HerbstlingGewissenlos

0.1

Als Stefan nass ins Schlafzimmer taperte, blinkte es im Flur auf dem Schuhschrank. Kiaras Handy.

Sicher würde sie gleich erneut hereinstürmen. Ohne ihr Telefon war Kiara praktisch lebensunfähig. Besonders im Moment. Es war ihrem Organisationssinn und ihrer Strukturiertheit geschuldet, dass sie jetzt am Ziel waren.

Er verdankte ihr alles und das wusste er.

Nachdem Stefan sich fertig angezogen und die Haare mit einem Handtuch halbwegs trocken gerieben hatte, war Kiara nicht wieder zurückgekommen. Ungewöhnlich. Schon am Auto hätte sie merken müssen, dass sie das Gerät vergessen hatte, da sie überall mit dem Navi hinfuhr.

Stefan trat in den Flur und schaltete das Licht ein. Das Handy lag weiterhin da. Beim Näherkommen stellte er fest, dass es gar nicht Kiaras Telefon war. Es hatte eine von diesen schimmernden, glitzernden Schutzhüllen in lilafarben. Er hob das Handy auf und drückte auf die Seitentaste. Das Display leuchtete auf und zeigte ein graublaues Hintergrundbild mit Datum und Uhrzeit. Keine weiteren Informationen. Gehörte es vielleicht einer Freundin von Kiara? Doch im Stress der letzten Tage hatte sie niemand besucht. Soweit er wusste.

Hatte Kiara sich heimlich mit jemandem getroffen? Diese Eingebung schoss blitzartig in seinen Kopf. Dann schloss er die Augen. Nein. Nicht Kiara. Nur das eigene schlechte Gewissen hatte diesen Gedanken aufflammen lassen.

Stefan öffnete die Augen und wischte mit dem Daumen über die Oberfläche des Handys. Keine Pinabfrage.

Stattdessen entsperrte sich das Gerät und der Homescreen des Telefons erschien.

Stefan zögerte einen Moment, aber seine Neugier und sein leiser Argwohn waren geweckt. Er begann auf dem Handy herumzustöbern. Im Telefonbuch waren lediglich Nummern eingespeichert ohne Namen. Nur Zahlenfolgen und Rufnummern.

Eine der typischen Kommunikationsapps fand er nicht, im SMS-Speicher befanden sich keine Nachrichten.

All das wirkte so befremdlich, dass Stefan schon drauf und dran war, das Telefon wieder in den Flur zu legen.

Vielleicht hatte Kiara das Ding irgendwo gefunden und wollte sich später darum kümmern. Oder es war einfach kaputt.

Er drehte das Handy um. Es sah nicht beschädigt aus, eher neuwertig und die Kamera schien ebenfalls intakt. Die Kamera!

Stefan öffnete die Galerie.

Fotos. Es gab Fotos. Fotos von ihm und ihr. Fotos, wie er sie küsste. Im Auto vor ihrem Haus. Fotos, wie sie die Treppe hinauf zu ihrer Haustür stieg.

Stefans Mund wurde trocken. In seinem Körper spielten die Hormone Happy Hour. Ein kleiner Panik-Cocktail, ein kurzer Angst-Schnaps und ein Schuld-Longdrink. Er scrollte weiter, während seine Finger zu zittern begannen. Er griff mit der zweiten Hand zu, um das Handy nicht fallen zu lassen. Mehr Fotos. Fotos von Hotelrechnungen. Dort hatten sie sich immer heimlich getroffen.

Und mit einem Schlag war alles wieder da. Die ganze unbedachte Affäre.

0.2

Als Yvonne und ihre Mutter bei Stefan und seinem Vater einzogen, war Stefan gerade volljährig geworden. Natürlich hatten die beiden sich schon vorher gekannt, denn die Beziehung ihrer Eltern war ein paar Jahre gelaufen, bevor sie beschlossen zusammenzuziehen. Stefan konnte mit der damals Zwölfjährigen nicht viel anfangen. Sie war sportlich, begeisterte sich für Mittelaltermärkte, Schmiedekunst, Bogenschießen und Pferde. Er saß gern am Computer, traf Freunde im Kino und las tonnenweise Bücher. Sie hatten keine größeren Streitereien, aber zu wenige Interessen, die sie hätten teilen können.

Das änderte sich auch nie, doch als zwei Sommer später aus den beiden Haushalten einer wurde, veränderte sich Stefans Blick auf das Mädchen.

Ganz allmählich wandelte sich Yvonne zu einer Frau. Ihre Brüste rundeten sich, ihre Beine wurden länger, die Röcke und Hosen, die sie trug, immer kürzer. Sie hatte schnell heraus, dass sie Jungs problemlos um ihren kleinen Finger wickeln konnte.

Stefan erwischte sich häufiger dabei, wie er sie betrachtete. Manchmal heimlich, durch den verdammten Türspalt, wenn sie mal wieder mit leicht geöffneter Tür duschte. Später würde sie ihm gestehen, dass sie die Tür absichtlich offen stehen gelassen hatte, damit er sie beobachtete.

Zunächst passierte nichts. Stefan war zu vernünftig, um mehr als ein paar geheime Fantasien an Yvonne zu verschwenden.

Doch sie lockte ihn subtil, das wurde ihm mehr und mehr klar. Ihre Andeutungen, ihre zufälligen Berührungen, die nicht wirklich zufällig waren.

Bei der Hochzeit ihrer Eltern lief es dann aus dem Ruder. Yvonne übernahm sich mit ihren knapp 17 Jahren reichlich mit dem Alkohol. Stefan wollte den Rest der Feier nicht zum Fiasko für seinen Vater und ihre Mutter werden lassen. Er bot an, das betrunkene Mädchen nach Hause und ins Bett zu verfrachten. Im Taxi bestand sie darauf, mit ihm hinten zu sitzen, und schmiegte sich an ihn, dass er jeden Zentimeter ihres Körper durch den dünnen Stoff des Kleides spürte.

In der Wohnung der Familie versuchte Yvonne schon im Flur, ihn zu küssen. Er wehrte sich zuerst, doch ihr heißer Atem an seinem Hals, das leise Keuchen, was sie von sich gab, ihre warme Haut unter diesem knappen Fetzen, den sie trug, weckten seine verbotenen Fantasien.

„Du willst mich doch schon lange.“ Sie drängte sich an ihn und flüsterte so nah an seinem Ohr, dass ihre Lippen ihn leicht berührten. „Jetzt nimm mich auch endlich!“

Er durchschaute, dass Yvonne gar nicht so betrunken war, wie sie vorgegeben hatte. Diesen Versuch, ihn zu verführen, hatte sie geplant.

Stefan schob sie von sich. Ihr anziehender Duft schlug ihm entgegen. Yvonne war seine Schwester, seit heute sogar offiziell. Es war nicht verboten, sie waren nicht verwandt.

Und doch stieß ihn der Gedanke ab. Sie war viel zu jung und angetrunken. Das hier war mehr als verwerflich.

Aber Yvonne hatte sein Verlangen schon geweckt. Das Blut rauschte durch seine Adern und das Gerangel, das Herunterreißen der Kleidung, die harten Griffe ließen seine Gegenwehr schließlich in pure Gier umschlagen.

Stefan hielt sie nicht länger zurück und die beiden stürzten sich regelrecht aufeinander.

Die Erinnerungen an die Nacht, die sie miteinander verbracht hatten, erfüllte ihn für immer gleichermaßen mit Scham und Begehren, doch verschwand nie völlig aus seinen Gedanken.

Am nächsten Tag reiste Stefan überstürzt ab. Er wohnte mittlerweile nicht mehr in der Wohnung der Eltern, sondern in einer Studenten-WG in der Nachbarstadt.

Der Vorfall verankerte sich in Stefans Kopf, doch er sprach mit niemandem darüber. Wie hatte er sich on dieser Göre verführen lassen können? Es war wie ein kitschiger Film.

Bei Familienfeiern ging er Yvonne aus dem Weg. Er vermied es, mit ihr allein zu sein, und wich jedem Gespräch und jedem Augenkontakt aus.

Alle Nachrichten, die sie ihm schickte, löschte er ungelesen. Briefe öffnete er nicht, sobald er ihre Handschrift auf dem Umschlag erkannte.

Er ließ den Kontakt immer weiter einschlafen und besuchte auch seinen Vater und seine Stiefmutter kaum, um ein Zusammentreffen zu vermeiden.

Als er Kiara kennenlernte und der Familie vorstellte, tat er das mit fast feierlicher Stimme. Sie war die erste richtige Freundin, die er hatte. Die erste, die er nicht mit Yvonne verglich und er war glücklich, dass er sich endlich voll und ganz auf jemanden einlassen konnte.

Seit der Nacht der Hochzeit ihrer Eltern, wagte er es, wieder Blickkontakt zu Yvonne aufzubauen. Sie lächelte schmal und nickte den beiden zu.

Später sah er sie allein auf dem Balkon beim Rauchen. Etwas zögernd trat er auf den nach draußen.

Sie begrüßte ihn mit einem dünnen „Hallo“ und rauchte schweigend weiter, während er Belanglosigkeiten über das Wetter und das Essen verlauten ließ.

Yvonne unterbrach ihn brüsk.

„Bist du wirklich gekommen, um mit mir über den Regen zu sprechen? Das kann einfach nicht dein verdammter Ernst sein!“ Sie zündete sich eine weitere Zigarette an.

Er strich sich verlegen die Haare zurück.

„Nein. Natürlich nicht. Ich… wollte mich schon lange bei dir entschuldigen. Diese Geschichte zwischen uns. Das hätte nicht passieren dürfen. Ich bereue das immer noch. Wir sind doch… Geschwister.“, schloss er matt.

Yvonne nickte knapp. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet. Allmählich wurde es dunkel und es fiel ihm schwer, ihren Gesichtsausdruck zu deuten.

„Bist du okay?“, fragte er halblaut, aber als sie nicht antwortete, wandte er sich wieder zur Tür, um sie allein auf dem Balkon zu lassen.

„Seit dieser Nacht ist bei mir gar nichts mehr ‚okay’!“, blaffte sie. Sie schubste ihn rücksichtslos zur Seite, um sich Platz zu schaffen. Stefan prallte mit der Schulter gegen die Wand und starrte sie fassungslos an. Yvonne ließ ihm keine Gelegenheit etwas zu erwidern. Ehe er auch nur den Mund aufmachen konnte, verschwand sie in der Wohnung und ließ ihn draußen zurück.

Wie hatte er sich auf seine Stiefschwester einlassen können, wenn sie es auch noch so sehr provoziert hatte. Offenbar war Yvonne damals extrem verliebt gewesen und so, wie sie sich aufführte, war sie es vielleicht heute noch.

Und er? Hatte er nicht immer nur ihren Körper gewollt? Seit er sie das erste Mal beim Duschen beobachtet hatte, stellte er sich vor, wie es wäre seine kleine, heiße Schwester zu verführen. Und dann hatte sie ihn überrumpelt und seine Fantasie erfüllt. Bis heute hatte er keine Ahnung, wie er damit angemessen umgehen sollte.

 

Stefans Gewissensbisse wuchsen über die nächsten Jahre. Jetzt war es Yvonne, die ihn bei Familientreffen mied und auf seine Fragen nur einsilbig antwortete, wenn sie überhaupt reagierte.

Mehrfach hatte er versucht, sie anzurufen und einige Briefe geschrieben. Erfolglos. Katze und Maus hatten die Rollen getauscht.

Doch er war nicht bereit noch so ein Familienfest durchzustehen. Die letzten Male war er sich völlig lächerlich vorgekommen, weil er immer von Neuem versucht hatte, mit Yvonne zu sprechen, und sie ihm ausgewichen war.

Das musste endlich wieder anders werden. Kiara würde in diesem Jahr bei der Weihnachtsfeier seiner Familie dabei sein und er wünschte sich, das es ein schönes Fest wurde. Für alle.

An einem regnerischen Tag im Dezember steig Stefan ins Auto und fuhr zu Yvonnes Wohnung, um diese alte Geschichte endlich abzuhaken. Sobald Yvonne ihn im Hausflur erkannte, schloss sie die Tür direkt wieder.

„Bitte mach die Tür auf. Es kann doch so nicht weiter gehen.“, sagte er ruhig. Er lehnte sich energielos an die Wand, und suchte nach Worten.

„Es tut mir so leid, Yvonne. Ich wollte dich nie verletzen.“

Hinter der Tür blieb es eine Weile still, doch schließlich öffnete Yvonne wieder die Tür. Stefan löst sich von der Wand und suchte ihren Blick.

Die beiden standen voreinander, sie in einem halblangen Nachthemd, mit einem blauen Bademantel darüber, und er mit den regennassen Haaren, mit Worten ringend, die Hand fest an die Tür geklammert.

Yvonne bebte am ganzen Körper, als sie ihn endlich in die Wohnung ließ, und statt seinen Erklärungen zuzuhören, öffnete sie ihren Bademantel und streifte das Nachthemd ab.

Ab diesem Moment waren es nur Momentaufnahmen in Stefans Kopf. Der erste, gierige Kuss nach all der Zeit. Das Aufwallen der verbotenen Leidenschaft. Seine Kleidung verstreut auf einer Spur ins Wohnzimmer. Der harte Parkettboden unter ihnen. Seine Hände, die grob ihre Handgelenke festhielten. Ihre halblauten Schreie der Lust. Das Gefühl der ungeahnten Befriedigung, die auf dieses Erlebnis folgte.

Sie war ihm so fremd und gleichzeitig vertraut und ihr Körper weckte Gefühle in ihm, die er mit Kiara nicht kannte.

Yvonne und Stefan begannen sich unregelmäßig zu treffen. Mal bei ihr, mal im Hotel.

 

Obwohl der rationale Teil in seinem Kopf diese Romanze ablehnte und ihn das Gefühl, dass er Kiara ständig belog und betrog, auffraß, vermochte er nicht, das Ganze beenden.

Er liebte Kiara und er wollte sein Leben mit dieser Frau verbringen, die so zärtlich war. Er schätzte ihre Hingabe und ihre Hartnäckigkeit. Sie war ehrgeizig, aber auf eine sanfte Art und sie gab ihm nie das Gefühl, dass seine Ideen und Wünsche nicht wichtig genug seien, um wahr zu werden.

 

Stefan führte ihre Beziehung weiter, als wäre alles in Ordnung. Wenn sie zusammen waren, war er glücklich und konnte vergessen, dass es Yvonne gab.

Es gab selten Streit zwischen ihnen und an ihrem Sexualleben veränderte sich nichts zum Negativen.

Es war nicht so maßlos, nicht so aufregend. Liebevoll, gewaltlos, harmlos. Es hatte nicht diesen Reiz des Verbotenen, der Stefan immer wieder verlockte.

Im Mai hatte Kiara erfahren, dass sie schwanger war, und es sofort Stefan erzählt. Er freute sich unheimlich, auch wenn das Leben mit einem Säugling ihnen den Geschäftsstart nicht unbedingt erleichtern würde.

Seit zwei Jahren arbeiteten Kiara und Stefan gemeinsam an ihrem großen Traum. Ein eigener Buchladen. Zusammen hatten sie den winzigen Laden ausgesucht, ein paar Dinge umbauen lassen und dann alles renoviert, was sie nicht selbst schafften. Die Eröffnung würde in einigen Monaten sein, fast konnte man die Wochen zählen. Das Baby würde das letzte bisschen Energie benötigen, was er nach einem Tag im neuen Laden aufbrachte, trotzdem beglückte ihn der Gedanke an die Tochter, die sie im Dezember bekommen würden. Kiara und er hatten sich darauf geeinigt, sie „Sarah“ zu nennen.

 

Stefan wurde klar, dass er dieses gedankenlose Verhältnis zu Yvonne endgültig beenden musste. Seine eigene, kleine Familie sollte nicht unter seiner Dummheit leiden. Kiara hatte niemals Verdacht geschöpft, soweit er wusste und es bestand die Hoffnung, dass sie nie erfahren würde, was er getan hatte.

 

Stefan verabredete sich mit seiner Stiefschwester in einem Café in ihrer Nähe und hoffte, sie würde ihm in der Öffentlichkeit keine allzu heftige Szene bereiten. Das Gespräch verlief merkwürdig. In der Vergangenheit hatten sie selten gemeinsame Themen zum Reden gefunden.

Yvonne war wie vor den Kopf geschlagen von der Neuigkeit. Vermutlich hatte sie angenommen, dass die Beziehung zwischen Stefan und Kiara nicht eben glücklich war, wenn er zwei- bis dreimal im Monat Yvonne bei geheimen Treffen bumste.

Stefan versuchte dessen ungeachtet, eindeutige Worte zu finden und die Affäre klar zu beenden. Yvonnes Augen schwammen in Tränen, als er ihr das Versprechen abnahm, sich zukünftig nicht zu melden. Er erklärte, dass er sie nicht mehr treffen würde, wenn es sich vermeiden ließ, und dass Kiara und das Kind ihm wichtiger waren als jeder Sex der Welt.

Sie hatte es hingenommen. Wortkarg war sie aus dem Café verschwunden und hatte sich seine vorbereitete Entschuldigung nicht angehört. Er konnte es ihr nicht wirklich verübeln. Seither hatte er nichts mehr von Yvonne gehört.

 

0.3

Bis jetzt. Stefan wankte ins Schlafzimmer zurück und sank auf die Bettkante.

All diese Fotos. Wie war Kiara daran gekommen? Wie lange wusste sie über die Affäre Bescheid? Warum hatte sie ihn nie zur Rede gestellt?

Er raufte sich die Haare und scrollte weiter durch die Galerie des Telefons. Es gab sogar Bilder von Yvonne und ihm, wie sie Sex im Treppenhaus ihrer Wohnung hatten. Wer hatte diese Aufnahmen angefertigt? Ein Detektiv?

Hier waren Fotografien von Yvonne allein. Und es gab Screenshots von Nachrichten, die sie sich geschrieben hatten, um sich zu verabreden. Nachrichtenverläufe, in denen sie sich vor dem Treffen gegenseitig aufgegeilt hatten. Es war so abstoßend, das zu lesen. Aus der Perspektive einer anderen Person. Aus Kiaras Sicht.

Stefan wurde es speiübel. Was jetzt?

Eiskalt krochen die Schuldgefühle seine Beine hinauf, hinterließen einen Eisklotz in seinem Bauch und wanderten weiter zum Herzen.

Als er sich durch die komplette Galerie gescrollt hatte, wechselte er in den Dokumentenordner. Es gab nicht nur Fotos. Hier waren zusätzlich Dokument-Dateien abgelegt.

Zuerst verstand er nicht recht, worum es sich dabei drehte. Um Feuer und Brandfälle. Doch je mehr er las, desto elender wurde ihm. Das Puzzle ergab allmählich ein furchtbares Bild. Die detaillierten Recherchen, typisch für Kiara, zu Brandbeschleunigern, Materialien, Rechts- und Versicherungslage und chemischen Komponenten. Zeitungsberichte, die von möglicher Brandstiftung handelten, die allerdings nie bewiesen werden konnten.

Alles deutete darauf hin, dass Kiara bittere Rache plante. Der Buchladen.

Ein Brand, der unmittelbar vor der Eröffnung den Laden zerstörte, würde ihn ruinieren, wenn die Versicherungslage nicht in kurzer Zeit geklärt werden konnte. Seine gesamten finanziellen Mittel steckten in diesem neuen Geschäft. Stefan hatte angenommen, dass es Kiara ähnlich ging, doch die Abgründe der Dokumentenansicht des Telefons zeigten, dass es offenbar Rücklagen gab, von denen er keine Ahnung hatte. Kontoauszüge, die verrieten, dass vier- und fünfstellige Summen den Besitzer wechselten. Wenn es Verwendungszwecke gab, waren es kryptische Zahlenansammlungen wie schon im Telefonbuch des Handys.

Stefan schloss für einen Moment die Augen. Durch das offene Fenster strahlte die morgendliche Julisonne herein, schien auf seine nackten Füße, vermochte es aber nicht, sie zu wärmen.

Ruhe bewahren. Nur nicht durchdrehen. Doch seine Hände zitterten noch immer und es fiel ihm schwer, seine Gedanken zu sammeln. Sein eigenes Handy. Er brauchte seinen Terminkalender.

Morgen hatte Kiara früh einen Termin beim Gynäkologen und wollte erst danach in den Buchladen kommen, um letzte Vorbereitungen zu treffen. Dann würde er aber schon dort sein. Und übermorgen, am Freitag, würde ab 8:30 Uhr der Catering-Service mit ihm zusammen im Laden sein. Der Tag der Eröffnung.

Heute. Heute war der letzte mögliche Tag. Er selbst sollte mittlerweile unterwegs sein und an einer Besprechung mit einem Buchverlag teilnehmen. Erst am späten Nachmittag hatte er geplant, zum Geschäft zu kommen. Wo war Kiara jetzt? Er erinnerte sich nicht daran, was sie besprochen hatten.

Warum hatte sie so hektisch das Haus verlassen? Verfolgte sie ernsthaft den Plan, alles zu zerstören, woran sie seit Jahren lange gemeinsam gearbeitet hatten?

Wegen einer Affäre. Einer Affäre mit seiner Stiefschwester. Er schlug sich die Hand vor den Mund. Was hatte er angerichtet? Warum hatte er alles aufs Spiel gesetzt?

Möglicherweise bestand die Chance, den Plan zu verhindern. Kiara war noch nicht lange fort. Wenn er sich beeilte, konnte er sie aufhalten, bevor sie ihre Absichten umsetzte.

Stefan löste sich mit einem Ruck aus seiner Schockstarre. Mit fahrigen Bewegungen kleidete er sich an, schlüpfte in seine Schuhe, packte den Autoschlüssel, sein eigenes Handy und das Telefon, das seine ganze Welt ins Wanken brachte.

 

Den Weg zum Buchladen hätte er mittlerweile im Schlaf gefunden. Wie oft hatte er Material und Werkzeug hierher gefahren?

Die Gedanken rasten in seinem Kopf. Würde Kiara allen Ernstes ein Feuer legen? Nicht nur, dass damit seine Existenz verbrannte, sie brachte überdies sich und das Kind in Gefahr. Sarah. Das Mädchen, das sie sich lange Zeit gewünscht hatten.

Bevor sie sich entschlossen hatten, alle Energie in den Buchladen zu stecken, hatten sie jahrelang versucht, ein Baby zu bekommen, doch es klappte nicht.

Kiara hatte sich untersuchen lassen und es hatte sich herausgestellt, dass es unwahrscheinlich war, dass sie jemals schwanger werden würde.

Stefan und sie waren am Boden zerstört gewesen. Rückblickend hatte diese Krise ihre Beziehung eher gestärkt. Gemeinsam hatten sie alle bisherigen Pläne über den Haufen geworfen und neue geschaffen. Um sie zu verwirklichen, hatte Stefan den Buchladen gekauft. Ein Herzenswunsch, den er im Grunde seit seiner Teenagerzeit gehegt hatte.

Immer hatte er sich in seinen Büchern vergraben und war fasziniert von all den Welten gewesen, die zwischen zwei Buchdeckeln zu finden waren. Er hatte sich durch das Betriebswirtschaftsstudium gequält, um die Voraussetzungen für ein eigenes Geschäft zu besitzen, und nun wagte er es endlich diesen Traum mit Kiara zu verwirklichen.

Sie hatte den Laden von Anfang an geliebt. Mit Feuereifer hatte sie Böden abgeschliffen und Wandfarbe ausgewählt, bevor er den ersten Ratenbetrag eingezahlt hatte.

In letzter Zeit hatte sich Kiaras Tatendrang etwas gelegt, doch Stefan hatte das mit der Schwangerschaft in Verbindung gebracht.

 

Stefan lenkte das Auto durch die schmale Einfahrt auf den Hinterhof zum Parkplatz.

Mit wachsender Panik sprang er aus dem Wagen und eilte zur Tür, die ins Lager führte. Diese fand er unverschlossen vor. Aber kein Rauch, kein Brandgeruch.

Halbblind von der Sonne tastete er sich durch den dunklen Gang zum Lagerraum. Hier konnte er nichts Auffälliges zu entdecken. Sobald sich seine Augen komplett an das dämmrige Licht gewöhnt hatte, öffnete er die nächste Tür.

Der Verkaufsraum war leer. Stefan atmete heftig. Sein Lieblingsgeruch nach neuen Büchern und Papierstaub vermochten nicht, ihn zu beruhigen. Er kontrollierte hektisch alle Gänge, doch sah nichts und niemanden.

Fast wagte er zu hoffen, sein schlechtes Gewissen hätte ihm einen Streich gespielt, aber warum war die Tür nicht verschlossen gewesen?

Und in der Tasche seiner Sweatjacke wog weiterhin schwer das fremde Telefon. Er holte es heraus und betrachtete einen Moment das dunkle Display. Kein Albtraum, das hier war Realität und alles seine Schuld.

Er lauschte auf seinen eigenen panischen Atem, und dann hörte er es. Ein Geräusch über ihm. Sie war im Büro. Raschen Schrittes durchquerte er den Laden und begab sich auf die Treppe. Leise hinaufschleichen und Kiara überraschen oder lieber schnell sein, um sie davon abzuhalten, etwas Fatales zu tun?

Nach wenigen Tritten bemerkte Stefan, dass er zu aufgeregt war, um sich geräuschlos zu verhalten. Die alte Holztreppe knarrte. Durch die hereinscheinendenden Sonnenstrahlen wirbelte er Staub auf. Mit heftig klopfendem Herzen eilte er die letzten Stufen hinauf und riss die Bürotür nach innen auf.

Der Schmerz traf ihn völlig unvorbereitet. Panisch registrierte er, dass er nicht atmen konnte. Seine Hände tasten sich nach oben zu seiner Brust, zu seiner Kehle. Mit wachsendem Schrecken stellte er fest, dass sein Blut heiß über seine Finger strömte. Der Pfeil hatte sein Ziel perfekt getroffen. Stefans Hals war vollständig durchbohrt. Sein Blick verschwamm, doch deutlich erkannte er die Schützin. Yvonne, die mit gemessenen Bewegungen auf ihn zuhielt und abwartete, bis er zu Boden gesunken war. Er griff nach ihr, aber es kostete sie nur einen halben Schritt, um aus seiner Reichweite zu kommen. Bevor er in die erstickende Bewusstlosigkeit hinüberglitt, hörte er ihre feixende Stimme: „Danke, dass du mir mein Handy zurückgebracht hast.“

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