Franzi04Identitätsverlust

Fahles Licht schien durch das Fenster und hüllte mein Krankenzimmer in schummriges Halbdunkel. Es war bereits acht Uhr abends. Bald würde es dunkel werden und sobald die Sonne komplett untergegangen war, würde es mich in Dunkelheit stürzen. In tiefe, finstere und alles verschlingende Dunkelheit. Schon an meinem ersten Tag in der Psychiatrie, in die ich vor knapp zwei Monaten eingeliefert worden war, hatte ich das Gefühl gehabt, dass ich in ein dunkles Loch gefallen war. Mit jedem weiteren Tag schien ich jedoch weiter in dieses Loch gestürzt zu sein, das nicht nur meinen Körper eisern gefangen hielt, sondern mir auch meine Persönlichkeit und meine Identität genommen hatte. Ich hatte meine komplette Existenz verloren, wusste nicht mehr wer ich einmal gewesen war und wer ich jetzt im Moment war. Rein äußerlich sah ich vielleicht noch halbwegs wie ein normaler Mensch aus, doch mein Inneres war schon lange eine leere Hülle. Ein Seufzen, das mir mittlerweile fast fremd vorkam, verließ meine Lippen und ließ mich zusammenzucken. Es jagte mir einen eiskalten Schauer nach dem anderen über den Rücken und ließ meinen Herzschlag auf das doppelte Tempo ansteigen. Es dauerte lange, bis sich mein Herz wieder beruhigt hatte und wieder normal schlug. Meine Augen, die einen Moment zuvor noch einen imaginären Punkt an der Wand fixiert hatten, schienen sich langsam wieder zu klären und ich sah mich in meinem Krankenzimmer um. Der Raum war nur sehr spärlich eingerichtet. Neben meinem Krankenbett befanden sich noch ein Tisch mit Stuhl im Zimmer und eine Tür, die in ein kleines Badezimmer führte. Auch die Wände, die in einem kühlen eisgrau gestrichen waren, waren kahl. Mein Blick streifte das Fenster und im Gegensatz zu meinem Krankenzimmer, das mir winzig vorkam, wirkte es zu groß und so, als könnte die gesamte Öffentlichkeit mich beobachten. Eine leere Hülle, die sich in der Psychiatrie wie in einem Gefängnis fühlte. Eingesperrt, alleine, einsam. Ich seufzte erneut und verspürte plötzlich den Drang, aus dem Bett zu steigen und mich ein bisschen zu bewegen. Sofern es in diesem winzigen Zimmer überhaupt möglich war, denn jetzt war es zu spät um noch auf den Fluren herumzulaufen. Auch wenn es erst ein paar Minuten nach acht war. Kurz entschlossen schlug ich die Bettdecke zurück und auch als sich ein stechender Kopfschmerz hinter meinen Schläfen bemerkbar machte, stieg ich trotzdem aus dem Bett und ging mit langsamen Schritten zum Tisch. Ich stützte mich mit beiden Händen auf der rustikalen Eichenholztischplatte ab, doch als mein Finger einen glatten und kühlen Gegenstand streifte, war der langsam immer heftiger werdende Kopfschmerz erstmal vergessen. Ich nahm den Gegenstand in die Hand und stellte überrascht fest, dass es ein Handy war. Doch während ich mich noch fragte wie dieses Smartphone auf den Tisch gekommen war, kam auch schon der Schock. Dieses Handy sah zwar so aus wie das Modell, das ich besessen hatte, doch als ich es einschaltete, stellte ich fest, dass es nicht von mir war. Das zeigten mir jedenfalls die Bilder in der Galerie, die jedoch alle nur verwackelt waren. Alle bis auf drei Bilder, die gestochen scharf waren und einen Mann zeigten, der mir zum Verwechseln ähnlich sah. Nein. Moment. Die Person sah nicht nur so aus wie ich, sie war ich. „Was zum“, murmelte ich schockiert, während ich mir das erste Bild genauer ansah. Ich schien es Stück für Stück zu analysieren, jedes noch so kleine Detail schien mir aufzufallen und sich in meine Netzhaut zu brennen. Das kleine Muttermal über der Oberlippe, der leichte grüne Schimmer in den braunen Augen, der gleiche sorgenvolle Gesichtsausdruck. „Aber das ist unmöglich“, flüsterte ich. „Diese Person kann nicht ich sein. Ich weiß doch noch nicht mal was das Handy auf dem Tisch in meinem Krankenzimmer macht und schon gar nicht wie die Bilder von mir auf ein fremdes Gerät gekommen sind.“ Doch all diese verzweifelten Fragen, die ich mir in meinem Kopf stellte, waren nichts im Gegensatz zur schrecklichen Wahrheit, die durch diese drei Bilder aufgedeckt und ungelogen vor mir lag. Auf einem der anderen beiden Bilder war es dunkel, nur das fahle Licht des Mondes, das durch das Fenster ins Zimmer schien, ließ das Messer, das ich in meiner rechten Hand hielt, silbrig schimmern. An seiner Spitze glänzte Blut, das Blut von der Person, über die ich mich einen Moment zuvor wahrscheinlich noch gebeugt hatte. Es war zwar zu dunkel um die Konturen eines Gesichts erkennen zu können, doch trotzdem kam mir der Moment, der auf dem Bild dargestellt wurde, bekannt vor. Erschreckend bekannt. Wer auch immer dieses Bild gemacht hatte, hatte meine schlimmste Tat für immer auf dieses Bild gebannt. Unlöschbar, aber vor allem unumkehrbar. Natürlich konnte das Bild bestimmt irgendwie wieder gelöscht werden, doch in meinen Erinnerungen würde es für immer einen festen Platz haben. „Das kann nicht sein“, murmelte ich, aber spätestens jetzt war mir klar, dass die Person auf dem Bild wirklich ich war. Ich schluckte schwer. Bevor ich mir aber das dritte Bild genauer ansehen konnte, klingelte das Handy in meiner Hand. Ich zuckte zusammen und überlegte krampfhaft was ich tun sollte, doch ohne wirklich zu wissen was ich da tat, nahm ich den Anruf mit der unterdrückten Nummer entgegen. „Wie ich sehe hast du das Handy gefunden, das ich auf dem Tisch in deinem Zimmer platziert habe.“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang männlich, aber so verzehrt, dass ich nicht identifizieren konnte, wer es war. „Was…was wollen Sie von mir?“ stammelte ich, worüber ich mich insgeheim ärgerte. Wer auch immer mich angerufen hatte, ich wollte diese Person auf keinen Fall meine Verwirrung und Angst spüren lassen. „Ich kenne dein dunkelstes Geheimnis“, sagte die Stimme heiser, während ich mich so fühlte als hätte mir jemand einen Schlag verpasst. „Das kann nicht wahr sein“, flüsterte ich, doch es hörte sich eher so an als würde ich mich selbst davon überzeugen wollen. „Ich kenne niemanden, dem ich mein Geheimnis verraten habe.“ „Das hast du auch nicht.“ Die verzehrte Stimme lachte. „Ich habe dich dabei beobachtet und fotografiert.“ Ich zuckte zusammen und obwohl es warm in meinem Zimmer war, schien die Temperatur um ein paar Grad zu sinken. Eiseskälte breitete sich in meinem Körper aus und die feinen Härchen auf meinen Armen stellten sich auf. Doch sowie ich gerade noch verunsichert und ängstlich gewesen war, wurde ich jetzt langsam wütend. „Wer sind Sie?“ brüllte ich ins Handy und in diesem Moment war es mir egal ob ich zu laut war. „Und was wollen Sie von mir?“ Die Person am anderen Ende lachte nur. „Das wirst du herausfinden wenn du dein Zimmer verlässt und das Zimmer am Ende des Gangs betrittst. Wenn du das tust werde ich dir sagen was ich von dir möchte. Falls du es aber nicht tust, wirst du nie erfahren woher ich dein dunkles Geheimnis kenne und wie ich die Bilder gemacht habe.“ Ich stieß ein wütendes Schnauben aus. Die Person hatte doch tatsächlich die Frechheit mir eine Forderung zu stellen. Ich dachte kurz nach, wog beide Optionen ab, doch dann beschloss ich, dass ich der Forderung nachgeben würde. Ich ging zur Zimmertür, öffnete sie einen Spalt und spähte hinaus. Auf dem Gang war niemand zu sehen. Kein Arzt. Keine Pfleger. Ich konnte also schnell zu dem Zimmer am Ende des Gangs gehen. Zitternd und langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen, sorgsam darauf bedacht, dass meine nackten Füße möglichst keine Geräusche auf dem Boden machten. Seltsamerweise kam mir der Weg endlos lang vor, bis ich dann doch vor der geschlossenen Tür stand. Ich atmete langsam aus, während mir eine einzige Frage durch den Kopf schoss: Was würde mich hinter dieser Tür erwarten? Ich wusste es nicht, doch ein kleiner Teil in meinem Kopf schrie mich an. Er warnte mich, die Tür nicht zu öffnen, zurück in mein Zimmer zu gehen und das Handy und die Fotos darauf wieder zu vergessen. Der andere Teil schickte einen heftigen Adrenalinschub durch meine Adern. Mein Atem ging stoßweise als ich meine Hand zögernd auf die Türklinke legte und sie langsam nach unten drückte. Fast schon erwartete ich, dass die Tür verschlossen war, doch das war sie nicht. Sie ließ sich öffnen und ich schob sie einen Spalt auf. Es war nichts zu erkennen. Logisch´ spottete eine Stimme in meinem Kopf. Die Tür ist ja praktisch noch fast zu. Ich atmete tief durch, öffnete die Tür ganz…und erschrak. „Sie?“ Völlig fassungslos starrte ich die Person, die vor mir stand, an. Es war mein Psychiater Doktor Waldmeier, der mich seit meinem ersten Tag hier behandelt hatte. Dass er jetzt die Person sein sollte, die das Handy bewusst in mein Zimmer gelegt und die Fotos gemacht hatte, entsetzte mich. „Wie haben Sie es geschafft, die Bilder von mir zu machen, ohne dass ich es bemerke?“ fragte ich leise, während ich Doktor Waldmeier nicht aus den Augen ließ. Der Arzt stieß ein Lachen aus, das in meinen Ohren wie das Lachen eines kranken Psychopathen klang, „Niemand gibt dir das Recht überhaupt Fragen zu stellen“, meinte er kalt. Ein resigniertes Seufzen verließ meine Lippen und in diesem Moment spürte ich wie sich die Hoffnung auf die Wahrheit, die zuvor noch wie ein Feuer in meinem Inneren gebrannt hatte, langsam kleiner wurde bis am Ende nicht mal mehr der Rest einer Glut zurückgeblieben war. Er wird mir nie die Wahrheit erzählen´ dachte ich, doch der nächste Satz von Doktor Waldmeier überraschte mich. „Aber ich will mal nicht so sein und erzähle dir die Wahrheit.“ Mit einem Schlag schien das Feuer in mir wieder entfacht worden zu sein, denn es fing erneut an zu lodern, heller und größer als zuvor. Dennoch wagte ich es nicht, etwas zu sagen, denn ich hatte Sorge, dass er es sich bei dem kleinsten Wort von mir noch einmal anders überlegen könnte. „Erinnerst du dich noch an unsere Freundschaft, Dylan?“ Doktor Waldmeier sah mich ernst an, doch für mich war diese Frage wie ein Faustschlag in den Magen. Ja, wir waren wirklich einmal Freunde gewesen, beste Freunde. „Ja“, sagte ich zögernd, da ich mir nicht sicher war ob er eine Antwort von mir erwartete. „Ich erinnere mich noch an unsere Freundschaft.“ „Schön“, war das einzige was Doktor Waldmeier knapp sagte, doch seine Stimme klang erschreckend kalt und emotionslos. „Wenn du dich noch an unsere Freundschaft erinnern kannst, erinnerst du dich bestimmt auch an Maria. Die Frau, in die wir beide uns leider zur gleichen Zeit verliebt haben und die du vor meinen Augen ermordet hast.“ „Was?“ Ich wurde blass. „Aber wie…wie haben Sie das mitbekommen? Und wieso konnte ich mich für einen kurzen Zeitraum nicht daran erinnern?“ „Weil du dich nicht erinnern willst“, fauchte Doktor Waldmeier. Er funkelte mich wütend an, bevor sein Blick wieder etwas weicher wurde. „Ich werde dein Gedächtnis mal ein bisschen auffrischen, weil es mir ein bisschen zu verkümmert vorkommt. Du warst sehr eifersüchtig als du einsehen musstest, dass Maria sich in mich verliebt hat und sie sehr glücklich mit mir ist. Als wir uns dann auch noch im Zeichen unserer Liebe verlobt und geheiratet haben, bist du wahnsinnig vor Eifersucht geworden. Du hast mir geschworen, dass du dich an mir rächen wirst, doch erst habe ich es nicht geglaubt. Ich habe erst gemerkt wie ernst du es gemeint hast, als ich den Schrei meiner Frau gehört habe. Sofort bin ich zurück zum Schlafzimmer gerannt, doch ich kam leider zu spät. Denn zu diesem Zeitpunkt hast du sie schon ermordet.“ Schmerz und Wut verdunkelten Doktor Waldmeiers Gesichtszüge, während mich das schlechte Gewissen plagte. Ich hatte tatsächlich die Frau meines Psychiaters umgebracht. Eine schreckliche Tat, ausgeführt aus reiner Eifersucht. „Es tut mir leid“, war das einzige, was ich leise über meine Lippen brachte. „Doktor Waldmeier schnaubte. „Deine Entschuldigung kann mir meine Frau jetzt auch nicht mehr zurückbringen. Ich habe fassungslos dabei zugesehen wie du das Messer in ihre Brust gestoßen hast. Und wieder. Und wieder. Ich wusste gar nicht wie ich es geschafft habe, aber ich habe irgendwie mein Handy herausgeholt und ein Foto von dir gemacht. Damit wollte ich zur Polizei gehen, dafür sorgen, dass du zurecht hinter Gitter kommst, doch leider ist es nicht dazu gekommen. Ich war sehr wütend und habe Rache geschworen. Erst habe ich dich verfolgt, habe Fotos von dir gemacht, um all das einzufangen, was ich so sehr gehasst habe, doch dann ist mir etwas ganz Besonderes für dich eingefallen.“ „Was denn?“ krächzte ich, während eine meterhohe Eiswelle über mich hereinbrach, die mich zu verschlucken drohte. „Was haben Sie mit mir vor?“ Doktor Waldmeier lachte. „Ich möchte dich genauso leiden lassen wie du meine Frau leiden gelassen hast, als du sie kaltblütig ermordet hast.“ „Aber…aber wie?“ stammelte ich. Ängstlich sah ich meinen Arzt an, denn irgendwie schien ich zu spüren, dass es nichts Gutes sein würde. Doktor Waldmeier lächelte ebenso geheimnisvoll wie bösartig. „Das wirst du schon noch früh genug erfahren.“ Doch noch bevor ich nachdenken konnte was es sein würde, hatte er auch schon eine Pistole auf mich gerichtet und mir in die Brust geschossen.

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