorben. Und da ist sie bei weitem nicht die einzige. Viele Menschen sehen darin ihren letzten Ausweg aus der Armut und lassen sich unter schrecklichsten Bedingungen Organe entnehmen, die Leute wie du billig ein- und dann für das Fünfzigfache an reiche Westeuropäer weiterverkaufen. Lüg mich nicht wieder an! Ihr nehmt die Menschen im wahrsten Sinne des Wortes aus, verdient an ihrem Elend und den illegalen Implantationen in Deutschland haufenweise Geld, von dem ihr ganz unbekümmert in Urlaub fahrt. Wie kann man nur so sein?! Dass du dann auch noch im Krankenhaus mit deiner Luxusreise prahlen musstest, war wirklich das Widerlichste, was ich je erlebt habe.“, schnaubte Julian verächtlich und Emily sah, wie sich seine Augen zu Schlitzen verengten. Sie traute sich nicht, etwas zu erwidern.

 

„Es macht Spaß nur die eine Seite davon zu sehen, oder?“, fragte er gehässig und seine Stimme wurde immer lauter. „Nur das viele Geld und die gesunden Patienten in Martins Krankenhaus, die so wenig wie möglich über die Herkunft ihrer neuen Organe wissen sollen. Aber durch deine Machenschaften sterben woanders Menschen. Das hast du mit zu verantworten!

 

Es tut mir leid, aber ich werde diesen Handel stoppen und dafür sorgen, dass du am eigenen Leib erfahren wirst, was diese Menschen deinetwegen über sich ergehen lassen müssen!“

 

Erst jetzt bemerkte Emily das Skalpell in seiner gehobenen Hand, deren Fingerknöchel bereits weiß hervortraten.

 

„STOP!“, schrie sie. „Bitte! Ich wusste nicht, was mit deiner Frau passiert ist!“

 

Julian hielt inne. Emily wusste, dass ihre nächsten Worte darüber entscheiden würden, was als nächstes passierte.

 

„Bitte hör mir zu!“ Sie zögerte. „Du hast recht“, gab sie schließlich zu.

 

„Ich habe von der ganzen Sache selbst erst vor ein paar Monaten erfahren. Martin hatte sich mir gegenüber immer sehr merkwürdig verhalten, wenn es um Dinge ging, die das Krankenhaus und vor allem die Spenderorgane betrafen, also habe ich gedroht mit ihm Schluss zu machen, wenn er mir nicht endlich die Wahrheit sagen würde. Er meinte, dass wir damit eine Menge Geld verdienen könnten und gleichzeitig Menschen helfen würden, die auf eine Spende warteten.“

 

Diese Reaktion hatte Julian nicht erwartet. Emily erkannte es an seinem veränderten Gesichtsausdruck. Bei ihren Worten begann er zu zittern und verschloss seine Augen angestrengt vor der kalten Wahrheit, die ihn damit traf. Das erste Mal sah Emily in ihm wieder den alten Arbeitskollegen, der mit dem, was er tat, Menschen helfen wollte.

 

„Mir war es egal, was in Osteuropa passiert und ich habe Martin auch nicht weiter danach gefragt. Ich wollte einfach nur diesen Urlaub machen und wenn man so leicht an Geld kommen würde, dann..“, sie hielt inne, da er sie nun direkt ansah.

 

„Es tut mir leid“, hauchte sie. „Aber bitte, bitte tu mir das nicht an!“ Wieder fing sie an zu weinen, wusste nicht mehr weiter und lag einige Sekunden stumm da, bis Julian das Messer sinken ließ und ohne ein weiteres Wort aus der Scheune ging.

 

 

 

Ende

 

12 thoughts on “Gewähltes Schicksal

  1. Ich mag deinen Schreibstil total gerne. Die Geschichte lässt sich mega flüssig lesen und man kann sich richtig gut in die Situation hinein versetzen. Auch die Idee finde ich richtig gut. Die Nachrichten von Julian sind auch sehr gut verfasst, das gefällt mir besonders.
    Einziges Manko ist für mich das Ende, da hat mir das große Finale, ein Twist zb, gefehlt. Hoffe, das Feedback hilft dir. Liebe Grüße, Jenny /madame_papilio

  2. Moin Julia,

    eine tolle Kurzgeschichte die du uns hier präsentierst! Ein in sich gut entwickelter Plot , verbunden mit einem Schreibstil der Dich nicht mehr los lässt! Und zu was für einen Thema du die Parameter umgesetzt hast…Echt gut gemacht!
    Hat mir gut gefallen…

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für’s Voting!

    LG Frank aka leonjoestick (Geschichte:Der Ponyjäger)

  3. Hii, echt eine mega interessante Idee und ist auch alles sehr schlüssig. Vielleicht wäre es auch interessant gewesen, wenn bereits vorher Andeutungen auf ihre Mithilfe beim Organhandel gewesen wären oder man mehr Einblick in ihre Gedanken dazu bekommen hätte. Ansonsten echt gut geschrieben, das plötzliche, offene Ende hat mich überrascht.

    LG Laura (121 Tage)

  4. Hallo Julia,
    du hast eine sehr gute Geschichte geschrieben. Das Thema Organhandel ist wichtig. Dein Schreibstil ist sehr flüssig. Der Anfang gefiel mir besonders gut, zumal es sehr realistisch scheint, wie sie auf die Drohung reagiert, die sie auf ihr Handy erhielt. Der Schluss könnte vielleicht etwas spektakulärer ausfallen, aber das ist nur mein Geschmack. Da ich mich sehr gut unterhalten habe, bekommst du von mir auch sehr gerne ein Like. 😊
    Falls du magst, würde ich mich über einen Gegenbesuch sehr freuen. Meine Geschichte heißt „Stunde der Vergeltung“.
    Liebe Grüße und viel Erfolg!
    Angela

  5. Liebe Julia,

    ich habe deine Geschichte gerne gelesen. Dein Schreibstil ist flüssig und angenehm zu lesen.

    Spannung war gegeben, wobei ich den Weg zur Scheune gar nicht so ausführlich dargestellt hätte, das hätte den Mittelteil vielleicht noch einen Tick spannender gemacht. Aber das ist nur meine persönliche Meinung.

    Das offene Ende lässt einen nachdenklich zurück, so wie es sein soll.

    Gerne lasse ich dir ein Like da und wünsche dir weiterhin viel Freude am Schreiben!

    LG Yvonne/ voll.kreativ (Der goldene Pokal)

Schreibe einen Kommentar