Luisa_scteIch sehe dich

 

Ich sehe dich

 

 

 

I.                    

 

„Melanie, bitte geh nicht, es tut so weh. Hilf mir“. Jens Stimme klingt so schmerzverzerrt und flehend, dass ich abrupt stehenbleibe und zurückstarre. Er liegt auf dem Boden, über ihm das herabgestürzte Baumhaus, das schon seit Jahren morsch ist. Unsere alte Clubfahne steht absurderweise noch mitten auf dem Dach, als wäre nichts geschehen. Warum Jens gerade mich anspricht kann ich mir nicht genau erklären. Vielleicht weil wir vor ein paar Wochen ein einziges Date hatten, da er einfach nicht aufgegeben hat mich danach zu fragen und ich es endlich hinter mich bringen wollte. Die anderen werden jedoch niemals davon erfahren, sie würden mich jahrelang damit aufziehen. „Mel, du kommst jetzt sofort mit! Oder willst du, dass die Polizei dich schnappt? Ich sag dir eins, ich helfe dir dann nicht“. Manuel klingt gestresst. Er ist schon seit Jahren der Anführer unserer Clique. So aufgeschmissen habe ich ihn selten erlebt. „Mel, Manu hat recht. Lass uns gehen, das hat keinen Sinn. Jens ist doch auch selbst schuld. Wie konnte er nur denken wir meinen es ernst“ höre ich entfernt Sabrinas Stimme zu mir durchdringen. Ich stehe wie in Trance auf der Stelle, völlig bewegungsunfähig. Von Ben, der normalerweise auch zu uns gehört, fehlt jede Spur. Er war schon immer ein Schisser. Das liegt vermutlich an seinem strengen Vater. Da darf er sich keine Vorstrafen erlauben. Er soll eines Tages die Kanzlei übernehmen. Meine Gedanken überschlagen sich, wir können doch nicht einfach einen hilflosen Jungen verletzt liegen lassen. Plötzlich durchdringt die schrille Sirene eines nahenden Polizeiautos die Stille. Ich muss mich jetzt entscheiden. Ich sehe Jens an, sein Gesicht ist blutüberströmt. Er liegt nur knapp zwei Meter von mir entfernt. Er öffnet seine Lippen und flüstert kaum verständlich: „Melanie, ich weiß, dass du ein guter Mensch bist. Ich sage denen was du willst, aber bitte hilf mir, ich schaffe das nicht alleine“. Ich müsste nur zwei Schritte auf ihn zugehen und könnte seine Hand berühren, die von ihm weggestreckt auf dem erdigen Boden liegt. Unter seinen Fingernägeln erkenne ich den Dreck des Waldbodens, etwas hat eine tiefe Schürfung auf seinem Handrücken hinterlassen, aus der das heraustretende Blut langsam auf den Boden tropft. Tränen schießen mir in die Augen während ich mich von ihm abwende und Manu durch die gusseiserne Gartenpforte folge, die jedes Mal schrecklich quietscht, wenn sie bewegt wird. Wir waren jahrelang nicht mehr auf dem Waldgrundstück von Manus Eltern. Das Quietschen kommt mir lauter denn je vor. Später würde sich herausstellen, dass ich dieses Geräusch nie wieder vergessen werde. „Gute Entscheidung“ brummt er. „Jens schafft es da eh nicht lebend raus. Und dafür willst du dann noch in den Knast wandern?“. Ich sage kein Wort.

 

Die lähmende Angst und das Gefühl der Hilflosigkeit verschwinden auch nicht als ich schweißgebadet aus dem Traum erwache. Eigentlich sollte ich mich längst daran gewöhnt haben, die Sache ist ja schließlich schon 18 Jahre her. Müde taste ich nach dem Lichtschalter, ertaste aber nur die kalte Wand. Beunruhigt setze ich mich auf und fahre mir durch meine strähnigen Haare. Langsam verschwindet das drückende Gefühl in meiner Halsgegend. Fast so, als würde mir jemand der gerade dabei ist mich zu würgen langsam seine Finger lockern, weil er es sich doch anders überlegt hatte. Langsam kehrt mein Verstand zurück und ich erkenne die Umrisse der viel zu hoch gestapelten Umzugskartons um mich herum. Vor zwei Tagen zog ich aus meinem kleinen Heimatort in Nordrhein-Westfalen nach Berlin und noch immer hatte ich kaum etwas ausgeräumt. Der Traum hat mich so aus der Realität gerissen, dass ich zuerst dachte ich sei noch in meinem alten WG Zimmer. Dabei sollte ich mich längst an ihn gewöhnt haben, er wiederholt sich seit Jahren in einer fast schon absurden Regelmäßigkeit. Ich schaue auf den Wecker: 03:59 Uhr. Noch zwei Stunden bis mein erster Tag beginnt. Ich beschließe duschen zu gehen, da ich gewohnheitsgemäß sobald nicht mehr einschlafen kann. Auf diesen Morgen hatte ich mich eigentlich sehr gefreut. Mein Traum eines Tages beim BKA zu arbeiten ist letzten Oktober in Erfüllung gegangen, als ich meine Zusage über einen Platz für das duale Studium zur Kriminalkommissarin bekam. Schon mit 16 Jahren fesselte mich der Bereich Kriminalität so sehr, dass ich so viel Zeit wie möglich hineininvestieren wollte. Also erschien es mir nur als logisch dieses Interesse in meinem Beruf zu verwirklichen, mit dem ich die meiste Zeit des Tages füllen würde. Bislang hatte ich in der Personalverwaltung in meiner Heimatstadt gearbeitet. Den Wunsch eines Tages bei der Kriminalpolizei zu arbeiten verlor ich jedoch nie. So beschloss ich mit Mitte 30 entgegen den Wünschen meiner Eltern meinen Traum zu verwirklichen und nochmal zu studieren. Allein in einer mir fremden Stadt und ohne jemanden dort wirklich zu kennen, aber manchmal braucht es eben diese Art von Neuanfängen im Leben.

Ich öffne mein Fenster. Zu mir dringen die Geräusche der naheliegenden Straßenbahn und durchbrechen die Stille meiner Wohnung. Entfernt höre ich eine Frau schreien, jemand singt offensichtlich betrunken eine mir fremde Melodie.

Guten Morgen Großstadt!

 

 

 

1.      

 

Meine regelmäßigen Besuche in der Station V gehören schon zu meiner alltäglichen Routine dazu. Als praktizierender Psychologe in demselben Gebäude werden keine unnötigen Fragen gestellt. Ich benötige keinen speziellen Nachweis oder eine Besuchsberechtigung, um die verschiedenen Stationen betreten zu dürfen. Ob er mich jemals erkannt hat weiß ich nicht, aber ich bilde mir ab und zu ein kleines Lächeln auf seinen Lippen ein, wenn ich mich zu ihm setze. Nur hier spüre ich ein Gefühl, welches mir wohl einen Vorgeschmack auf das gibt, was viele Menschen <Heimat> nennen würden. Die Zeit mit ihm war für mich rückblickend zweifelsfrei die schönste meines Lebens. Seit dem Tag seiner Einlieferung erfüllt mich eine schreckliche Leere. Das Gefühl mich lebendig zu fühlen, was ich jedes Mal mit ihm zusammen erfahren durfte, verschwand mehr und mehr. Mit jeder einzelnen Tablette, die er schlucken musste und jedem noch so kleinen Speichelfaden, der sich wie von einer kleinen, viel zu eifrigen Spinne bis auf den Stoff seiner Oberteile zog. Es schien, als sei meine ganze Freude zusammen mit ihm an diesem Tag hierher eingeliefert worden. Erinnerungen an laue Sommernächte am See durchfluten meine Gedanken. Arm in Arm am, seine fordernden und neckenden Küsse. Immer auf der Hut, gesehen zu werden. Wir liebten dieses Risiko, es verlieh dem ganzen einen gewissen Kick und schweißte uns umso mehr zusammen. Er war und ist auch heute noch die einzige Flucht aus dem Gefängnis, welches sich mein Leben nennt.

 

Ich erkenne sein grau gestreiftes Shirt schon von weitem. Ein Geschenk von mir. Meine neuen Schuhe quietschen auf dem hellgrauen Linoleumboden. Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, überwältigen mich meine Gefühle. Ein drastischer Gegensatz zu meiner sonst eher gefühlskalten Stimmung. Mit wörtlichen Konfrontationen meiner Patienten oder nahestehenden Personen wie <emotionslos> oder <gelangweilt>, die mich beschreiben sollten, ließ ich mich schon längst nicht mehr provozieren. Ein stechender Schmerz fährt durch meinen Brustkorb und nimmt mir kurzzeitig den Atem, als er mich endlich registriert. Seine Augen glänzen als ich zu ihm trete. <Die Augen sind der Spiegel zur Seele.> Dieser Satz wurde mir von meinem Vater wieder und wieder gepredigt. Im Nachhinein wohl das einzig prägende, was ich von ihm übernommen hatte. Ich bilde mir ein, dass seine Augen mich anders ansehen, als sie es bei den verschiedenen Pflegerinnen und Ärzten taten, die Tag für Tag mehrere Stunden mit ihm zu tun hatten. Ich greife in meine Jackentasche und wische ihm vorsichtig mit meinem altmodischen Stofftaschentuch den Speichel aus seinem rechten Mundwinkel.

 

 

 

II.

 

Das Surren der Gegensprechanlage reißt mich aus meinen Gedanken über die letzte Nacht. Eine genervt klingende Stimme dröhnt aus der kleinen runden Einbuchtung in der Wand. „Ja bitte?“ Ich frage mich, wie man an einem so schönen sonnigen Morgen schon derart schlecht gelaunt sein kann. „Guten Morgen, ich bin Melanie Ottinger. Ich habe heute meinen ersten Tag hier. Ich bin eingeschrieben für den neuen Bachelorstudiengang zur Kriminalkommissarin.“ Die Tür öffnet sich automatisch und ich gelange in einen kleinen Raum, in dem sich viele silberne Schließfächer an den Wänden reihen. Hinter einer Scheibe sitzt ein älterer Herr, der vermutlich gerade mit mir gesprochen hat. Seine Stimme passt für mich nicht mit seinem äußerlichen Erscheinungsbild zusammen. Ich hatte einen großen, bärtigen Mann mit einem kleinen Wohlstandsbäuchlein erwartet aufgrund der sehr tiefen Stimmlage. Vor mir sitzt jedoch ein sehr dünner Mann, der für mich zweifellos auch der IT-Sparte hätte angehören können. Eine längliche ungleichmäßige Narbe zieht sich durch seine linke Augenbraue. Vor ihm liegt ein halber Müsliriegel. Ich frage mich, ob er generell nicht besonders gut drauf ist oder die Tatsache, dass ich ihn offensichtlich bei seinem Frühstück unterbrochen habe, seinen Teil dazu beiträgt. Als hätte er mich bereits erwartet, wirft er mir einen Packen Flyer und Dokumente auf den Tisch. Ganz oben liegt eine Karte mit aufgezeichneten Gängen und Räumen. „Sie müssen zu der Informationsveranstaltung in Raum 3.11. Auf dem Zettel oben sehen Sie, wo sie lang müssen. Ich bedanke mich höflich und lächle ihm im Gehen in der Hoffnung zu, seinen Tag dadurch vielleicht etwas schöner gestalten zu können. Eilig versuche ich mit Hilfe des Plans den Raum zu finden. Ich bin etwas spät dran. Die Tür steht noch offen. Erleichtert husche ich hindurch und setze mich schnell auf einen der freien Plätze in der letzten Reihe. „Hi, ich bin Eva. Wie heißt du? Bist du auch neu in dem Bachelorstudiengang?“. Erschrocken drehe ich mich nach rechts und erkenne ein zierliches blasses Mädchen neben mir auf dem Platz sitzen, der eben noch frei war. Ich war so vertieft mit der Suche meines Kugelschreibers, dass ich meine Umgebung völlig ausgeblendet hatte. Eva scheint noch sehr jung zu sein. Womöglich hat sie gerade erst die Schule beendet. Ich fühle mich ein wenig alt in ihrer Gegenwart. „Oh hey, schön dich kennenzulernen Eva. Ja, ich fange dieses Jahr auch neu an. Ich bin Melanie“ erwidere ich mit einem Lächeln, froh so schnell einen neuen Kontakt geknüpft zu haben. „Ich hole mir schnell noch einen Kaffee aus dem Automaten im Flur, soll ich dir einen mitbringen?“. Evas haselnussbraune Augen fixieren mich. Es kommt mir vor, als würde sie auf einen Schlag mein ganzes Selbst erfassen. Fast schon peinlich berührt fahre ich durch meine Haare. Woher kenne ich bloß diese Augen? „Ähm ja gern, falls es zufällig grünen Tee gibt, wäre der mir lieber, aber keinen Stress“ antworte ich aus meiner Verwirrung heraus und krame nach meiner Geldbörse. „Passt schon“ erwidert Eva und lächelt mich wieder an. „Du kannst dich bestimmt irgendwann revanchieren“. Die Einführung neigt sich dem Ende zu. Überschüttet mit Informationen und neuen Eindrücken verlasse ich das Gebäude und greife zu meinem Handy, um meine beste Freundin Sabrina über alles zu informieren. Wir sind seit der Grundschule unzertrennlich. Sogar die Entfernung konnte daran nichts ändern. Ich beschließe den Heimweg zu Fuß anzutreten, um meine neue Umgebung ein bisschen kennenzulernen und mehr Zeit für das Gespräch zu haben. Der Weg zieht sich länger als erwartet, jedoch haben Sabrina und ich uns wie immer sehr viel zu erzählen. Aufgeregt berichte ich ihr von meinem ersten Tag. Ich ziehe meine neue Tasche von der Schulter, um den Schlüssel zu suchen und finde ihn schneller als erwartet. Das Vorurteil, dass Frauenhandtaschen unübersichtlich seien, bewahrheitet sich leider bei mir. Meine Tasche beinhaltet Utensilien für gefühlt jede mögliche Situation und Notlage. Ich betrete den Hausgang, gehe an den Müllsäcken der Nachbarn aus dem ersten Stock vorbei die Treppen bis zum zweiten Stock hoch und lausche mehr oder weniger begeistert Sabrinas neuen Tinder Geschichten. Gerade als ich meine Wohnungstür aufsperren will, sehe ein kleines blaues Blinken im Augenwinkel. Direkt vor meinem Fuß liegt ein Handy eher altmodischeren Jahrgangs. Es wäre mir vermutlich gar nicht sofort auffallen, da es sich farblich nicht von meiner schwarzen Matte abhebt. Ich hebe es hoch. Direkt bei der Berührung meines Fingers erwacht der Bildschirm aus seinem Standby Modus und es erscheint ein Foto. Mein Atem stockt. Ungefähr so muss man sich kurz vor einem Herzinfarkt fühlen, schoss es mir in dem Moment durch den Kopf. Sabrina redet immer noch. Mir fällt auf, dass ich die letzte halbe Minute nichts bewusst von dem aufgenommen habe, was sie mir erzählt hat. „Sabrina“ flüsterte ich, so als würde mein soeben offenbartes Geheimnis die ganze Welt erfahren, sollte ich es nur zu laut aussprechen. „Mel, ich war noch nicht fertig dir von Mark zu erzählen, ich wollte doch noch…“ „Sabrina dein Mark interessiert mich grade nicht. Tut mir leid, aber… erinnerst du dich noch an Jens?“ Als ich den Namen laut ausspreche fährt mir ein kalter Schauer durch den ganzen Körper. Dieser Name fiel schon sehr lange nicht mehr, vor allem nicht aus meinem Mund. „Melanie, ich dachte wir reden nie wieder über dieses Thema…“ hörte ich sie sagen. „Dachte ich auch“ erwiderte ich. Meine Stimme schwankte, ich stehe immer noch wie angewurzelt vor meiner Wohnungstür. In dieser Stadt kennt mich doch niemand, wie soll dieses Handy auf einmal hierherkommen, genau vor meine Tür. Bei diesem Gedanken fuhr ich aus meiner derzeitigen Schockstarre heraus und drehe mich zum Treppenhaus um in der Hoffnung den Übeltäter zu sichten. Doch es ist weit und breit niemand zu sehen. Der Kloß in meinem Hals wird immer größer. Ich bin kurz davor in Tränen auszubrechen, beherrsche mich aber in letzter Sekunde und beschließe erstmal in meine Wohnung zu gehen und Sabrina nach ihrem Rat zu fragen.

 

 

 

2.

 

Genervt drücke ich den einkommenden Anruf meiner Tochter weg, während ich nach dem Kontaktlinsenbehältnis griff, um die lästigen Dinger endlich aus meinen müden Augen zu entfernen. Blaue Augen waren für mich schon immer faszinierend. Die Möglichkeit, die Augenfarbe durch diese simple Technik einfach ändern zu können war für mich vor einigen Jahren viel zu reizvoll, um es nicht auszuprobieren. Ich fange an, die vorliegende Akte zu sortieren, ein reinster Stapel aus Schuldgefühlen und tiefstem Selbsthass. Erneut vibriert mein Handy. In Gedanken an die Predigt, die ich meiner Tochter halten werde bezüglich unserer Regelung zu Anrufen während meiner Arbeitszeit, erkenne ich die Nummer auf dem Display. Es ist eine bekannte Nummer. „Bitte bleiben Sie ruhig, es wird schon alles in Ordnung sein“ wiederhole ich zum gefühlt zehnten Mal. Gibt es Probleme mit Klienten, sind manche Eltern Dauergäste in meiner Telefonleitung. Vorausgesetzt natürlich, sie wissen von den Besuchen ihrer Kinder bei mir. Eine meiner Patientinnen scheint seit einigen Tagen verschwunden zu sein, nichts neues in meinem Bereich. Oftmals ist es nur ein versuchter Ausbruch aus deren derzeitiger Situation. Verwunderlich, dass die Mutter es überhaupt mitbekommen hat. Ihre verschwundene Tochter hatte zu Beginn der Therapie den Kontakt zu ihren Eltern auf unbestimmte Zeit abgebrochen. Ich greife nach dem nervenaufreibenden Anruf zu dem abartig teuren Whiskey auf der Vitrine in meinem Büro und nehme einen tiefen Schluck. Sofort breitet sich in mir ein wohlig warmes Gefühl aus. Das ist mein persönlicher kleiner Ausbruch aus der Realität. Dieses kleine Glas jeden Abend.

 

 

 

III.

 

Seit dem Ereignis vor fast 20 Jahren hatten wir uns geschworen nie wieder über den Vorfall mit Jens zu sprechen. Mein Kopf explodierte förmlich bei der Suche nach einer logischen Erklärung für diesen Zufall. Ausgerechnet nach meinem Traum heute Nacht. Ich versuche mich zu zwingen, die Geschehnisse nicht vor meinem inneren Auge abspielen zu lassen, doch ich konnte es nicht aufhalten. Ich erinnerte mich daran, als sei es gestern gewesen.

Wir sind schon seit Kindergartentagen als Viererclique unterwegs und verbringen im Sommer jeden Tag miteinander. Manuel, der seit Beginn an unser Anführer ist. Seine bestimmende Art und seine Aufgeschlossenheit und Dreistigkeit gegenüber Fremden bezweckten, dass nie großartig darüber abgestimmt wurde. Sabrina, die schon immer meine beste Freundin ist. Sie hat immer einen guten Rat und ein offenes Ohr, wenn jemand in Not ist. Ben, der ruhige Anwaltssohn. Er ist eher verschlossen und zurückhaltend, aber nach einigen Überzeugungsversuchen auch für die unvorstellbarsten Aktionen und jeden Spaß zu haben. Und dann gibt es noch Jens. Jens, der Einzelgänger. Er geht mit uns allen in dieselbe Klasse, hat jedoch keine wirklichen Freunde. Er fragte uns so oft, ob er ein Teil unserer Clique werden kann, bis Manu eines Tages der Kragen platzte und er zustimmte, unter der Voraussetzung, dass er eine Mutprobe bestehen müsse. „Bist du bescheuert?“ zischt Ben ihm zu. „Ich habe keine Lust auf den Streber, der wird uns den ganzen Spaß versauen, weil der alles seiner Mama erzählt. Das kann doch nicht dein Ernst sein“. Bens Worte waren mir bis heute im Kopf geblieben, als hätten sie sich dort eigebrannt. Er schien außergewöhnlich besorgt zu sein. In der letzten Schulpause am selben Tag legt Manu seinen Plan vor uns offen. Es war selbstverständlich, dass seine Idee durchgesetzt wird. Damals in der Grundschule haben wir alle zusammen ein Baumhaus mit seinem Vater auf deren Grundstück am Waldrand gebaut. Wir waren jeden Tag dort und übernachteten sogar häufiger darin. Es wurde unser geheimer Treffpunkt und unsere <elternfreie Zone>. Als wir älter wurden, wurden andere Dinge interessanter und wir trafen uns immer öfter bei jemandem Zuhause. Sabrina hatte einen Partykeller, in dem wir unsere ersten Alkoholversuche starteten. Ich hatte mir manchmal heimlich ihre Eltern gewünscht, da sie Sabrina nie Grenzen setzten, ganz im Gegenteil zu meinen. Manu plante für jenen Abend eine Mutprobe, die Jens eine Lektion erteilen sollte. Jens sollte unsere alte Fahne vom Dach des Baumhauses holen und so seinen „Mut“ beweisen. Manu hatte ihm erzählt, dass wir alle eine Mutprobe bestehen mussten, bevor wir in die Clique aufgenommen wurden. Das war jedoch eine Lüge, niemand von uns hatte jemals so etwas wie eine Mutprobe oder einen Test bewältigen müssen. Da das Baumhaus seit Jahren nicht benutzt wurde und Wind und Wetter ausgesetzt war, verbot uns Manus Vater es jemals wieder zu betreten. Es sollte demnächst abgerissen werden. Wie immer kam der einzige zweifelnde Kommentar zu unserem Vorhaben von Ben, der sich der Gefahr deutlich bewusst war. Manu widersprach mit dem Argument, dass Jens bei der ersten berstenden Stufe schon wieder auf die Erde zurückkommen würde und somit niemals ein Mitglied von uns werden würde. Jens sollte die Fahne nach der Schule holen und um drei Uhr zu Manu bringen. Als er auch um fünf Uhr noch nicht vor der Tür stand, beschlossen wir zum Waldgrundstück zu fahren und nach dem Rechten zu sehen. Mit dem Horror, der uns dort erwartete, hatte niemand gerechnet.

 

 

 

3.

 

Alles in meinem Leben ist durch meinen autoritären Vater vorherbestimmt. Wenn es nach ihm ginge würde ich den Familienbetrieb übernehmen, heiraten und Kinder bekommen. Hätte er jemals herausgefunden, dass ich homosexuell bin, hätte er für mich die Hölle auf Erden losgetreten. Ob das so viel schlimmer geworden wäre wie mein derzeitiges Leben frage ich mich viel zu oft. Es erfüllte sich letztendlich alles so, wie er es wollte. Die Übernahme des Betriebs lief nebenbei zu meinem derzeitigen Hauptberuf. Ich heiratete mit Mitte zwanzig eine attraktive Frau, nahm in einem Anflug auf Besserung sogar ihren Nachnamen an, um meinem alten Ich zu entkommen und spielte ihr meine Liebe vor. Daraus entstand meine Tochter Eva. Hier konnte ich zweifellos sagen, dass meine Liebe zu ihr echt war. Sie und Jens sind die Gründe, warum ich mir nicht längst den Schuss gesetzt hatte. Ich saß schließlich jeden Tag an der Quelle. Die Versuchung ist an manchen Tagen so groß, dass ich immer mal wieder meine Medikamentenschublade öffnete und überlegte, welche Dosis von welchem Medikament mir meine Schmerzen nehmen würden, die keiner imstande war zu heilen. Eva erwischte mich eines Tages dabei, wie ich volltrunken die gezogene Spritze in meiner Hand mit meinem Blick fixierte und ansetzen wollte. Als sie mir das Ding aus den Händen riss und mich minutenlang anschrie warum ich sie verlassen wollen würde, brach ich in Tränen aus und begann ihr von meiner Vergangenheit zu erzählen.

 

 

 

IV.

 

Aufgewühlt von all den negativen Gedanken zu jenem Tag fängt mein Körper an unkontrolliert zu zittern. Ich spüre die Negativität in mir heraufkriechen und meinen ganzen Körper ausfüllen. Jahrelang habe ich schon mit den Depressionen zu kämpfen, die ich mir anfänglich erst gar nicht richtig eingestehen wollte. Meine Mutter war es schließlich, die mir den Psychologen ihrer besten Freundin empfahl, weil sie es nicht ertragen konnte mich tagelang nur im Bett anzutreffen. Die Vorhänge ständig zugezogen. Fast so als wäre meine innere Dunkelheit auch in meinem Zimmer manifestiert, um allen Eintretenden den Zustand meiner Seele zu offenbaren. Schuld ist wohl eines der schlimmsten Gefühle, das ein Mensch imstande ist zu fühlen. Es zerreißt dich innerlich. Wohl wissend, dass man seine Taten nie wieder gut machen kann und das selbst eine aufrichtige, ehrliche Entschuldigung nichts mehr hilft. Kinder sind so grausam. „Melanie, was ist denn passiert? Warum erwähnst du Jens? Ich mache mir Sorgen“ holt mich Sabrinas Stimme zurück in die Realität. Mein verkrampfter Körper lockert sich ein wenig und die Anspannung fällt von mir ab. „Vor meiner Tür lag eben ein Handy. Ich dachte erst jemand hätte es verloren, aber ich glaube jemand hat es absichtlich dort hingelegt. Außerdem muss ich dir etwas erzählen, was ich dir immer verschwiegen habe“ beichte ich ihr und erzähle ihr von der Situation auf dem Foto auf dem unbekannten Handy. Ich wusste nicht, dass davon ein Bild existiert, das scheint Jens heimlich gemacht zu haben. Damals. Bei unserem einzigen Treffen in der Eisdiele. Sabrina schweigt, es fühlt sich für mich wie eine kleine Ewigkeit an bis sie auf meine Geschichte aus der Vergangenheit reagiert. „Warum hast du dich mit ihm getroffen? Und am wichtigsten, warum hast du mir davon nicht erzählt?“ bricht sie das Schweigen hörbar geschockt. Ich muss fast schmunzeln über den Fakt, dass sie das mehr beschäftigt, als das unbekannte Handy. „Ich weiß nicht, er hat mich mit einem Treffen echt lange genervt und er tat mir irgendwie auch leid… Es konnte ja niemand ahnen, dass danach so etwas passiert. Ich wünschte ich hätte ihn besser kennengelernt. Jetzt kann ich das ja nicht mehr“ antworte ich schluchzend. „Warum kannst du das jetzt nicht mehr? Ich habe ewig nichts mehr von Jens gehört“ sagt Sabrina leicht verwundert. „Weil er nicht mehr derselbe ist. Er wurde nach seinem Krankenhaus Aufenthalt in die Psychiatrie eingewiesen. Er reagiert auf nichts und niemanden. Niemand weiß, was mit ihm los ist. Ich habe ihn oft besucht“ erwidere ich während die Tränen unaufhaltsam mein Gesicht benetzen und meine sorgfältig aufgetragene Wimperntusche in kleinen schwarzen Rinnsalen über meine Wangen fließen.

 

 

 

4.

 

Evas Verständnis für meine Situation und Gefühlslage überwältigte mich und ich erhielt eine Unterstützung von ihr, von der ich nie zu träumen gewagt hatte. Ich erzählte ihr von meinen tiefsten Rachegelüsten und offenbarte ihr meinen beruflichen Missbrauch an einer der Patientinnen. Dank ihr war es ein leichtes meine Pläne schneller durchzusetzen und Papiere und Urkunden zu fälschen. Aufgrund ihres Studiums im Bereich Medienkommunikation hat sie viel Erfahrung im Umgang mit Photoshop. Mein eigenes Scheitern, offizielle Namenslisten zu ändern lies sie schmunzeln und auch diese Hürde war bald genommen.

Durch Jens altes Smartphone erfuhr ich viel über sein altes Leben. Unter anderem entdeckte ich vor einiger Zeit darauf ein Bild einer meiner Patientinnen, das vermutlich ohne ihre Kenntnis entstanden war. Sie saß vor einem großen Eisbecher, unten rechts im Bild war Jens Uhr zu erkennen. Selbst ich wusste bis zu dem Zeitpunkt nicht, dass die beiden sich offensichtlich privat getroffen hatten, aber es kam mir nur entgegen. Alles lief wie geplant, nein sogar besser.

 

 

 

IV.

 

Sabrina und ich führten ein sehr langes, intensives Gespräch. Ich erzähle ihr offen von meinen tiefsten Ängsten, meiner langwierigen Depression aufgrund meiner Schuldgefühle gegenüber Jens, dem wir sein ganzes Leben verbaut hatten, obwohl wir ihn vielleicht hätten retten können. Ihre aufkommende Sorge in dem Zusammenhang über das plötzliche Auftauchen des Handys ließ meine Ängste noch weiterwachsen. Wer wusste von mir und Jens? Wusste diese Person auch, welche Schuld ich tief in mir trug? Welche Albträume mich heimsuchten? Berlin sollte als Neuanfang fungieren. Sowohl um sich selbst wieder zu finden, als auch Abstand von meiner Vergangenheit zu bekommen.

„Mel, es passt grad nicht zum Thema, aber Brigitte hat sich bei mir erkundigt wo du steckst“ unterbricht Sabrina meine Gedanken. Ich weiß nicht, wann ich meine Mutter zuletzt gesehen habe. Am Anfang der Therapie habe ich den Kontakt abgebrochen und bin in eine WG gezogen, weil ich Zeit für mich selbst brauchte. „Was hast du ihr gesagt?“ frage ich. „Ich habe erst so getan, als wüsste ich es nicht. Aber sie hat so lange nachgehakt, bis ich ihr deine neue Adresse gegeben hab, tut mir leid“ seufzt Sabrina. „Sie müsste schon auf dem Weg sein. Achja, sie meinte sie bringt deinen alten Therapeuten mit“. Dr. Meyer? Wofür? Ich bin doch momentan gar nicht in Therapie, besonders nicht mehr in meinem alten Wohnort. „Kein Problem Sabrina, ist ja nicht deine Schuld“ sage ich nachdenklich und bereite mich innerlich schon darauf vor später meiner Mutter gegenüber zu stehen.

 

 

 

5.

 

Das Ethinylestradiol in erhöhter Dosis in der wöchentlichen Sitzung zu verabreichen, war leicht. Es ist ganz normal, den Patienten zu Beginn der Sitzungen ein Wasser oder einen Tee anzubieten. Sie trank jedes Mal Grünen Tee, daran hatte sich offensichtlich in all den Jahren nie etwas geändert. Ich habe ihn extra für sie zu meinem kleinen privaten Teesortiment hinzugefügt in dem Wissen, dass sie diesen nicht ablehnen würde. Der Arzneistoff Ethinylestradiol wird in der Anti-Babypille verwendet. Aus den langen Therapiegesprächen wusste ich, dass sie im Jugendalter durch die Einnahme der Anti-Babypille verstärkte Depressionen als Nebenwirkung ertragen musste und sie das Arzneimittel seit dieser Erkenntnis abgesetzt hatte. Es schien mir alles zu einfach zu laufen. Der Tag, an dem sie in meiner Praxis anrief und aufgrund einer Empfehlung nach mir fragte. Es war derselbe Tag, an dem ich mir auf Amazon zum ersten Mal eisblau eingefärbte Kontaktlinsen bestellte. Eine Woche später hatten wir unsere erste Sitzung. Ich setzte alles auf eine Karte, als ich mich ihr persönlich vorstellte. Die Angst sie würde mich erkennen, konnte ich selbst heute noch wieder in mir abrufen. Es war so viele Jahre her und ich hatte mich äußerlich um 180 Grad gedreht, hatte einen anderen Nachnamen. Doch immer schwankte die Angst mit in jeder Sitzung, ich würde mich durch nur ein Wort, eine Bewegung oder eine Situation offenbaren. Bis heute wusste sie nicht wer jahrelang einmal die Woche vor ihr gesessen hatte. Bis heute weiß sie nicht, dass es ihr größter Fehler war meine Praxis zu betreten, um mit mir über ihre Schuldgefühle und Depressionen zu reden. Das Ethinylestradiol tat seinen eigenen wertvollen Teil und verstärkte ihre Depressionen, anstatt eine Heilung zuzulassen. Denn ich wollte ihr definitiv nicht helfen. Ich will sie den gleichen Schmerz fühlen lassen, den ich jeden Tag spüren muss. Nicht einen einzigen glücklichen Tag in ihrem Leben gönne ich ihr noch.

 

 

 

V.

 

Es klingelte. Ich ließ vor lauter Schreck die Kissen fallen, die ich aus einem der Kartons geholt hatte. Einerseits, weil ich zum ersten Mal die Klingel meiner neuen Wohnung höre, andererseits weil ich nicht so früh mit der Ankunft meiner Mutter gerechnet hätte. Meine Finger zitterten leicht, als ich den Knopf drücke, der die Tür unten automatisch öffnet. Ich weiß nicht, was mich erwartet. Ich öffne meine Wohnungstür vorsichtig und höre Schritte die Treppe heraufkommen. „Melanie Liebes, Gott sei Dank stimmt die Adresse“ höre ich die Stimme meiner Mutter, während sie nach der Ecke des Treppenhauses erscheint. Bei dem Versuch ihr eine schnippische Antwort auf den Ausdruck <Liebes> entgegen zu schmettern, werde ich von der beruhigenden Stimme meines ehemaligen Psychologen Dr. Meyer unterbrochen, der ihr folgt. „Frau Ottinger, ich hatte so große Hoffnungen in sie gesetzt“. „Hoffnungen? Ich habe meine Therapie bei Ihnen doch letzte Woche beendet, warum sind Sie hier? Muss ich noch irgendwas unterschreiben? Und warum zur Hölle kommst du hierher nach Berlin, Mutter? Ich habe doch nicht ohne Grund erstmal den Kontakt angebrochen“ versuche ich meine aufkommenden Fragen zu dieser skurrilen Situation, die sich gerade vor mir abspielt, zusammenzufassen. „Kindchen, wir müssen dich wieder mit zurücknehmen, du kannst in deinem Zustand nicht in Berlin bleiben. Nicht alleine“ seufzt meine Mutter. Ich kann die Wut, die sich in mir aufbäumt, nicht länger zurückhalten und werfe meiner Mutter an den Kopf, dass sie sich um sich selbst kümmern soll und ich alt genug sei um zu entscheiden, wo ich leben möchte. Meiner Mutter steigen Tränen in die Augen, was mich jedoch nicht zur Ruhe bringt. Dr. Meyer legt ihr behutsam eine Hand auf die Schulter und ich höre ihn trotz meines lauten Organs leise flüstern „Soll ich das regeln?“. Als hätte sie keine Kraft mehr Worte für ihre Antwort zu finden, nickt meine Mutter und wendet sich ab. „Entschuldigung, das ist zu ihrer eigenen Sicherheit“ raunt er mir zu, während er langsam auf mich zukommt und ich einen kleinen, piksenden Schmerz am Oberarm fühle.

 

 

 

6.

 

Ich habe mir geschworen nicht aufzugeben, bis sie für immer weggesperrt ist und im besten Falle selber denkt, dass sie verrückt ist. Das von Eva platzierte alte Handy von Jens hatte hoffentlich seinen entscheidenden Teil dazu beigetragen. Heute ist es endlich soweit. Der Anruf von Melanies Mutter war absehbar. Ich stehe seit Beginn der Therapie mit ihr in engem Kontakt und rede ihr fortwährend ein, dass ihre Tochter an einer schweren, psychischen Störung leidet. Durch sie weiß ich, dass sie Melanie trotz Kontaktsperre immer im Auge behält Ich kenne schon seit langer Zeit Melanies Berufswünsche und arbeitete auf den <Abschluss der Therapie> mit ihr hin um sie zu diesem Schritt zu bewegen, während ich ihre Mutter in dem Glauben ließ, dass Melanie weiterhin stark psychisch labil ist. Als sie mir hektisch vom Verschwinden ihrer Tochter berichtete, tat ich anfangs sehr überrascht und bot ihr schließlich meine Hilfe an. Sie bedankte sich und wollte sich nach der neuen Adresse erkundigen, um mit mir zusammen nach Melanie zu sehen. Das mir die Adresse längst bekannt war, behielt ich für mich. Im Laufe der langen Autofahrt sprechen wir über mögliche Reaktionen Melanies auf unseren Besuch und einigten uns im Ernstfall darauf, dass ich als erfahrener Psychologe einschreiten solle. Bei dem Gedanken daran fuhr mir ein verstohlenes Grinsen über die Lippen.

 

 

 

VII.

 

„Wieso bin ich hier?“ Ich versuche den Blick der Schwester einzufangen, während sie mich auf einer Liege in einen kleinen Raum schiebt. „Das wissen Sie nicht Frau Ottinger? Sie leiden seit Jahren an stark manischen Depressionen und ihr zuletzt eingeräumter Lockerungsversuch ging schief. Sie haben sich leider nicht an die bestehenden Abmachungen gehalten und sind einfach nach Berlin verschwunden. Jetzt werden Sie erstmal wieder ein paar Jährchen in unserem schönen Haus verbringen, damit sie niemanden und vor allen Dingen nicht sich selbst gefährden. Dr. Meyer musste sie in Berlin betäuben, weil sie sich so gewährt haben. Ihre Mutter war ganz aufgelöst.“Die elendigen Kopfschmerzen pochen in meinem Kopf. Übelkeit steigt in mir auf. Verschiedene Gedanken überwältigen mich, ich beginne ihre Aussagen zu hinterfragen. Mein Verstand fühlt sich blockiert an, fast als wäre eine unsichtbare Schranke, an der ich selber niemals vorbeikommen kann. Kann es stimmen? Bin ich so durchgedreht, dass ich eine ganze Krankheit verdrängt habe? Ich habe doch die Therapie bei Dr. Meyer beendet, wir hatten unser Abschlussgespräch eine Woche, bevor ich umgezogen bin. Die Schwester verabschiedet sich und wünscht mir einen angenehmen Aufenthalt. Bevor ich über diese Aussage lachen kann, vernehme ich eine zweite Person im Raum. „Frau Ottinger, sind Sie eigentlich der Meinung, dass man, wenn etwas ungerechtes geschieht eher die Polizei anrufen oder wegsehen und es einfach geschehen lassen sollte fragt mich eine offensichtlich verstellte Stimme, die viel zu tief klingt. Ich verstehe nicht recht was diese Frage soll, hat sie ja offensichtlich nichts mit meiner derzeitigen Situation und Verwirrung zu tun. Trotzdem antworte ich besten Gewissens mit „Natürlich würde ich die Polizei anrufen“. Jemand atmet sichtlich schwer aus und ich höre ein metallisches Scheppern. Beim Versuch meinen Kopf in Richtung der Geräuschquelle zu drehen, schneiden die Fixierungsriemen in meinen Hals ein. „Eins solltest du wissen: ich war es, der damals die Polizei benachrichtigt hat. Ihr habt mir mit eurem Egoismus mein ganzes Leben genommen. Das ist für Jens du kleine Schlampe“ zischt mir eine sehr bekannte Stimme zu. Während ich zwanghaft nach einem Bild zu der Stimme suche, sticht die Sedier Nadel durch meinen am Bett fixierten Arm. Mein Blick verschwimmt, die haselnussbraunen Augen, die sich daraufhin zu mir runter beugen bevor meine Umgebung verschwimmt kann ich aber noch deutlich erkennen. „Ben“ fährt die grausame Erkenntnis aus mir heraus, während meine Augen langsam zufallen und die Worte „Die Augen sind der Spiegel zur Seele, Mel“ wie durch Watte zu mir durchdringen.

 

 

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