Jennifer PetriIch töte dich, Liebling

 

Irgendetwas stimmte nicht. Das war Kommissarin Debra Kolberg schon klar gewesen, als sie die Akte aufgeschlagen hatte, die jetzt noch immer auf ihrem Schreibtisch lag und aus der ihr das Bild einer hübschen, jungen Frau entgegen starrte. Für die Kollegen war der Fall so gut wie abgeschlossen. Nur nicht für sie. Denn nach gründlicher Recherche war sie noch immer der Ansicht, dass irgendwo zwischen den Seiten ein Fehler zu finden war, der den ganzen Fall ändern konnte. In ihrem Kopf war die angebliche Lösung nicht stimmig genug, sie holperte und Debra hatte das Gefühl, der Frau, die einen angeblichen Doppelmord begangen hatte, etwas mehr Initiative schuldig zu sein. Seufzend richtete sie ihre Schreibtischlampe auf die zahlreichen Blätter, die sie mittlerweile auf der gesamten Tischplatte verteilt hatte und ordnete ihre Reihenfolge noch einmal neu. Sie merkte gar nicht, wie es draußen vor ihrem Fenster immer dunkler wurde und dass die Sonne Berlin schon längst verlassen hatte. Kein Wunder, dass ihr Liebesleben so wenig intakt war. Als wäre auch dort ein Fehler, genauso wie zwischen diesen Papieren. Im Flur hörte man schon längst keine Schritte mehr, die Lichter waren ausgeschaltet und ihre Kollegen hatten schon vor langer Zeit aufgegeben, sie an den Feierabend zu erinnern, bevor sie nach Hause zu ihren Familien gingen, um dort von der heilen Welt zu kosten, die sie an diesem Ort immer wieder in Frage stellte. Dieser Beruf war wie ein kranker Kontrast zu ihrem eigentlichen, fröhlichen Leben. Nur für Debra schien die Welt eine Ausnahme zu machen. Bevor sie gänzlich im Chaos versank, raffte sie alles wieder zusammen, stand vom Stuhl auf und drehte sich zur Pinnwand herum, wo ein neuer Fall bearbeitet werden sollte. Doch auf diesen würde sie sich keineswegs konzentrieren können, wenn auf ihrem Schreibtisch ein ganz anderer lag. Ohne zu zögern, schoss sie ein Foto mit ihrem Smartphone, um später wieder alles an Ort und Stelle zu bringen, bevor jemand etwas merken konnte, und pinnte dann die relevanten Informationen des Mordes an. „Wir finden schon noch die Nadel im Heuhaufen“, murmelte Debra für sich. Dabei starrte sie weiterhin die Pinnwand an, als würde ihr so die heißersehnte Antwort vor die Füße fallen. Einfach so. Sie sah es schon kommen. Sie würde erneut die halbe Nacht im Büro verbringen und am Morgen unausgeschlafen wieder vor Ort sein.

Vielleicht sollte ich mir hier ein Bett aufstellen, dachte sie, sehnte sich aber gleichzeitig nach ihrem Freund, der sicherlich schon gar nicht mehr wartete. Sie war sich sogar ziemlich sicher, dass er sich die Zeit mit einer anderen Frau versüßte, weil ohnehin keine Gefahr darin bestand, dass sie pünktlich nach Hause kam. So oft hatte sie ihn überraschen wollen, um herauszufinden, ob sie mit ihrer Theorie richtig lag, aber immer kam etwas dazwischen. Nicht zuletzt ihr eigener Wunsch, es vielleicht besser nicht in Erfahrung zu bringen zu wollen. Denn dann würde sie sich mit einem ganz anderem Problem konfrontiert sehen, für das sie keine ausreichenden Kompetenzen besaß, um es auch zu lösen. Mitten in ihre Gedanken hinein, klingelte auf einmal ihr Handy. Ein ganz unerträglich greller Laut vibrierte in der Luft und ließ Debra vor Schreck zusammenzucken. Entnervt wollte sie nach ihrem Smartphone greifen, das sie auf den Tisch gelegt hatte und hielt mitten in ihrer Bewegung inne. Das Display war schwarz. Kein Anruf also, aber der Klingelton war noch immer präsent und kam definitiv aus diesem Raum. Hektisch versuchte sie, die Quelle ausfindig zu machen, ehe der Anrufer auflegte und zog ein paar der Schubladen auf, bis sie endlich das Handy gefunden hatte. Im selben Moment verdunkelte sich der Bildschirm. Seltsam. Das Telefon gehörte ihr nicht und es betrat auch niemand ohne ihre Anwesenheit das Büro. Hatte einer ihrer Kollegen es in die Schublade getan und dort vergessen, als sie über einen Fall diskutiert hatten? Aber das konnte nicht sein. Der letzte Besucher war knapp eine Woche her und so lange würde kein Handy vergessen bleiben, geschweige denn, dass ein neumodischer Akku so lange hielt. Von Neugierde getrieben, nahm Debra das kleine, schwarze Telefon in die Hand und drückte auf den Homebutton. Sie hatte gehofft, dort das Foto desjenigen zu sehen, dem das Gerät gehörte, doch leider war es nur das voreingestellte Muster der Marke. Da hatte sich noch nicht einmal jemand die Mühe gemacht, ein eigenes Hintergrundbild einzustellen. Mit dem Daumen wischte sie über das Display, wodurch es sich entsperren ließ, was auf einen unvorsichtigen Menschen deutete. Ohne PIN-Code konnte es jeder benutzen und in die Privatsphäre eindringen. Sie suchte zuerst nach Textnachrichten, um den Besitzer zu ermitteln, nur war seltsamerweise bloß eine vorinstallierte App zu finden, in der nicht einmal eine SMS des Internetanbieters war. „Das gibt es doch nicht“, murmelte Debra und klickte sich in die Galerie, auch wenn sie sich nicht ganz wohl dabei fühlte. Vielleicht sollte sie es doch besser morgen beim Chef abgeben, damit er sich um das Problem kümmerte und sie sich weiter mit dem Fall beschäftigen konnte. Doch irgendetwas hielt sie davon ab und ihre natürliche Neugierde gewann die Oberhand. Und schließlich durfte das ja auch nicht allzu schwer sein. Sie tippte auf den Kameraordner, der alle Bilder der Handys beinhaltete, und wischte durch ein paar von ihnen. Die Aufnahmen zeigten einige Pflanzen, Blumen und einfache Straßen, die ohne erkennbaren Grund fotografiert worden waren und möglicherweise bloß zu Übungszwecken gedient hatten. Langsam wurde sie ungeduldig. Wieso ließ jemand sein Handy in ihrem Büro liegen und hatte dann nicht einmal Anhaltspunkte, zu wem es gehörte? Sie war schon kurz davor, es wegzulegen, schließlich hielt es sie von der Arbeit ab, ehe sie ins Stocken geriet und nach Luft schnappte. Zuerst glaubte sie an eine Verwechslung. Immerhin gab es viele Blondinen in der Stadt, doch als sie weiter wischte, immer hektischer, wurde ihr so langsam bewusst, dass es weder eine Verwechslung, noch eine Halluzination, hervorgerufen aus Erschöpfung, war. Auf diesem fremden Handy waren Fotos von ihr selbst. In diesem Moment wurde Debra klar, dass das Hand nicht zufällig den Weg in ihre Büroschublade gefunden hatte, dass es jemand explizit darauf angelegt hatte, dass nur sie es fand. Es waren nicht einmal solche Bilder, die sie selbst aufgenommen hatte oder die Freunde von gemeinsamen Unternehmungen in ihren Social Media Accounts hochgeladen hatten. Diese wären leicht zu speichern gewesen und es hätte sie nicht wundern dürfen. Aber diese Bilder hier waren mindestens zehn Jahre alt. Nicht einmal sie selbst besaß noch derartig alte Aufnahmen. Allerdings hatte das auch einen guten Grund. Es waren nicht einfach nur Fotos von ihr, Debra, es waren solche, bei denen sie noch einen anderen Namen getragen hatte. Bei denen ihre Identität, ihr Sein, noch eine völlig andere gewesen war. Eine, an die sie nicht erinnert werden wollte und an die auch kein anderer Mensch mehr denken durfte. Mit verschwitzten Fingern fuhr sie weiter über das Display, erkannte sich auf der Straße, auf dem Weg ins Gericht und, am allerschlimmsten, mit ihrem Ex-Ehemann. Einem Menschen, der mehr Monster als Mann gewesen war. Und dem ihr dunkelstes Geheimnis galt. Debra merkte gar nicht, wie sie anfing zu zittern. Sie spürte nur die Hitze, die in ihrem Körper aufstieg, langsam, so wie Gift, das seine Wirkung nur schrittweise entfaltete. Ihr Daumen schwebte über dem Videozeichen, das nach dem letzten Bild plötzlich aufgetaucht war und eine spärlich beleuchtete Straße zeigte, die sie nur allzu gut kannte und in der sie trotzdem bloß einmal gewesen war. Hier passieren öfter Unfälle, hatte sie damals gedacht und spürte auch jetzt noch den faden Nachgeschmack dieser Worte, die ihre Gedanken verpestet hatten. An diesem Ort wird es niemandem auffallen. Ohne das Video anzuklicken, wusste sie, was sie dort zu sehen bekommen würde. Aber wer, zum Henker, sollte von der Person wissen, die sie einst gewesen war? Wer hatte diese Fotos ein Jahrzehnt lang in seinem Besitz gehabt? Und wer wollte nun, wo sie Kommissarin geworden war und den richtigen Weg gewählt hatte, ihr Böses wünschen? Sie verspürte das irrwitzige Bedürfnis, die Fotos zu löschen und einfach aus ihrem Büro zu spazieren, ins Auto zu steigen und nach Hause zu fahren. Von unterwegs aus würde sie Daniel dann eine Whatsapp schreiben, damit er seine Geliebte, wenn es dann eine gab, nach Hause schicken konnte. Mit solchen Lappalien konnte sie sich nicht befassen. Aber was, wenn dieses Handy ein Vorbote war und ihre Vergangenheit sie einholen konnte? Würde derjenige sie in Ruhe lassen, bloß, weil sie das Handy ignorierte und nach Hause ging? Zitternd setzte sie sich an den Schreibtisch, wo noch immer ein Rest an Unordnung herrschte. Der Fall, mit dem sie sich eigentlich hatte beschäftigen wollen, war längst vergessen. Debra war kurz davor, doch noch das Video anzusehen, als die Tür aufflog und Licht vom Flur in das Zimmer strömte. Es war nicht genug, um Debra zu blenden, doch trotzdem kniff sie reflexartig die Augen zusammen. Ihr Herz stolperte vor Schreck in einem unregelmäßigem Rhythmus und beruhigte sich erst, als sie erleichtert auflachte. „Daniel“, entfuhr es ihr. Ihr Freund war selten in ihr Büro gekommen und sie fragte sich, wieso er ausgerechnet heute so unvermittelt auf der Matte stand. Hatte sie einen wichtigen Tag vergessen? Ihren Monatstag vielleicht? Sie waren noch nicht lange zusammen, nicht einmal ein ganzes Jahr, aber bisher hatte Daniel keinen Wert auf so etwas gelegt. Sie war sich sicher, dass er sie abholen wollte, um sie nach Hause zu bringen oder auszuführen und prompt meldete sich das schlechte Gewissen in ihr. „Es tut mir leid, Schatz. Ich hatte nicht geplant, dass es heute wieder so spät wird“, seufzte sie und ließ das fremde Handy unauffällig in ihre Tasche gleiten. Jetzt, da Daniel bei ihr war, fühlte sie sich sicherer. Als ob ihr nichts mehr passieren könnte. Sie würde nachher noch nach weiteren Hinweisen suchen, allerdings nicht hier. Wenn es sein musste, würde sie aber die ganze Nacht damit verbringen. „Ich habe hier noch einen Fall, den ich unbedingt beenden wollte“, setzte sie an und schaltete dabei das Licht ihrer Schreibtischlampe aus. Daniel sagte gar nichts. Er stand im Türrahmen, rührte sich nicht, starrte sie einfach bloß an. Erst jetzt wurde Debra klar, dass ihm irgendetwas auf der Seele brannte. Sein Ausdruck war leer, als würden in ihm gar keine Gefühle mehr schlummern. Als wäre alles in ihm ausgebrannt. „Was ist passiert?“ Debras Stimme war voller Sorge. So kannte sie ihren Freund nicht. Ihren Freund, der immer fröhlich und gut gelaunt war, selbst wenn er gar keinen Grund dazu besaß. Sie erhob sich und überbrückte mit nur wenigen Schritten die Distanz zwischen ihnen, ohne zu ahnen, dass sie nie hätte größer sein können. Bevor sie ihn berühren und ihre Arme um ihn schlingen konnte, streckte er einen Arm nach vorne, hielt sie auf Abstand.

Hast du die Bilder bekommen?“, fragte er tonlos. Debra zuckte zurück. Die Bilder? Was meinte er? Doch nicht etwa …? Nein, sicher nicht. Er musste ihr etwas auf ihr eigenes Handy geschickt haben.

Nein.“ Sie holte tief Luft, weil sie merkte, wie dünn ihre Stimme klang. „Ich war so in den Fall vertieft, dass ich meine Nachrichten nicht angesehen habe“, gab sie zu und warf einen Blick zurück zum Schreibtisch, wo ihr Telefon inmitten eines Meeres aus Papier lag.

Nicht auf deinem Gerät“, knurrte er und sah sie an, sah sie wirklich an. Es schien, als würde etwas in ihn zurückkehren. Als ob die Abwesenheit von eben nun bis in die kleinste Zelle gefüllt werden würde. Nur lag dabei so viel Zorn in seinem Gesicht und in seiner Gestik, auch wenn er sich kaum bewegte. Debras Gehirn schaltete schneller, als ihr Herz begreifen wollte. Noch ehe sie darüber nachdenken konnte, quetschten sich die nächsten Wörter zwischen ihren Lippen hervor.

Du hast mir das Handy in die Schublade gelegt?“, fragte sie ungläubig. Fieberhaft überlegte sie, ob das überhaupt möglich war. War er in der letzten Woche hier gewesen?

Und dann fiel es ihr ein. Daniel hatte sie am Freitag zur Arbeit gefahren. Er war mit ihr ins Büro gegangen und sie hatte ihn kurz alleine gelassen, um Kaffee zu holen. Wie hatte sie das nur vergessen können?

Ich wusste, dass du dich rausreden würdest, würde ich es dir erzählen. Und auch, dass du es abstreiten könntest. Also fand ich, war das eine kreative Lösung“, antwortete er, erklärte aber noch immer nicht, warum und vor allem woher er das Bildmaterial hatte. Debras Hand fuhr zum Lichtschalter. Die Helligkeit, die vom Flur aus hierher schwappte, war ihr auf einmal viel zu wenig. Doch Daniel schlug ihre Hand weg, bevor sie auch nur das Plastik berühren konnte.

Kein Licht“, zischte er feindselig. „Weißt du Debra“, begann er und ging tiefer in den Raum hinein, bis hin zum Fenster, wo er die Gardinen sorgfältig zuzog. „Das war wirklich sehr schlau. Ich meine, deinen Namen zu ändern, wegzuziehen, ein neues Leben aufzubauen. Allerdings war ein kleines Detail doch etwas dumm von dir. Man könnte mehr von einer Kommissarin erwarten, findest du nicht?“

Was meinst du damit?“ Debras Gesicht wurde fahl, ihre Handflächen schwitzten und sie wischte sie sich an ihrer Jeans ab. Sie verstand noch immer nicht, wie es dazu gekommen war. Spürte nur ihr Herz brechen, in tausend kleine Scherben, die Daniel ganz sicher noch zermahlen würde. Nur hatte sie keine Angst. Ihr Puls zog an, aber nicht in der Befürchtung, dass etwas Schlimmes passieren könnte. So viele Fälle hatte sie gesehen, bearbeitet und zu den Akten gelegt. So viel Grausames hatte sich in ihren Kopf gebrannt. Und doch warnte ihr menschlicher Instinkt sie nicht vor das, was kommen sollte.

In die Nähe des Tatorts zurückzukehren. Wusstest du nicht, dass es nicht reicht, die Stadt zu meiden? Dass es mehr Entfernung verlangt, als ein paar Kilometer?“ Daniel drehte sich wieder zu ihr um, sah ihr in die Augen. „Und dich dann auch noch ausgerechnet in mich zu verlieben? Wie gesagt, ein bisschen mehr Recherche hätte ich dir zugetraut, Liebling.“ Er spuckte den Kosenamen aus, als würde er bitter schmecken. „Weißt du, Debra, es ist mir ja schon fast egal, dass du deinen Ehemann zur Strecke gebracht hast, wirklich. Er war ein Arsch. Was tut es schon zur Sache, wenn ein Monster gegen ein anderes eingetauscht wird? Immerhin hast du nicht noch einmal getötet, nicht wahr? Er hätte es getan, da bin ich sicher.“ Daniel zuckte beinahe gleichgültig mit den Achseln. Aber er konnte Debra nicht täuschen, nicht so. Auf seinen Schultern lastete ein bleischweres Gewicht, nichts davon war wahrhaftig gleichgültig. „Ich frage mich bloß, woher dieser Sinneswandel kam. Woher, Debra? Aus welchem Grund beschützt du erst deinen Mann, um ihn danach zu töten? War das irgendein krankes Spiel? Hat dir das Spaß gemacht, hm? Wieso?“ Er machte eine kurze Pause, Wut triefte aus seinen Augen hervor. „WIESO, DEBRA?“ Sie zuckte unwillkürlich zurück, spürte die Wand im Rücken, obwohl ihr gar nicht klar gewesen war, dass sie ihren Platz verlassen hatte.

Ich … ich weiß nicht, was du meinst.“ Verdammt, sie wusste nicht, was sie tun sollte. Wegrennen? Die Polizei zu rufen, war keine Option. Es gab Beweise, die gegen sie sprachen und ein Gefängnisaufenthalt konnte sie nicht zulassen.

Daniel seufzte tief.

Okay, dann werde ich dir wohl auf die Sprünge helfen müssen“, sagte er. Debra hörte den genervten Unterton aus seiner Stimme deutlich heraus. „Als dein Mann einen Mord begangen hat, an einer unschuldigen Prostituierten. Wobei, sind diese überhaupt je unschuldig?“ Er zuckte mit den Schultern. „Jedenfalls, als er sie getötet hat, hast du eine Falschaussage getätigt. Und sag mir nicht, dass du es nicht getan hast. Ich habe mit der Familie gesprochen, sie wussten, dass ihre Tochter Stress mit deinem Mann hatte, wegen irgendwelcher illegalen Geschäfte. Und sie wussten auch, wer es war. Leider stand dieses Puzzleteil erst später zur Verfügung. Dein Mann wurde vorgeladen, du hast ihm ein falsches Alibi gegeben und dann … Na, weißt du nun weiter?“ Er machte ein paar Schritte auf sie zu. Der liebevolle Mann, in den sie sich vor Monaten verliebt hatte, nachdem sie ein Jobangebot bekommen und nach Berlin gezogen war, war verschwunden. Genauso wie in diesem Moment Debra. Sie war wieder Vanessa. Eine junge Frau, die sich in den falschen Mann verliebt hatte und die aus Liebe zu ihm alles getan hätte. Einen Mord zu vertuschen eingeschlossen. Tränen liefen ihr über die Wange und sie leckte sich über die Lippen, um sie von dort fortzuwischen. Dabei hatte sie wieder den Geschmack von Verrat auf der Zunge. Früher, mit Anfang zwanzig, wusste sie, was ihr Mann getan hatte. Und sie wusste, was auf ihn zugekommen wäre. Sie war sich sicher gewesen, es nicht ohne ihn zu schaffen. Besonders mit der Schwangerschaft, von der sie kurz zuvor erfahren hatte. Also hatte sie ihm das einzige geschenkt, was ihn hatte glücklich machen können: Seine Freiheit. Natürlich hatte sie an das Gute in ihm geglaubt. An seine Reinheit und daran, dass Menschen Fehler machten. Sie behauptete, zum Tatzeitpunkt bei ihm gewesen zu sein und aus mangelnder Beweislage hatte man von ihm abgelassen. Aber dann geschah noch etwas. Etwas, dass sie nicht herbei gesehen hatte.

Dann hat er noch einen Mord begangen“, hauchte Debra und traute sich nicht, Daniel anzusehen. Langsam ahnte sie es.

Diesmal ein wirklich unschuldiges Mädchen. Meine Schwester“, keuchte Daniel und Debra sah überrascht zu ihm rauf. „Ja, das hättest du nicht gedacht, was? Ich weiß auch noch nicht sehr lange, wer du wirklich bist, Vanessa. Aber weißt du, was mich echt ankotzt? Du hättest es verhindern können. Den ersten Mord womöglich nicht, aber den zweiten! Hättest du ausgepackt oder auch einfach bloß deine Klappe gehalten, könnte sie heute noch leben!“ Nun war da nicht nur Wut in seiner Stimme. Man konnte deutlich die Tränen heraushören, die sich in ihm angesammelt hatten.

Daniel, es tut mir leid“, wisperte Debra. Alles in ihr schrie nach Vergebung. Sie konnte es nicht einmal abstreiten. Nicht vor Daniel und vermutlich auch vor sonst keinem. Sie war schuldig. Nichts änderte das.

Es tut dir leid“, spuckte er ihre Worte aus. „Gar nichts tut dir leid! Nach dem zweiten Mord hätte man ihn drangekriegt. Dort gab es Beweise! Nur du warst schneller. Hättest du gewartet … Wobei ein Gefängnis noch zu gut für ihn gewesen wäre. Der Tod hat ihn gerecht für den Mord an meiner Schwester bestraft. Wie gesagt, das kann ich dir verzeihen. Sag mir nur, wieso du ihn letztendlich doch umgebracht hast. Wieso konntest du nicht vorher die Wahrheit sagen?“

Woher hast du die Bilder, das Video? Woher …“, wollte Debra fragen, doch Daniel unterbrach sie.

Stell hier keine Gegenfragen“, brüllte er unvermittelt und alles in ihr zog sich zusammen. „ANTWORTE gefälligst!“

Ich hatte mich in ihm geirrt“, gab sie kleinlaut zu. „Ich konnte ihn nicht am Leben lassen. Nicht so, wie er war. Ich durfte nicht zulassen, dass …“ Sie brach ab und fuhr sich automatisch mit der Hand über den Bauch. „Dass mein Kind so einen Vater hat.“ Für einen Moment wirkte Daniel verwirrt. Sie hatte ihm nie von ihrer Schwangerschaft erzählt, weil sie kurz darauf das Baby verloren hatte. Aber das schien ihn auch gar nicht weiter zu interessieren. „Wie hast du das alles herausgefunden?“, fragte sie, weil sie alles beantwortet hatte, was er wissen wollte. Er lachte auf, schien es als unwichtiges Detail abzutun, hatte wohl aber kein Problem damit, es ihr zu erzählen.

Meine Familie hat ab und an Kontakt zu den Angehörigen des ersten Mordopfers. Weißt du noch, dass ich dich letzte Woche zu einem Treffen mitnehmen wollte? Kaum saßen wir im Restaurant, um auf sie zu warten, klingelte dein Handy und die Arbeit war wichtiger. Beim Herausgehen allerdings, als du Hals über Kopf los musstest, haben sie dich erkannt. Sie gingen rein und du raus und du hast nicht einmal ihre Blicke bemerkt. Sie haben dich erkannt, Debra. Anders als ich. Ich habe ja nicht geahnt, dass ich mich zufälligerweise in ein Monster verliebt habe. Dann kam heraus, dass ich mich auch in ein paar anderen Menschen getäuscht hatte. Die Familie der Nutte hat dich damals beschattet. Sie hatten Bilder von dir, harmlose Bilder, nichts Verwerfliches, aber sie hatten auch das Video. Das Video, in dem du deinen Ehemann erschießt. Du hast dir einen perfekten Ort dafür ausgesucht, das muss man dir lassen. Man war von einem Raubüberfall ausgegangen, da ihm auch noch Handy und Brieftasche gestohlen worden waren. Die Sache wurde ein wenig verfolgt und dann fallengelassen, aufgrund mangelnder Beweislage. Das hast du wirklich clever gemacht. Das hat bewiesen, dass du eine bessere Mörderin bist als dein Ex. Besagtes Video war schon lange im Besitz der Familie. Sie hätten es der Polizei geben können oder uns zeigen, aber nein. Nein, das wollten sie nicht tun. Sie wollten nicht, dass der Mörder ihrer Tochter so etwas wie Gerechtigkeit widerfährt, indem du, als die Täterin, geschnappt wirst und hinter Gittern kommst. Sie hatten ja auch keine offene Rechnung mit dir, schließlich konntest du dafür nichts. Aber sie haben eingesehen, dass der Beweis bei mir besser aufgehoben war. Nur damit konnte ich dich nicht konfrontieren, nein. Schließlich haben wir Nachbarn, die Alarm geschlagen hätten. Also brauchte ich einen sichereren Ort. Und welcher eignet sich besser, als ein einsames Bürokomplex an einem späten Montagabend?“, beendete er seinen langen Monolog. Er kam ihr gefährlich nah, langsam, bis er direkt vor ihr stand und sein Atem ihr ins Gesicht schlug. „Noch Fragen?“, grinste er.

Was hast du jetzt vor?“, flüsterte Debra. „Zur Polizei gehen?“ Daniel könnte sie alles kosten. Ihren Job, ihre Freiheit, alles, was sie sich in den letzten Jahren aufgebaut hatte. Doch dieser sah sie an, als hätte sie einen Scherz gemacht.

Denkst du, dass ich nicht schon längst zur Polizei gegangen wäre, hätte ich das vorgehabt?“, stellte er ihr die Gegenfrage und tippte mit dem Zeigefinger gegen ihre Stirn. Dort verharrte er, fuhr ihre Wange entlang, über ihr Kinn, bis hinunter zu ihrem Hals. Debra wollte sich bewegen, ihn von sich schubsen, weglaufen, doch ihr Körper schien wie mit Zement gefüllt. „Weißt du eigentlich, wie sie gestorben ist? Wie dein Mann sie getötet hat?“, murmelte er leise und legte seine Hand fast sanft um ihren Nacken. Er beobachtete sie, achtete auf jede noch so kleine Regung in ihrem Gesicht. „Sie wurde erwürgt“, knurrte er und von da an passierte alles ganz schnell. So schnell, dass Debra im Nachhinein gar nicht mehr sagen konnte, ob alles tatsächlich genau so passiert war. Daniel packte ihren Hals und drückte seine Daumen tief in ihr Fleisch, während er sie leicht nach vorne zog, um ihren Schädel dann gegen die Wand krachen zu lassen. Sie wollte nach Luft schnappen, atmen, alles in ihr brannte und Punkte tanzten vor ihren Augen. Ihr Herz hämmerte in der Brust, nicht nur aus Angst, auch aus Verletzung … und aus Scham. Sie musste sich wehren, konnte nicht einfach so kampflos aufgeben. Denn eines hatte sie nie aus den Augen verloren. Nicht als Vanessa und auch nicht als Debra: Sie wollte leben. Und dieser Wunsch war so stark, dass er alles andere niederbrannte. Panisch versuchte sie, Daniel von sich zu drücken, seine Hände von ihrer Kehle zu reißen. Sie trat um sich, fuhr ihn mit den Nägeln durchs Gesicht, doch nichts davon half. Daniel war einfach zu stark, stärker als sie. Hätte sie doch nur irgendetwas, ein Messer vielleicht, könnte sie ihn von sich reißen. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie wollte ihm nicht wehtun, aber sie konnte auch nichts riskieren. Ihr Körper wurde langsam schlaff, sie war erschöpft, ihre Lungen brannten wie Feuer. Hektisch hob sie ihren Arm und griff neben sich ins Regal. Ihre Finger berührten nur nutzloses Zeug. Bücher, Papiere, Ordner, nichts, was ihr helfen konnte. Daniel sah das wohl ähnlich, er achtete gar nicht darauf, was sie tat, sah ihr nur in die Augen, die seinen Blick starr erwiderten. Endlich griff ihre Hand nach etwas anderem. Einer Vase. Einer ziemlich teuren Vase, zugegeben, die sie eigentlich mochte und die nun die einzige Chance darstellte, etwas zu verändern. Den Lauf zu unterbrechen. So gut es ging, griff sie nach dem bauchigen Gegenstand und schlug ihn so fest sie konnte gegen Daniels Kopf, der daraufhin vor Schreck von ihr abließ. Panisch schnappte sie nach Luft und spürte kaum Erleichterung, als ein wenig Sauerstoff wieder ihre Lungen füllten. Die Vase, die an Daniels Kopf zerscheppert war, lag nun in Scherben verteilt auf dem Fußboden. Debra überlegte, sich eine davon zu nehmen, um damit gegen ihn nicht so schutzlos zu sein. Doch noch ehe sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, kam ihr eine bessere Idee. Sie hatte doch ohnehin keine Wahl. Mühsam schleppte sie sich zum Schreibtisch und war gerade angekommen, als sie ein Gewicht auf sich spürte, das sie gegen die Platte drückte. Als sie ihren Kopf zur Seite drehte, sah sie Blut von Daniels Wunde auf das Papier tropfen, beobachtete, wie es sich rot verfärbte, während sie nach ihm trat und gleichzeitig versuchte, eine der Schubladen zu öffnen. Ein Wunder, dass Daniel nicht alle von ihnen kontrolliert hatte, als er auf der Suche nach einem Versteck für das Handy gewesen war. Es hatte wohl schnell gehen müssen. Genauso wie jetzt für Debra. Sie fand nicht gleich die richtige Schublade. Dafür hatte sie eine viel zu schlechte Sicht. Doch als sie das nächste Mal hineingriff, spürte sie den Lauf zwischen ihren Fingern. Sie zögerte nicht lange, packte die Pistole, die zu ihrem Schutz in ihrem Schreibtisch lag und von der niemand etwas wusste, drehte sich ein Stück und richtete sie auf Daniels Stirn.

Es tut mir leid, Liebling“, presste sie noch hervor, bevor er verstehen konnte, was sie vorhatte. Dann drückte sie ab und der Ausdruck in seinen Augen wurde leer. Debra ließ die Waffe auf den Boden fallen und schob mit aller Kraft Daniels leblosen Körper von ihrem eigenen herunter. Keuchend stützte sie sich auf der Platte ab und sah bestürzt auf das Chaos, das sie angerichtet hatte. Noch ein Mord. Und wie würde sie nun den vertuschen?

3 thoughts on “Ich töte dich, Liebling

  1. Moin Moin Jennifer,

    da hast du dir aber eine richtig gute Kurzgeschichte für diesen Wettbewerb ausgedacht.

    Den Kampf zwischen Daniel und Debra/Vanessa beschreibst du so detailliert man hat glatt das Gefühl, man ist direkt dabei.

    Deinen Schreibstil empfinde ich als sehr angenehm. Deine komplette Geschichte lässt sich sehr gut lesen. Dramatik und Spannung kommen nicht zu kurz, was mir aber am besten gefallen hat, ist dein Talent Worte zu Bildern zu machen. Alles was du beschreibst, was du erzählst, konnte ich spüren, fühlen und lies mein Kopfkino starten.

    Sätze wie diesen hier, fand ich sehr gelungen..

    „ um dort von der heilen Welt zu kosten, die sie an diesem Ort immer wieder in Frage stellte.“

    Das Verbrechen im Job, contra der heilen Welt eines Zuhauses. Stark!! 👍🏻

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für‘s Voting.
    Vielleicht entdecken ja noch mehr Menschen deine tolle Geschichte. Du kannst auf alle Fälle stolz auf das sein, was du hier geschaffen hast.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

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