Felixz EcksteinHandy

Er war auf dem Weg nach Hause. In letzter Zeit ging er täglich im Park spazieren, er wusste nicht mal wieso. Lag es an ihr? Wollte er den Kummer, der in ihm seit ihrem Fortgehen nagte, weglaufen?

   Ein Streifenwagen fuhr gerade vorbei, als Steven die Straße erreichte, in der er wohnte. Zurzeit sah er sie oft, sogar im Park waren zwei Polizisten gewesen. Vage hatte er noch die Nachrichtenstimme im Ohr, die von einem Täter auf freiem Fuß gesprochen hatte.

   Doch Steven scherte sich nicht länger darum und erklomm die bröckelnde Steintreppe vor seinem Haus. Auf der ersten Stufe blieb er abrupt stehen. Ein Gegenstand, unweit vor ihm, lag zwischen den Grashalmen. Es funkelte in der Nachmittagssonne. Steven hob es auf, ein Smartphone. Dünne Risse zierten die obere Ecke des Displays. Spider-App, wie es die Kids scherzhaft nannten. Es hatte eine lila Schutzschale auf der Strasssteine klebten, die im Sonnenlicht glitzerten. Sie stellten einen Schmetterling dar. Manche Steinchen waren schon abgefallen und hinterließen nur einen dunklen Fleck ihrer Form. Ein Schmetterling mit halbem Flügel.

   Es müsste einer Frau gehören, einer jungen Frau. In seinem Haus, sowie in der Nachbarschaft, sah er nur ältere Leute. Er fiel deutlich aus der Altersquote. Was nicht schlimm war, denn die Älteren waren ruhige Untermieter.

   Er würde das Smartphone am nächsten Tag im Fundbüro abgeben.

   Steven betrat seine kleine und überschaubar möblierte Wohnung, die nur aus einem Zimmer, einer winzigen Küche und einem Bad bestand. Nicht einmal ein Flur lag hinter der Wohnungstür. Er legte das Handy geistesabwesend auf seinen Schreibtisch. Wie immer wenn er heimkehrte, hatte er nur Augen für sie. Er trat zum Bild, das letzte Bild, das er von ihr noch hatte. Seine Wut, die gekommen war als sie ging, hatte jede Faser seines Körpers übermannt und er hatte alle Fotos zerstört, verbrannt, gelöscht, in der Hoffnung dadurch auch jede beißende Erinnerung an sie wie einen Blinddarm aus seinem Gedächtnis zu schneiden. Doch das war nicht möglich. Die gemeinsame Zeit, die Spaziergänge, die Nachmittage im Café, all die Momente hafteten felsenfest in ihm. Dieses eine Foto aber, hatte er nicht zerstören können.

   Es hing an der Wand über seinem Schreibtisch. Von seinem Bett aus konnte er sie gut sehen und ihr Gute Nacht sagen, auch wenn sie es in Wahrheit nicht hörte.

   Wie um dem Abbild einen Titel zu geben, hatte er mit Edding ihren Namen darüber geschrieben: MIA. In Blockschrift, mit Verzierungen. 

   Das Tageslicht, das fahl durch sein kleines Zimmerfenster schien, strich sanft über ihre Gesichtszüge. Sie blickte zur Seite, dennoch war ihre Schönheit zu erkennen. Ihr Schmunzeln ließ kleine Grübchen entstehen. Die feine Nase, die besondere Form der Augen, die leicht geschlossen waren, als dächte sie nach. Trotzdem war der Glanz in ihnen zu sehen, das Lebendige. Die vollen Lippen, das Nasenpiercing, das durch die Lichtreflexion zu leuchten schien. Ihre gelockte Mähne, die wie ein blonder Wasserfall auf ihrer rechten Schulter lag.

   Steven streichelte ihre Wange, malte sich aus, wie weich sich ihre Haut anfühlen würde, wie ihr Duft riechen würde. Blumig würzig, wie eine Frühlingsbrise. Er spürte Hitze in seinen Lenden aufsteigen.

   Die Beule in seinem Hosenschritt erschlaffte. Er ließ von ihr ab. Warum musste sie ihn verlassen? Warum hatte sie den Kontakt zu ihm abgebrochen? Er wusste es nicht. Sie hatte nichts zu ihm gesagt, sich nicht erklärt. Was hatte er falsch gemacht? Egal was er versuchte, sie war unerreichbar, eine Bergspitze, die nicht zu erklimmen war. Die Wut war verstummt, doch was blieb, war das unbändige Vermissen, das an ihm zehrte.

   Das Handy auf seinem Schreibtisch gab eine blechernde Melodie von sich, die sich wie eine Fanfare anhörte.

 

Ein Emoji war auf dem gesprungenen Display zu sehen. Mit einem Monokel und hochgezogener Augenbraue, sah der gelbe Kreis ihn zwischen zwei Rissen an.

   Das Handy verlangte keinen Entsperrungscode. Steven ging auf die Nachricht. Am oberen Displayrand stand eine Nummer, deren Vorwahl er noch nie zuvor gesehen hatte. Eine Nummer aus dem Ausland? Er hielt kurz inne, dann tippte er eine Nachricht.

Ich habe dieses Handy vor meiner Wohnung gefunden

Steven wartete kurz und fügte hinzu:

Können wir uns treffen? LG

Er schickte die Zeilen ab und fokussierte das Display. Statt einem Haken, blieb die symbolische Uhr. Die Nachricht kam nicht durch. Wieder wartete Steven, dann wählte er die ungewöhnliche Nummer. Nach dem dritten Tuten hörte er ein Rauschen. Das Rauschen wandelte sich zu einem verzerrtem Dröhnen. Es knackte mehrmals. Steven legte verwirrt auf. Er ging auf die Kontaktliste. Keine Einträge. Seltsam. Welcher Mensch hatte keine Kontakte in seinem Handy? Heutzutage, wo doch das ganze Leben in dem dünnen Kasten zu stecken schien. Als wäre das Handy erst kürzlich gekauft worden, war auch die Anrufliste leer, bis auf die Nummer, die er gewählt hatte. Vielleicht brachten ihn die gespeicherten Bilder weiter. Die Galerie hatte drei Objekte. Er öffnete das erste Foto und riss den Mund auf. Seiner Kehle entwich ein erstickter Laut. Wie konnte das sein? Steven rieb mit Daumen und Zeigefinger seine Augenhöhlen, doch er war sich sicher, er sah sich selbst auf dem Foto.

   Er war von der Seite fotografiert worden. Hinter ihm waren Bäume. Seine Haare wirr auf dem Kopf, der Blick streng. Fassungslos wischte er zum nächsten Foto. Er sah sich selbst von hinten, die schulterlangen Haare, der grüne Strickpullover, den er oft trug. Vor ihm konnte er eine dünne Gestalt sehen, verschwommen und nur schwer zu erkennen. Meterweit vor ihm, als liefe sie davon. Er verstand es nicht. Sein Finger zitterte, als er nach links wischte. Das Zimmer drehte sich. Auch auf diesem konnte er sich selbst betrachten. Und … Er sah wie er … Die Zimmerwände huschten an ihm vorbei … Wie er … Steven stand in einem Karussell, er war selbst dieses Karussell. Er schmiss das Handy auf den Schreibtisch, als wäre ein Elektroschlag von ihm ausgegangen. Rückwärts lief er zu seinem Bett und ließ sich auf das Laken fallen. Er vergrub sich in seine Decke, als könnte der Stoff ihm Schutz vor dem geben, was er gesehen hatte.  

 

Sein Zimmer lag im Halbdunkeln. Nur noch mit halber Kraft fiel das letzte Tageslicht hinein. Wie in einem Kokon lag Steven eingewickelt in seiner Decke. Er kam sich vor wie ein Kind, dass sich nach einem Albtraum zu verstecken versuchte. Durch einen Spalt starrte er seinen Fund auf dem Schreibtisch an, als wäre es ein beeindruckendes Gemälde.

   Immer noch war ihm schwindelig. Seine Gedanken überschlugen sich. Was sollte das Ganze? Wie konnte es sein, dass Bilder von ihm auf dem Speicher waren? Und dann auch noch Bilder, die keinen Sinn ergaben. Jemand hatte mit Photoshop gearbeitet. Wer war diese Person neben ihm? Er holte sein Handy hervor. Er musste sie anrufen, im Wissen, dass sie womöglich wieder nicht rangehen würde. Steven durchsuchte seine Kontakte, doch er fand ihren Namen nicht. Er scrollte rauf und runter. Hatte er im Affekt ihre Nummer gelöscht? Die Fanfare blies in ihre Hörner. Das Handy auf dem Schreibtisch erhellte kurz den zwielichtigen Raum.

   In langsamen Schritten ging er zu seinem Schreibtisch, als näherte er sich statt einem Smartphone, einem gefährlichen Tier. Sein Atem stockte, als er den kleinen Kasten in der Hand hielt. Mit aufgerissenen Augen starrte er auf den Namen, der hinter dem Glas leuchtete:

S T E V E N

Jeder Buchstabe groß geschrieben, zwischen jedem Buchstaben eine Lücke. Ruckartig warf er einen Blick aus dem Fenster, als fühlte er sich beobachtet. Bis auf einen Jogger, der seinen widerwilligen Hund mit sich zog, konnte er niemanden sehen. Er spürte eine große Unruhe in sich. Tausend Ameisen, die mit ihren winzigen, kratzenden Beinchen durch seine Organe krabbelten. Er öffnete die Nachricht. Wie bei der ersten, war der Absender diese ungewöhnliche Nummer. Wer spielte mit ihm? Wer trieb diese Scharade, um ihn zu erschrecken? Steven wollte das Handy zurücklegen, als die Trompeten ihn davon abhielten.

Erinner dich

stand auf dem Display. Die Fanfare blies. Eine neue Nachricht erschien. Er sah seinen Namen. Die Buchstaben verschwammen in seinem verschleiertem Blick. Trompeten schmetterten durch den Lautsprecher. Wieder und wieder kam die selbe Nachricht:

Steven

Steven

Steven

Steven

Er schrie auf, als hätte ihn jemand gebissen. Mit Wucht presste er seinen Daumen auf die Ausschalttaste. Das Handy gab ein letztes Vibrieren von sich, das Displaylicht erlosch. Er stopfte es unter einen Klamottenberg in der Zimmerecke und sperrte seine Wohnungstür ab. Bevor er in sein Bett kroch, blickte er Mia an, die stumm an der Wand hing.

 

 

Er hörte eine Melodie, ihre Töne dumpf und ganz woanders, als erklängen sie unter Wasser. Sie wurden lauter, klarer, schriller. Ein Klingelton. Ein Handy. Steven riss seine Augen auf und kniff sie sofort wieder zu. Er hielt seine Hand vor sich, das grelle Morgenlicht blendete ihn. Schlaftrunken tastete er nach seiner Hose auf dem Boden und fischte sein Handy hervor. Es war lautlos. Er setzte sich aufrecht. Die schrägen Töne kratzten unter dem Berg seiner Schmutzwäsche, bis sie nicht mehr zu hören waren. Wie konnte das sein? Er hatte es doch ausgeschaltet. War es nur in eine Art Standby-Modus gewesen? Erst jetzt merkte er den Schweiß, der kalt auf seinem Rücken klebte. Er hatte eine unruhige Nacht. Steven blickte zum Portrait an der Wand.

   Mia war in seinem Traum erschienen. Er versuchte sie einzuholen, doch es war, als wollte sie davon laufen. Ständig schrie er ihren Namen, doch sie blieb nicht stehen, als wäre sie taub.         

“Mia, ich bin’s doch, Steven”, rief er ihr hinterher. Er lief schneller durch den Park, die Kiessteinchen knirschten unter seinen Sohlen. Er holte sie ein und berührte ihre Schulter. Mia drehte sich schlagartig um.

   “Lass mich in Ruhe!”, sagte sie erzürnt.

   “Mia? Ich bin’s doch, Steven.”

   “Ich heiße nicht Mia.”

   Er war perplex. “Wie meinst du das?”

   Doch wieder sah er nur ihren Rücken, weit entfernt. Sie war ihm die Antwort schuldig geblieben.

   Steven schüttelte seinen Kopf, um diese Bilder zu vertreiben. Er stand auf und holte den versteckten Gegenstand hervor, den er draußen vor seinem Haus hätte verbuddeln sollen. Tatsächlich, es war immer noch in Funktion. Ein Anruf in Abwesenheit. Der Anrufer die merkwürdige Nummer, die ihm mittlerweile vertraut war. Sein Kiefer knackste, als er seine Zähne aufeinander presste. Wer spielte diesen makaberen Streich mit ihm? Wer wollte ihn so wahnsinnig machen? Seit der Nacht verfolgten ihn diese Fragen. Er hatte sie sich wieder und wieder gestellt, bis er endlich eingeschlafen war. Als würde er ein Telefonbuch durchwälzen, ging er im Kopf alle Namen aus seinem Umfeld durch. Frank. Steven flüsterte wiederholt diesen Namen. Steckte Frank dahinter? Er musste es sein. Steven legte das fremde Handy auf dem Schreibtisch und wählte mit seinem Franks Nummer. Mit jeder Ziffer, die er eintippte, drückte er sein Handy fester in der Hand, er spürte die harten Kanten. Eine dicke Ader durchzog wie eine quirlige Schlange seinen Unterarm. Sie schien zu pulsieren. Bereits nach dem zweiten Tuten nahm Frank ab.

   “Steven?” Er klang überrascht.

   “Steckst du dahinter?”

   “Was meinst du?”

   “Nur wegen dem Streit jetzt so was abzuziehen!”, schrie er ins Telefon.

   Stille.

   “Steven, was willst du eigentlich von mir?”

   “Das Handy, die Nachrichten, die du mir ständig schickst, mit irgendeiner fremden Nummer!”

   “Sag mal, bist du besoffen?”

   “Ich bin klar bei Verstand, aber bist du es vielleicht? Die Fotos von mir, haha, echt witzig! Und dann noch …”

   “Also ich weiß ja nicht was mit dir los ist, du schuldest mir immer noch das Geld, meldest dich die ganze Zeit nicht und jetzt kommst du mir mit dieser Scheiße!”

   Das Handy auf dem Schreibtisch ertönte. Das Display leuchtete wie ein Warnsignal.

   “Steven … Hallo?”

   Diese hohen und schiefen Töne, die das Handy ihm entgegenkreischte. Es vibrierte und schlitterte wie in Zeitlupe über das Holz. Er konnte es nicht sein.

   “Ach verdammte Scheiße, scher dich doch zum Teufel!”, brüllte Frank aus dem Lautsprecher, den Steven nicht mehr an seinem Ohr hielt. Er nahm das fremde Handy und drückte auf den grünen Hörer.

   Es rauschte. Das gleiche Rauschen, als er die Nummer gewählt hatte. Er presste es fester an sein Ohr. Hörte er eine Frauenstimme? Es dröhnte verzerrt. Er drückte fester. Seine Ohrmuschel glühte. Jemand sprach, er konnte es nicht verstehen. Sein Name? Hörte er seinen Namen? Mit einer raschen Bewegung beendete Steven das Telefonat. Die Fanfare blies. Eine neue Textnachricht.

Sieh dir das Foto an und erinner dich

Steven riss das Fenster auf und schmiss mit Schwung seinen seltsamen Fund hinaus.

 

 

Normalerweise würde er jetzt raus gehen und seine Beine vertreten, durch den Park schlendern, die frische Frühlingsluft einatmen, doch ihm war nicht danach. Ihm war nach gar nichts zumute, als besäße sein Zimmer ein undurchdringbares Eisentor. Wieder hatte er schlecht geschlafen. In seinem Traum war er wie in der vorherigen Nacht Mia hinterher gelaufen, doch dieses Mal hatte er es nicht geschafft sie einzuholen. Aus voller Kehle schrie er ihren Namen. Sie blieb nicht stehen. Auf seinen Knien gestützt rang er nach Luft, die Luft war eiskalt und durchschnitt seinen Hals. Er hatte keine Kraft mehr. Plötzlich stand sie direkt vor ihm, er erschrak und kippte beinahe nach hinten. Ihre Mimik war ausdruckslos, ihre Augen schwarz, schwarz wie der Himmel über ihr. ”Erinner dich”, sagte sie ernst zu ihm. Dann war alles dunkel gewesen.

   Es war weg, nicht mehr in seinem Zimmer. Er hätte es im Gras liegen lassen sollen. Dennoch bildete er sich ein, er könnte immer noch die düstere Fanfare hören. Als stünden wie im alten Reich die kaiserlichen Gefolgsleute aufgereiht in seinem Raum und bliesen durch ihre verrosteten Trompeten.

   Steven Steven Steven Erinner Dich

   Er sah Mia an. Betrachtete ihr Schmunzeln. Ihre Fröhlichkeit war wie ein Pflaster für die letzten merkwürdigen Stunden. Ach wäre sie doch jetzt bei ihm. Wie sie Hand in Hand durch den Park gelaufen waren. Das warme Gefühl, das ihre Finger in seine verströmten. Wie sie im Café saßen. Wie sie von ihrem und er von seinem Tag erzählt hatte. Er hätte ihr stundenlang zuhören können.

   Er blickte zu seiner Kamera, die auf dem Schrank lag, verstaubt, seit Langem unbenutzt. Die Posen, die sie vor der Linse gemacht hatte. Mal selbstbewusst, breitbeinig, die Arme in die Hüften gestemmt. Mal elegant, ihren Oberkörper leicht zur Seite gedreht, der Blick über die Schulter geworfen. Wie sie dabei immer lachte und Luftküsse in seine Richtung schickte. Sie war wie ein Model, sein Model. Dann dieser schmierige Typ, der ihr Band hatte trennen wollen.

  Ein Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Er blickte ruckartig zur Tür und hielt die Luft an. Das Klopfen wurde zu einem Hämmern. Die Bettfedern quietschten, als er schwermütig aufstand.  

 

Im Flur war niemand. Was soll … Schrille Töne zersägten die Stille. Das Handy lag auf seiner Türschwelle. Es bewegte sich langsam und zitternd in seine Richtung, ein Käfer, der einen viel zu schweren Panzer trug. Wer war das? Steven rann zum Fenster. Er erkannte eine männliche Gestalt, die eine Basecap trug, der Schirm nach hinten zeigend. Sie entfernte sich gerade von der Steintreppe vor seinem Haus.

   “Bleib stehen!”, schrie Steven das verschlossene Fenster an. Er rann nach draußen.

   Seine Beine verknoteten sich, das Treppengeländer fing seinen Sturz ab.

   “Bleib stehen!”, schrie er wiederholt die Gestalt vor ihm an. Der Mann drehte sich um. Steven sprang auf ihn, beide fielen zu Boden. Der Mann keuchte. Steven griff mit beiden Händen den Ausschnitt seines T-Shirts, seine Fäuste verkrampften.

   “Was willst du von mir?” Er schüttelte den am Boden Liegenden. “Sag schon?” Er schüttelte kräftiger. “Warum hast du das Handy …”

   “Lass ihn gehen!” Steven blickte zur Straße. Eine ältere Dame lief mit einem Stock humpelnd in seine Richtung. “Lass ihn gehen, oder ich rufe die Polizei!”, schrie sie und hob dabei bedrohend ihre Gehhilfe.

   Seine Handgelenke wurden umfasst. “Bitte”, flehte ihn der Mann mit zaghafter Stimme und weit aufgerissenen Augen an. Seine Haut war übersäht mit Pickeln. Ein leichter Flaum sprieß über seiner Oberlippe. Er war höchstens 15 Jahre alt. Hinter ihm erkannte Steven einen Fahrradanhänger, der mit Zeitungen beladen war. Langsam zog er seine Hände zurück. Er stand auf und lief mit schweren Schultern zurück zu seiner Wohnung. Eine Nachbarin lugte unter ihrer Gardine hervor. Hinter seinem Rücken hörte er die krächzende Stimme der Oma. “So ein Spinner!”, sagte sie laut.

 

 

Gleich würden die Trompeten donnern, gleich würde wieder eine Nachricht eintreffen.

   Steven betrachtete Mia. Für ihn hatte es den Anschein, ihr Schmunzeln wäre einer ernsten Mimik gewichen. Als wäre das Bild magisch. Er stützte sich mit beiden Armen auf sein Fenstersims und vergrub die Stirn in den Händen. Er starrte hinaus, als könnte dort draußen die Antwort auf seine Fragen liegen. Das konnte alles nicht echt sein. Er musste sich in einem Delirium befinden. Steven versuchte sich zu beruhigen, doch das Zittern ließ nicht nach.

   Neben ihm lag das Handy wie ein Fremdkörper auf seinem alten Platz. Die Risse auf dem Display waren nun länger und zogen sich wie dünne Adern über das Glas. Doch es funktionierte immer noch, es war unzerstörbar.

   Er hatte es im Flur liegen gelassen, weggesperrt. Doch es dauerte nicht lange, bis die unsichtbaren Fäuste wieder gegen die Tür schlugen. Niemand weit und breit, als wäre es das Handy selbst gewesen. Er wollte es ignorieren, doch die Schläge gaben nicht nach. Kraftvoll, durchdringend, bis das Holz in seinen Scharnieren geächzt hatte. Es war wie ein Geschwür, das mit ihm zusammen gewachsen war.

   Sieh das dritte Foto an war die letzte Nachricht gewesen. Er tat es, wie ein Unterwürfiger. Im Netz der Risse sah es aus, als bestünde das Foto aus Kacheln. Doch er erkannte die Einzelheiten. Er hatte wieder sich selbst gesehen, doch er war nicht alleine auf dem Bild, er hatte gesehen wie …

   Das Handy klingelte, kreischte seine atonale Melodie durch den Raum. Er blieb regungslos, als würde er es nicht wahrnehmen, nicht wahrnehmen wollen. Ein Streifenwagen fuhr an seinem Haus vorbei.

   Die Fanfare schmetterte mit ihren Höllenhörnern. Steven zog an seinen Haaren und schrie. Sein Körper bebte, stand unter Strom. Er hämmerte mit seiner Faust auf den Teufelskasten. Holte aus und schlug, holte aus und schlug, das Handy hüpfte. Stifte und leere Dosen flogen vom Schreibtisch. Das Spinnennetz auf dem Display breitete sich aus. Es knackte. Kleine Glasstücke sprangen ab. Manche blieben in seinem Handballen stecken. Gezackte Löcher entstanden zwischen den Rissen. “Halt deine Fresse!”, schrie er, während er weiter unaufhörlich auf den Gegenstand einschlug. Bluttropfen verteilten sich. Steven nahm das Handy und schlug es mit Wucht, Display voran, gegen die Schreibtischkante. Er keuchte, rang nach Luft, als hätte er einen Kilometermarsch hinter sich gebracht.

   Seine Augen mussten ihn anlügen. Er wischte die letzten Bruchstücke vom Gehäuse. Da wo Metall sein müsste, wo Kabel und Chips sein müssten, war eine glatte, makellose Glasfläche. Es leuchtete auf, begleitet von den Trompeten, die eine neue Nachricht ankündigten.

   Benommen taumelte er zurück und krallte sich haltsuchend am Fenstersims fest. Jegliche Kraft schien seinen Körper verlassen zu haben. Er fühlte sich wie eine hohle Hülle. Alles drehte sich, er befand sich wieder im Karussell seines Zimmers.

   Schemenhaft sah er nun zum zweiten Mal den Streifenwagen, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite anhielt. Zwei Polizisten stiegen aus und hielten Ausschau. Sie liefen die Straße entlang, bis sie nicht mehr zu sehen waren.

   “Sieh es dir an!” Er drehte sich um. Mia stand vor ihm. Sie blickte ihn wütend an, mit krauser Stirn und mit Augen, die wie in seinem Traum schwarz waren, finster waren. Dreckverkrustete Blätter hingen in ihren Strähnen. Ein eigenartiger Geruch zog in seine Nase. Sie roch nicht mehr nach Frühlingsbrise, sondern nach einem Frühling, der verfaulte Gräser und Früchte mit sich brachte. Ihre blasses Gesicht hatte etwas Geisterhaftes. Doch ihr Hals war rot, blutrot.

   “Sieh dir das dritte Foto an!”, schrie sie mit einer Stimme, die viel zu tief für eine Frau klang. Sie presste das Handy gegen seinen Brustkorb, fester und fester, bis es schmerzte. Er nahm es ihr aus den kalten Fingern, langsam, den Blick weiter auf sie gerichtet. Sein Mund stand offen, er bekam ihn nicht mehr zu. Das Handy fiel beinahe aus seiner Hand, so sehr zitterte sie. Befehlskonform suchte er das Foto in der Galerie. Seine Bewegungen waren fremdgesteuert, er war nicht mehr er selbst, sondern die Puppe eines Marionettenspielers.

   Er zwang sich länger hinzusehen, auf das Display, das nicht mehr da sein dürfte. Die Bäume im Hintergrund. Er war im Park, der Park, in dem er immer spazieren ging. Eine Frau war vor ihm, nicht vor ihm, unter ihm, nicht irgendeine Frau, sie war es, es war Mia.

   Flutartig wurde er von Erinnerungen überschwemmt.

   “Ich heiße nicht Mia.”

   Sie hatte nie seine Hand gehalten. Sie war immer alleine im Park unterwegs gewesen. Er war nicht neben, sondern hinter ihr gelaufen. Weit hinter ihr, so dass sie ihn nicht sehen konnte. Er hatte sie studiert, er wusste wann sie die Spaziergänge unternahm. Sie lächelte nicht in seine Linse, denn nur versteckt machte er Fotos von ihr. Er beobachtete, wie sie auf der Bank saß und die Sonne auf ihrem Gesicht genoss. Im Licht wirkte sie noch schöner, ein Portrait aus dem Pinsel eines göttlichen Künstlers. Beobachtete wie sie im Café saß und gedankenverloren in ihrem Becher rührte. So alleine, so einsam, er wollte unbedingt zu ihr, sich neben sie gesellen. Er beobachtete wie sie … wie sie sich von diesem Typen abschlecken ließ. Wie er mit Wichsfrisur und 100-Euro-Hemd an seinem Bonzen-Audi lehnte und ihren Arsch betatschte. Sie genoss es, leidenschaftlich steckte sie ihre Zunge in seinen Bonzen-Hals. Die Wut, die er bei diesem Anblick spürte, die in ihm kochte, ihn fast zu verbrennen drohte. Er war fast gerannt, als er ihr durch den Park gefolgt war.

   Seine Hand, die das Handy fest umklammerte, bebte. Er spürte Druck auf seinen Augen. Nebulös leuchtete das Foto vor ihm.

   “Nein”, flüsterte er brüchig in den leeren Raum. Eine Tränentropfe zerschellte auf dem Glas.

   Er hatte nur mit ihr reden wollen. Das war sein Plan gewesen, einfach nur reden. Dann ging alles so schnell. Sie wollte nicht mit ihm reden. Sie hatte nicht mit ihm reden können.

   “Nein”, krächzte er. “Nein!” Er brüllte bis seine Stimme versagte. Das Handy glitt aus seiner Hand. Steven zog an seinen Haaren, riss an ihnen. “Ich habe es getan!” Seine Stimme wurde heiser. Er spürte wieder ihre Fingernägel, die sich in seine Arme gekrallt, tief in sein Fleisch gebohrt hatten. Haarbüschel schwebten zu Boden, seine Kopfhaut brannte. “Ich habe es getan!” Der letzte Schrei ertrank in seinen Tränen.

   Durch sein Fenster sah er, wie sich die Uniformierten seinem Haus näherten. Sie standen an der Stelle, wo er den Jugendlichen gepackt hatte.

   Steven rannte nach draußen. Auf der Treppe ging er in die Knie.

   “Ich habe es getan!” Er zog an seinen Haaren, riss weitere Büschel vom Kopf.

   “Ich habe sie erwürgt!”

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