J. KampIm freien Fall

Lautes Rattern und quietschende Bremsen kündigen die U12 an. Ich drücke mich in die Bahn. Die anderen Fahrgäste beachte ich wie immer nicht. Die Türen schließen sich. Ich bleibe aus alter Gewohnheit an der Tür stehen. Mein Spiegelbild, ein hagerer Mann mit schmalen Schultern, markanten Wangenknochen und Dreitagebart, starrt mich mit dunklen Augen an. Meine Augen wirken durch, das Licht außerhalb der Bahn, wie stumpfe Kohlestücke. Meine Irgendwie Seelenlos. Wie ein schwarzes Loch. Meine Haare hatte ich mir vorhin beim Telefonieren zerzaust. Ich hatte Kim angerufen, um ihr mitzuteilen, dass ich heute paar Stunden früher nach Hause kommen würde. Die nicht überhörbare Sorge in ihre Stimme, hatte mir fast den Verstand geraubt. Der wirre Haufen auf meinem Kopf unterstreicht so ziemlich wie ich mich fühle. Aufgewühlt. Wie in einem Albtraum gefangen. Hoffend, nach dem ersten Blinzeln, nicht viel mehr als ein Hauch, ein unangenehmes Gefühl, wie ein schweres Gewicht auf der Brust, zu verspüren. Wann würde ich nur endlich aufwachen? Was ich jetzt nicht alles dafür tun würde im nächsten Augenblick neben meiner Freundin aufzuwachen. Mir von ihr leise versichern zu lassen, dass Alles gut sei. Die Bahn hält. Jemand steigt aus. Ich beachte die Person nicht. Ich lasse mich auf den, nun frei gewordenen noch warmen, Plastiksitz fallen. Die Glasscheibe liegt kühl an meiner Schläfe, während meine Augen nichts suchend immer wieder von rechts nach links hüpfen. Meine Gedanken schweifen ab. Wie kann es sein, dass diese Bilder auf meinem Laptop aufgetaucht sind? Ich schließe die Augen und finde mich paar Stunden zurück versetzt in dem Büro meines Chefs wieder. Herr Pflüger, ein großer schlanker, hagerer Mann mittleren Alters, hatte vor lauter Zorn einen roten Kopf. Die Ader an seinem Hals pochte gefährlich in einem Rhythmus, der nichts als den Drang zur Flucht in mir ausgelöst hatte. Seine Worte zogen wie Rauchschwaden an mir vorbei. Ich konnte in diesem Moment nur das Bild vor mir anstarren, das sich ganz offensichtlich auf meinem Laptop befand. Meine hübsche Kollegin, die in einer anderen Abteilung arbeitet und ich manchmal beim Kaffee holen sehe. Jennifer. Wir redeten gelegentlich über unsere Kinder und den Sorgen und Probleme die man nun mal als Elternteil hatte. Wir kannten uns nicht besonders gut. Ich wusste eigentlich nur, dass sie einen Sohn hatte, der zwei Jahre älter war als meine Tochter und das sie vor kurzem zusammen mit ihrem Mann ein kleines Häuschen gekauft hatte. Sie hatten es bauen lassen uns sie war darauf ziemlich stolz. Das Foto, auf meinem Laptop, zeigte sie in zartrosa Spitzenunterwäsche offensichtlich in ihrem Schlafzimmer. Das Bild wurde durch ein Fenster aufgenommen. Bei dem Anblick drehte sich mein Magen um, ich versuchte den bitteren Geschmack in meinem Mund runter zu schlucken. Ich riss meinen Blick los und sah sie nun an. In sich zusammen gesunken saß sie in der anderen Ecke des Büros, weinend, das Gesicht an der Brust eines Kollegen verborgen. Ich konnte diesen Typen nicht ausstehen, daher hatte ich mir auch nie die Mühe gemacht mir seinen Namen zu merken. Er war einer dieser Männer, denen die Frauen nur so in Scharren nach stürmten. Aus Gründen die ich nicht verstand oder einfach nicht verstehen wollte. Mit seinen Eisblauen Augen und blonden nach hinten gestylten Haaren, sah er aus wie ein wild gewordener Engel. Vielleicht kam das einfach ziemlich gut an. Er durchbohrte mich mit einem Blick wie aus Eis, den Mund dabei angewidert verzogen. Sein Blick sprach Bände. Schau dich doch nur an. Ich wusste schon immer, dass du ein verzweifelter notgeiler Kautz bist. Anders bekommst du diesen Anblick wohl nie zu Gesicht. Wie denn auch solange es Männer wie mich gibt. Ich ballte die Fäuste. Leck mich doch.

Sommerallee. Ich stehe auf. Nur noch ein Zwischenhalt. Ein dumpfes Polter lässt meine Hand etwas panisch an meine rechte hintere Hosentasche wandern. Zum Glück nicht das Handy. Erleichtert aber auch verwundert schaue zurück auf den Sitz. Die Person, die vor mir hier gesessen hatte musste unglücklicher Weise das Smartphone verloren haben. Ich nehme das kleine Gerät in die Hand. Auf jeden Fall keins der neusten Modelle. Ich drehe es nachdenklich ein paar Mal in meiner Hand. Ich hatte es wohl einfach durch meinen dicken Mantel nicht gespürt. Ich informiere mich Zuhause wo ich das am besten abgeben kann. Momentan habe ich echt andere Sorgen. Wie soll ich Kim nur erklären, dass ich fristlos gekündigt wurde und vor allem was soll ich ihr als Grund nennen? Sicherlich nicht die Wahrheit. War es das überhaupt? Ich hatte dieses Foto nie gemacht. Ich trat in die kühle Nachtluft. Die Station war wie immer um diese Uhrzeit menschenleer. Ich drehte das Handy erneut. Drückte aus Neugierde auf eine der Tasten. Vielleicht war es ja an. Mich grinsen zwei mit Mehl und Teigspritzern bekleckerte Gesichter an. Ein junger Mann und ein Mädchen mit höchstens vier. Das Kind hat blonden Korkenzieherlocken und fast schwarze Augen. Es streckt stolz eine, für die kleinen Hände viel zu große, Pfanne inklusive eines unförmigen und etwas zu dunkel gewordenen Pfannkuchens, der Kamera entgegen. Unmöglich. Mir gleitet das Handy beinahe aus der Hand als ich mich und meine Tochter Trude erkenne. Das Bild war kurz vor ihrem fünften Geburtstag erstanden. Wir wollten Kim eigentlich mit leckeren Pfannkuchen überraschen. Da ich nie ein besonders guter Koch war, ging das ziemlich in die Hose. Trude war aber so zufrieden mit unserem Werk, dass sie förmlich vor Stolz platzte. Sie hatte dem verkohlten Teigklecks herum gezeigt, als wäre dieser der schönste Gegenstand der Welt. So ist Trude schon immer gewesen. Dafür hatte ich sie schon immer beneidet und geliebt. Kim hatte das Bild damals von uns gemacht. Schockiert und ungläubig starre ich solange auf den Display bis dieser schwarz wird. Erneut greife ich an meine Hosentasche und ziehe dieses Mal mein Handy heraus. Mit der grünen Hülle und dem gesplitterten Panzerglas eindeutig meins. Trude liebt es irgendeine Wissensendung für Kinder jeden Abend vor dem Schlafengehen anzuschauen, wobei sie es des Öfteren fallen ließ, dementsprechend ramponiert sah es auch aus. Erneut grinsen mich zwei glückliche total verschmierte Gesichter an. Das Gleiche Bild. Ein fremdes Handy.

Das Handy des Unbekannten liegt im runden Schein meiner Schreibtischlampe. So als würde es im wahrsten Sinne des Wortes Licht ins Dunkle bringen. Kim und ich hatten vorhin lange miteinander gesprochen. Den Grund meiner Kündigung hatte ich ihr nicht verraten. Ich hatte ihr erzählt, dass in der Firma Stellen gestrichen wurden und ich drei Monate Zeit hätte mir etwas Neues zu suchen. In der Zeit würde ich mir anderweitig Geld besorgen müssen. Aber Kim darf auf gar keinen Fall von meiner dunklen Vergangenheit erfahren. Ich drücke erneut den runden Knopf, wische über den Display und ein Nummernfeld erscheint. Ich seufze, aber was hatte ich erwartet? Eine freundliche Einladung das Gerät zu durch stöbern? Auch wenn sich ganz offensichtlich ein Bild von mir und meiner Tochter auf dem Gerät befindet, heißt das ja nicht gleich, dass es mir automatisch gehört oder mir Sonderrechte verschafft. Wobei. Ich tippe 1-2-3-4, ohne Erfolg, 0-0-0-0, ebenfalls ohne Erfolg und nach dem dritten gescheiterten Versuch, schaue ich seufzend dem Timer beim herunter zählen zu. Plötzlich ein Gedankenblitz. Das gleiches Bild wieso also nicht die gleiche Pin. Die Sekunden verstreichen so elendig langsam als würde die Zeit rückwärts laufen. 00:00 Endlich. 1-8-0-3. Trudes Geburtstag. Mehrere Icons auf schwarzen Hintergrund tauchen auf. Das Handy klingelt. Ich erschrecke mich fast zu Tode. Entsetzt starre ich es an. Ich habe mit so allem gerechnet, aber das dieses Gerät irgendeinen Ton von sich gibt, hatte ich nicht auf dem Schirm. Mein Herz schlägt viel zu schnell. Panik steigt in mir auf. Bitte, bitte hör schon auf zu klingeln. Eine neue Nachricht erscheint mit einer unmissverständlichen Botschaft auf den Display: Geh schon ran, Johannes.

Johannes, diesen Namen hatte ich nach meiner dreijährigen Therapie, sowie den Rest meines vorherigen Lebens abgelegt. Ich wollte die Person, die ich war nicht mehr sein. Ich hatte sehr viel falsch gemacht. Ich entschied mich damals dazu, ein neues Leben zu beginnen um einer geringeren Gefahr ausgesetzt zu sein, wieder rückfällig zu werden. Schweiß sammelt sich auf meiner Stirn. Mein altes Leben. Alte Fehler, die ich nie wieder gut machen kann. Ich hatte dieses Leben damals wie eine Schlange, ihre zu klein gewordenen Haut abgelegt. Es einfach wie einen kaputten alten Pulli abgestreift und in die nächste Mülltonne befördert. Wer wollte wieder alte Narben aufreißen? Unmöglich, dass jemand meinen neuen Namen herausgefunden hat. Ich drücke den grünen Hörer. Meine Hand zittert. Mir ist übel.
Du mieses Schwein, dachtest wohl du könntest abhauen. Ich habe dich gefunden. Ich beobachte dich. Ich werde dir Alles nehmen. Alles nehmen das du liebst. Du wirst dir wünschen nie geboren worden zu sein. Deine letzten Stunden haben schon begonnen.
Ich schmeiße das Handy förmlich weg, als die verzerrte Stimme das Telefonat beendet. Hauptsache so viel Abstand wie möglich zwischen mich und dieses Ding bringen. Tausend Dinge, Erinnerungen, Empfindungen schießen mir doch meinen Kopf. Mein Atem geht stoßweise. Panik steigt in mir auf. Entsetzlich kalte Panik. Das Display leuchtet zu meinem großen Entsetzen wieder auf. 3 ungelesene Nachrichten. Mit meiner zittrigen Hand greife ich wieder nach dem Gerät. Ich schlucke. Johannes, schau dir den Anhang an und erinnere dich. Es wird einer der letzten Dinge sein, die du machen wirst. Gehst du zur Polizei, erzählst du jemanden davon, werden deine Partnerin und Tochter dafür bezahlen. Das Bild heute Morgen war nur der Anfang. Hat es dir gefallen? Ich beobachte dich. Für dich gibt es kein Entkommen. Versuche es gar nicht erst. Ich möchte wirklich ungern jemanden deswegen sterben lassen. Ich öffne mit einem sehr unguten Gefühl den Anhang. Tief im inneren hoffe ich, dass sich jemanden nur einen ganz üblen Scherz mit mir erlaubte. Es war ist das Foto eines Zeitungartikels.

Esslingen a.N – Tod Melanie W. offiziell als Selbstmord bestätigt
Am Mittwoch, dem 04.05.2010, hatte sich die dreiundzwanizigjährige Melanie W. aus bis heute unerklärten Gründen gegen 14.00 Uhr an der Kreuzung Karlstraße, Plochinger Str. in den Tod gestürzt. Laut Augenzeugenberichten, hatte die hochschwangere Frau panisch und gehetzt gewirkt. Melanie W. soll zudem, laut polizeilichen Informationen, vor ihrem Tod mehrmals Anzeige wegen Nachstellung gegen Unbekannt erhoben haben. Daher hatte die Polizei die Ermittlungen aufgenommen. „Durch ein psychologisches Gutachten, das kurz vor dem Tod erstellt wurde, gehen wir mittlerweile davon aus, dass ein Fremdeinwirken in keinerlei Weise mit dem Tod zusammen hängt. Melanie W. litt durch ihre Schwangerschaft an Depressionen und Wahnvorstellungen. Weigerte sich jedoch Hilfe in jeglicher Form anzunehmen, äußerte sich Pressesprecher Sommer heute Morgen bei der offiziellen Pressekonferenz in Esslingen a.N

Kalter Schweiß sammelt sich auf meiner Stirn während ich lese und mich gezwungener Weise erinnern muss. Ich tippe auf den zweiten Anhang und erstarre. Es ist ein Foto. Laut dem Datum rechts unten in der Ecke erst zwei Tage alt. Ich erkenne sofort Kim. Sie steht an einer Bushaltestelle, ihr Gesicht halb hinter ihrem mächtigen weiß schwarz karierten Schal verborgen, während sie telefoniert. Sie fährt jeden Tag mit dem Bus zur Arbeit. In meinem Geist werde ich sechs Jahre zurück in die Vergangenheit geschleudert. Ich sitze plötzlich nicht mehr in meinem Arbeitszimmer sondern in einem steril wirkenden Raum. Ich sitze in einem der zwei braunen fast durchgesessenen Sessel, die ziemlich mittig im Raum stehen. Ein kleiner modern wirkender Glastisch steht vor mir. Der große Strauß aus weißen Blüten verbreitet einen schweren süßlichen Duft. Graue aus schweren Stoff genähte Gardinen, halten so ziemlich das ganze Sonnenlicht draußen, trotzdem ist es angenehm hell. Unter meinen Schuhsohlen spüre ich die groben Fasern, des Lindgrünen Teppichs. Die Tür geht auf. Ich beachte die Person, die den Raum betritt nicht wirklich. Mein Blick ist nach draußen auf die Parkanlage vor der Psychiatrie gerichtet. „Schön Sie zu sehen, Johannes. Wie geht es Ihnen heute?“ Als ich wie immer nicht darauf eingehe spricht er nach einer kurzen Pause weiter. „ Wir haben uns in der letzten Sitzung über die Motive ihrer Taten unterhalten. Ihnen fällt es offensichtlich nicht leicht darüber zu sprechen, das kann ich nachvollziehen, also gehen wir nochmal einen Schritt zurück…“ Ich hatte auf diesen „Sie können mir vertrauen. Wir schaffen das gemeinsam. Langsam in Ihrem Tempo“- Quatsch keine Lust mehr. Ich drehe den Kopf und sehe Dr. Reeb direkt in die Augen. Sie waren braun genauso wie meine, aber trotzdem unterschieden sie sich wie Tag und Nacht. Seine Augen waren mit hellen Sprenkeln durchzogen. Diese gaben ihnen einen warmen und freundlichen Eindruck. Meine hingegen waren dunkel. Wenn es stimmte, dass Augen die Fenster zur Seele sind, dann führen meine in einen tiefen Abgrund. Zu einem dunkeln Wesen. Vielleicht stimmte es auch. Der Psychologe, hält ein in kleines in Leder gebundenes Notizbuch in der Hand und notiert etwas. Vielleicht kritzelt er aus Langerweile auch nur etwas vor sich hin. Das würde ich auf jeden Fall an seiner Stelle tun. Sein schwarzes Haar war von silbernen strähnen durchzogen. Das Gesicht faltig. Im Alter von jemanden schätzen war ich noch nie besonders gut. Ich war mir aber ziemlich sicher, dass er schon einige Patienten ins seinem Leben behandelt hat. Irgendwann war man es sicher Leid zu versuchen in die Köpfe anderer zu schauen. Ich seufze, lehne mich in den viel zu breiten Sesseln zurück und starre an die weiße Decke. Ich spüre seinen Blick auf mir ruhen, aber ich selber ertrage es im Moment nicht jemanden anzuschauen. „ Wenn Sie sich erinnern können, was ich annehme, da sie sich anscheinend jedes Mal Notizen machen, habe ich das letzte Mal angefangen von meiner Schwester zu erzählten. Ich war 13 als sie gestorben ist. Sie war damals gerade mal 17. Überdosis. Wenn es sie interessiert. Ich stand meiner Schwester ziemlich nah, zumindest dachte ich das immer. Ihr Tod hatte mich damals ziemlich aus der Bahn geworfen. Ich ging nicht mehr zur Schule. Kam selten nach Zuhause, da ich es nicht ertrug, dass sie dort nicht mehr auf mich wartete. Meine Eltern hatten solche Angst auch noch ihr zweites Kind zu verlieren. Sie gaben sich wirklich Mühe. An meinem vierzehnten Geburtstag schenkten sie mir eine Kamera. Eine sehr teure Kamera. Ich frage mich bis heute woher sie das Geld genommen hatten. Vor Ankas Tod war ich ständig mit dem Fahrrad unterwegs um das beste Bild zu machen. Mein größter Traum war es Fotograf zu werden. Als alles mit mir den Bach runter ging, zerstörte ich meine Kamera. Alles an ihr erinnerte mich an sie. Ich hörte sie förmlich lachen wenn ich die Kamera nur anschaute. Irgendwie kam es doch etwas in meinem wirren Kopf an, dass meine Eltern mir eine Freude machen wollten und ich schnappte mir eines Tages mein Fahrrad. Weit kam ich nicht. Ich landete zwei Querstraßen weiter auf einem Spielplatz. Ein sehr herunter gekommenes Ding. Ich setze mich auf die einzig heile Schaukel und starrte vor mich hin. Die Kamera fest in meiner Hand. Ich kann mich nicht erinnern wieso ich genau plötzlich aufblickte. Ich glaube die junge Frau vor mir erinnerte mich Anka. Vielleicht dachte ich im ersten Moment auch einfach sie wäre es. Ich folgte ihr. Nicht nur an diesem Nachmittag. Ich fand alles über sie heraus. Ich wurde zu ihrem Schatten. Ich wollte nicht von ihr bemerkt werden. Beschützen, ja beschützen wollte ich sie. Anders wie bei meiner Schwester wollte ich alles richtig machen. Ich wurde abhängig von ihr. Sie hielt mich von den tiefen Abgründen meiner Trauer fern.“ Mein Mund fühlt sich durch das Sprechen trocken an und ich greife nach einem Glas, das sich neben dem Blumenstrauß befindet. Bevor ich weiterspreche gleitet mein Blick doch zu dem Arzt. Ich wollte den Ekel in seinen Augen spüren. Mehr als alles andere in diesem Moment. Sein Blick jedoch bleibt nichts sagend. Neutral. Ich spreche also weiter „ Sie zog weg. Ich konnte sie davon nicht abhalten. Damals hatte ich den Mut noch nicht. Den Mut dazu in ihr Leben einzugreifen um sie an meiner Seite zu halten. Mir ging es dreckig. Schuldgefühle und die Trauer um meine Schwester drohten mich wieder zu ersticken. Ich war inzwischen 18 und hatte in einem Laden für Fotozubehör angefangen zudem quälte ich mich durch die Schule. Abitur. Sie wissen schon. Eines Tages kam mich mein einziger Freund Greg besuchen. Er hatte seine neue Freundin dabei. Ihr Anblick war wie ein Schlag in die Magengrübe… ihr braunes Schulterlanges Haar wellte sich wie es das von Anka immer getan hatte. Die Trauer in mir wurde von einem Art Hochgefühl verdrängt…“

Ein leises Klopfen holt mich in die Realität zurück. Ich lasse das Handy schnell in eine offene Schublade meines Rollcontainers fallen „Schatz, könntest du Trude bitte vom Training abholen?“ Kim schlingt die Arme von hinten um mich und drückt mir einen sanften feuchten Kuss auf die Schläfe. „Ich habe gerade eine Nachricht, von Trudes Trainerin bekommen. Sie bittet darum, dass die Eltern ihre Kinder heute doch bitte abholen sollen. Sicher will sie uns über das Turnier nächste Woche informieren. Diese Infozettel kommen ja bekanntlich nie Zuhause an. Ich mache solange Pizza. Das hatten wir ihr doch versprochen.“ Ich murmel sowas wie ein Ja sicher vor mich hin und Kim war schon wieder in die Küche verschwunden. Sicher machte sie meine Kündigung für meine offensichtliche geistige Abwesenheit verantwortlich.

Der Geruch von Chlor und eine Woge warmer Luft empfangen mich, als ich die Tür des städtischen Hallenbads mit meinem Oberkörper aufdrücke. Trude würde voraussichtlich noch paar Minuten brauchen. Sie und ihre beste Freundin trödelten gerne mal. 25min Wo bleibt sie denn? Ich gehe unruhig auf und ab während ich die Tür zu den Frauenumkleiden nicht aus den Augen lasse. Nach einer Ewigkeit schwingt sie endlich auf. Jedoch kommt mir jetzt wohl die Trainerin meiner Tochter oder eine der Bademeisterinnen hier entgegen. Sie zieht fragend einer, der zu dünnen Strichen gezupften Augenbrauen, hoch. Eine Wolke ihres süßen Parfums und den Geruch von alten Zigarettenrauch hüllt mich ein. Sie wirft den dicken blonden Zopf über die linke Schulter und ihr Blick wurde nachdenklich „Wissen Sie mir wurde heute von einem der Väter ein Bild geschickt, von jemanden der anscheinend des Öfteren an Schulen und Sportveranstaltungen von Kindern gesehen wurde… An ihrer Stelle wurde ich schnell verschwinden sonst hole ich die Polizei! Die Kinder sind eh schon alle Zuhause. Verschwinden Sie!“ Ein beunruhigtes Gefühl machte sich in mir breit „Ich bin hier um meine Tochter abzuholen, aber…“ Sie war gar nicht mehr hier. „Abholen?“ Ich blinzle ein paar Mal, nicke dann und verlasse das Hallenbad, wobei ich durch die kalte Luft und den feinen Regen zu frösteln beginne. Sicher nicht durch deswegen. Ich beiße mir nachdenklich auf die Lippe bis ich Blut schmecke. Wo war Trude? Sicher ist sie alleine nach Hause gelaufen. Sie kann ja nicht wissen, dass ich sie abholen komme und ich war ja auch spät dran… Vielleicht ist sie auch von Mayas Eltern nach Hause gefahren worden. Die Worte der Frau im Hallenbad hatte ich schon wieder vergessen. Nicht direkt vergessen, sie sind einfach in den Hintergrund gerückt, da sich alles in meinem Kopf nur noch um Trude dreht. Wenn hier ein Irrer unterwegs war wollte ich sie nur umso schneller in Sicherheit wissen.

Die Haustür fällt hinter mir ins Schloss, als ich noch während ich mir meinen Mantel von den Schultern ziehe, in die Küche laufe. Der Geruch von warmen Hefeteig und Salami liegt in der Luft. Niemand hier. Da unsere Wohnung in einem Altbau liegt, sind so gut wie alle Räume miteinander verbunden. Ich laufe durch Esszimmer, Wohnzimmer, Schlafzimmer, dann in den großen Flur um zum Bad, dem Zimmer von Trude und schlussendlich meinem Arbeitszimmer zu gelangen. Keiner da. Ich möchte mich gerade wieder abwenden, als aus meinem Arbeitszimmer ein Geräusch höre. Ich hatte doch gerade noch einen Blick herein geworfen. Sachte drücke ich die Türklinge herunter, öffne die Tür langsam, was ihr ein leises kaum hörbares Quietschen entlockt. Das fremde Handy liegt mitten auf meinem Schreibtisch. Ich hatte es ganz sicher in das Geheimfach in meinem Aktenschrank gelegt. Für alle Fälle. Gerade lag es doch auch noch nicht da. Wie kam es also da hin? Mein Herz pocht laut und wild in meiner Brust. Ich zögere, meine Beine wollen mich nicht zum Schreibtisch tragen, ganz so als würde sie eine unsichtbare Barriere auf dem Boden abhalten. Wohl eher eine Blockade in meinem Kopf. Ein Hindernis aus Angst geformt. Das Vibrieren und die annährend kreisförmigen unbeholfenen Bewegungen des Apparates vor mir lassen Galle in mir aufsteigen. Lässt meine Beine sich in Zeitlupe bewegen. Ich gehe dran. Ich erwarte die künstlich verzerrte Stimme von vorhin und muss mich an der Tischkante festhalten, als ich Trudes Stimme erkenne. „Papa…Papa bist du das?“ Sie schnieft ein paar Mal und ihre Stimme ist leise, kaum mehr ein heißeres Flüstern. „D…der…der Mann hier meint wenn ich mache was er will, dann kann ich wieder nach Hause…“ Ein Beben geht durch meinen Körper und bemühe mich ihret Willen um eine möglichst feste Stimme „ Hey Zwerg, hier ist Papa. Geht es dir gut? Weißt du wo du bist?“ Stille. Unerträgliche Stille. Weiße Punkte beginnen vor meinen Augen zu tanzen. „Trude?“ Ein Rascheln auf der anderen Seite der Leitung. „ Wie gut, dass ich dich erwische…“ Es ist vielleicht nicht die beste Idee meines Lebens, doch ich unterbreche den Unbekannten mit lauter etwas zittriger Stimme „Wer sind Sie verdammt nochmal und was wollen sie von mir Was haben sie mit meiner Tochter gemacht? Lassen sie meine Familie aus dem Spiel. Elendiger Mistkerl!“ Ein heißeres Lachen. „Johannes, Johannes ich bin maßlos enttäuscht. Dabei waren wir doch mal so gute Freunde. Du wirst noch früh genug erfahren wer ich bin. Ich orte dein Handy. Du hast eine halbe Stunde. Komm dorthin wo für mich alles angefangen und für dich aufgehört hat. Trude wird es bis dahin blenden gehen. Sie hat übrigens die gleichen Augen wie du. Hübsches Ding. Und vergiss den Backofen nicht. Wäre doch schade wenn die leckere Pizza verbrennt oder etwas noch viel schlimmeres passiert.“ Das Gespräch war beendet. Ich wanke einen Moment, meine Gedanken wirbeln wie in einem Strudel gefangen und ich habe das Gefühl tief zu fallen. Die Härchen an meinem Körper stellen sich auf, ein Schauder läuft mir über den Rücken. Meine Instinkte waren mich bevor ich überhaupt die merkwürdige neue Situation bemerke. Versuche sie zu begreifen. Trudes Lachen. Ganz eindeutig Trudes Lachen. Schneller als mich jemals meine Beine getragen haben, eile ich durch den Hausflur, direkt auf das Geräusch zu. Freude steigt in mir auf. Eine Woge der Erleichterung, die mich innerlich zu erdrücken scheint. Leer. Vor mir das leere Wohnzimmer. Weit und breit keine Spur von meiner Tochter. Kälte breitet sich in mir aus wie schwarze zähe Tinte. Der Fernseher. Der Fernseher ist an und zeigt Kim und Trude. Lachend in der Pizzeria zwei Querstraßen weiter. Erst jetzt bemerke ich das Datum. Nur drei Tage alt. Ein Bild von Trude, mit Resten der Tomatensoße im Gesicht, flackert vor meinem inneren Auge auf. An diesem Tag hatte wie Trude abends versprochen, dass wir zusammen zuhause Pizza essen würden. Wir alle gemeinsam. Da ich an dem Tag nicht mitkommen konnte. Er hat sie beobachtet. Er ist nicht hinter mir her sondern hinter ihnen…

Kühle Nachtluft zerzaust mein Haar, als ich vor Anspannung zitternd neben der Fußgängerampel an der Kreuzung stehe und meinen Blick von den Bahngleisen, über die schwimmende Müllhalte, zur Bundestraße gleiten lasse. Schritte nähern sich. Ich drehe den Kopf. Ein Mann mit breiten Schultern bleibt vor mir stehen. Das Gesicht unter der Kapuze einer schwarzen Sweatjacke verborgen. „Wo ist meine Tochter?“ Der vermummte Mann lachte heißer. „Ihr geht es gut. Ich habe sie vor dem Hallenbad wieder springen gelassen. Dein Weib hat sie dort gefunden. Ich habe ihr über deinen Messenger eine Nachricht zukommen lassen. Macht dir mal nicht in die Hose.“ Die Gewissheit lässt sich wie ein schweres Gewicht auf meinen Schultern nieder. Vor mir steht Greg. Er war in meinem alten Leben mein bester Freund. Als ich damals neu auf die Schule kam, nachdem meine Eltern beschlossen hatten, dass uns ein Umzug helfen würde, war er der einzige, der mich nicht wie ein Freak behandelt hatte. Unsere Freundschaft war auch noch nach unserem Abschluss innig. Wir gingen jeden Mittwoch ins Handballtraining, gingen des Öfteren etwas trinken und erzählten uns alles. Beste Freunde eben. Er kommt einen Schritt auf mich zu. Mir fällt ein Foto seinen einen Hand auf. Es flattert in der kühlen Nachtluft. „Weißt du was das ist? Weißt du was ich hier in meiner Hand halte?“ Er schreit, seine Stimme ist kurz davor sich zu überschlagen. Er fuchtelt mit dem Foto dicht vor meinem Gesicht herum. Viel mehr als mehrere Grautöne kann ich nicht erkennen. Er steht nun so nah vor mir, dass ich seinen warmen Atem auf meiner Wange spüren kann. Ich möchte zurück weichen, doch ohne es bemerkt zu habe, stehe ich bereits mit dem Rücken dicht an das Brückengeländer gedrückt. Ich reagiere nicht. Starre nur in seine grauen Augen. Sie waren einfach faszinierend. Einzigartig. Als junger Mann hatte ich ihn so sehr dafür beneidet. Ich konnte mit den schwarzen Käferaugen nicht mithalten. Greg, hielt den kleinen Fotoauszug nun, mehr oder weniger ruhig, in etwas größeren Abstand mir hin. Er zittert vor Wut. Ich kneife die Augen zusammen. Ein Ultraschallbild. „Greg, hör mir zu das damals war ein Unfall…“ Grob packt er mich am Kragen meines Mantels „Ein Unfall sagst du… du wagst es einen Unfall zu nennen? Du hast meine Verlobte und mein ungeborenes Kind umgebracht! Du hast sie in den Wahnsinn getrieben und das nennst du einen Unfall?! Du bist ein Unfall der Natur. Du perverses Arschloch. Fandst es wohl geil Melanie immer und immer wieder unter den Rock zu gaffen. Hast dich daran aufgegeilt während du ihr nach und nach die Würde genommen hast. Sowas geilt dich richtig auf, nicht wahr? Du hast sie umgebracht! Das weißt du genauso gut wie ich. Ich habe es damals nur noch nicht verstanden…“ Sein Griff verstärkt sich. Ich wage es nicht zu atmen. Ich krampfe mich zusammen, weigere mich die Erinnerungen, diese schrecklichen Erinnerungen zuzulassen. „ Nach Melanies Tod war es so als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen weg gerissen. Ich befand mich nur noch im Dauerfall. Meine Freunde, ja meine richtigen Freunde, baten mich mir Hilfe zu suchen. Das tat ich auch. Irgendwann war ich soweit ihre Sachen in Kartons zu räumen. Ich habe ihre Tagebücher gefunden und soll ich dir was sagen…sie gingen lange zurück. Sehr lange zurück. Ich dachte es würde mir gut tun, mich zu erinnern, ich dachte es würde mir helfen. Ich verrate dir mal was: Mir wurde irgendwann etwas klar. Ich gebe zu es hat einige Zeit gedauert bis ich eins und eins richtig zusammen zählen konnte. Dein plötzliches Aufblühen damals, ich dachte wirklich es würde an deinem neuen Job liegen. Wie naiv ich damals doch war. Das mysteriöse Verschwinden, des Johannes Winter, meinem, wie ich damals noch annahm, besten Freunds. Du weißt ich war schon immer ziemlich begabt was Technik aller Art angeht. Mein Onkel hat eine Sicherheitsfirma und ich begann nebenbei dort zu arbeiten um in Maßen wieder zurück in mein Leben zu finden. Die meiste Zeit aber verbrachte ich aber damit dich zu finden. Melanie hatte sich nicht umgebracht, da war ich mir sicher. Wenn die Polizei schon nicht nach dir suchte, mir nicht glaubte, musste ich eben die ganze Sache selbst in die Hand nehmen. Doch du, ja du, warst einfach verschwunden. Weißt du wenn man nichts mehr zu verlieren hat, dann kommt man auf sehr geniale Ideen. Die letzte Spur die ich hatte führte mich zu einer Anstalt für Geistig gestörte. Der perfekte Ort für dich, wenn du mich fragst, eigentlich hättest du dort langsam vor dich hin sterben sollen.“ Er lockert den Griff und seine Hand wandert an seinen Rücken. Ich spüre etwas Hartes zwischen meinen Rippen. Ich muss gar nicht hin schauen um zu wissen was sich dort befindet. Eine Schusswaffe. „Wie hast du mich gefunden?“ Meine Stimme ist nicht viel mehr als ein heißeres Flüstern. „Interessant. Du hast eine Waffe auf der Brust, aber denkst du seist immer noch in der Position etwas sagen zu dürfen. Dabei habe ich dir doch schon so viel erzählt. Jedes Wort lässt dich perverses Schwein länger am Leben. Das mehr als du verdient hast, aber weißt du ich habe einen guten Tag. Du sollst nicht dumm sterben.“ Greg macht eine Pause, ganz so als wollte er, dass die Wirkung des Wortes „sterben“ genügend Zeit bekam, um sich in meinem Kopf entfalten zu können. Mir wird übel. Ich wage es mich nicht zu bewegen. „Also schön. Wie gesagt dort endete anscheinend das Leben von Johannes Winter. Ich spürte, dass du krankes Arschloch noch lebst. Ein ominöses Virus, ein totaler Systemausfall in der Klinik und eine manipulierte „Trefferanzeige“ später gelangte ich ohne weiteres an deine Krankenakte. „Joe Weishaupt“. Etwas Originelleres als der Nachname unseres alten Direktors ist dir auch nicht in den Sinn gekommen, oder? Auf jeden Fall war es dann nicht mehr als zu schwer dich zu finden. „Kleppmann&Söhne“. Erinnerst du dich noch an den kompletten Systemausfall vor circa zwei Wochen? Richtig, dass war ich. Ich musste mir schließlich irgendwie Zugang zu deinem Handy und Laptop verschaffen. Ein Firmenhandy also hatte ich leichtes Spiel. Die Bilder auf deinem Laptop. Ja, sicher sind die von mir. Schau mich nicht so böse an.“ Er macht schon wieder eine Pause, so als möchte er mir Zeit zum Nachdenken geben. Meine Stimme klingt erstaunlich fest „Das Handy hast du für mich in der Bahn platziert?!“ Greg, lacht wobei er den Schaft der Pistole unsanft zwischen meine Rippen bohrt „ Kluges Kerlchen. Nachdem ich Zugriff auf deine kompletten Daten hatte, erfuhr ich unter anderem deine Adresse. Um ganz sicher zu gehen, hatte ich aufgezeichneten Daten der Ordnungsdienste deines Handys überprüft. Du steigst jeden Tag am „kleinen Markt“ ein. Durch einen zuverlässigen Informanten, erfuhr ich zudem, dass du immer an der gleichen Stelle in die Bahn steigst. No risk, no fun. Es war etwas riskant, aber es hat dann doch alles so geklappt wie es sollte. Nun, jetzt habe ich langsam keine Lust mehr…außerdem wird es ganz schön kalt!“ Er nickt mit dem Kopf in Richtung Brüstung. „Hier hat sich Melanie das Leben genommen, nachdem du sie Jahre lang verfolgt hast. Heute wird dein Leben hier enden!“ Die Pistole bewegt sich. Eine stille Anforderung mich umzudrehen. Ich rühre mich nicht. „Was ist mit Kim und meiner Tochter?“ Greg verdreht die Augen und stößt einen langen Seufzer aus. „Joe du langweilst mich. Trude wird sich von ihrem Schock erholen. Ich bin kein Monster. Ich habe ihr nichts getan. Ich werde ihr den Vater nehmen. Das ist, wenn ich dich so anschaue, wirklich kein großer Verlust. Ich tue hiermit ihr und der Welt nur einen großen Gefallen. Deiner Lebensgefährtin, oder soll ich bessere Hälfte sagen, werde ich nach deinem Tod einen Abschiedsbrief zukommen lassen. In deinem Namen natürlich. Ich hatte mir erst überlegt, dich denn Abschiedsbrief selber schreiben zu lassen, doch ich werde sie genauso quälen wie du mich über Jahre hinweg leiden gelassen hast. Wieso ich dir das erzähle? Damit du mit diesem Wissen stirbst! Ich weiß gar nicht wieso ich dir so viel Gnade erweise, dass du Pisser nicht verdient. Mögest du lange in der Hölle brennen! Ich wollte dir erst deine geliebte Kim und dann deine Tochter nehmen, doch wir wissen ja beide wie du mit deiner Trauer umgehst. Du bist ein Parasit, dass man aus der Welt schafft!“ Er winkt ungeduldig mit der Pistole. Meine Beine zittern. Ich rechne damit dass sie in Kürze einfach nachgeben werden. Zum Denken bin ich nicht mehr in der Lage. Meine Gedanken kreisen. Ich gehe langsam auf die Brüstung zu, lege meine Hände auf das kalte, durch Feinstaub verdreckte, Metall. Mein Blick wandert ungehindert, wie fern gesteuert, vor mir in die Dunkelheit. Unter mir erstreckt sich eine endlos erscheinende aus Beton gegossene schwimmende Insel. Die schwimmende Müllhalde. Die Berge Altmetall schimmern im dort unten nur noch schwach ankommenden Licht der Straßenlaternen. 10m freier Fall auf harten Grund. Das würde ich nicht überleben. Es würde aber auch schnell gehen. Ich schnaube angesichts meiner Gedanken. Diesen amüsiert und verzweifelten Gedanken. Ganz so als sind sie ein letztes Aufbäumen meines Humors. Die Pistole drückt sich hart gegen meinem Rücken. „Jetzt mach schon!“ Durch das Zittern brauche ich ein paar Anläufe, bis ich erst das eine, dann das andere Bein über die Absperrung geschwungen bekomme. Ich klammere mich hinter meinem Rücken so gut wie es geht an den Metallstäben fest. Meine Gedanken schweifen ab. Ich dachte immer wenn man kurz vor dem Tod stand, würde man an seine Liebsten denken, doch meine Gedanken wandern, zum dunkelsten Moment in meinem Leben. Ich spüre die warme Sonne wieder auf meiner Haut, so wie damals, als ich hier diesen Fußgängerweg entlang eilte, Melanie hinter her. Sie trug an diesem Tag ihr Lieblingskleid. Zartgelber feiner Stoff. Kurze Ärmel. Kleine feine weiße Querstreifen. Sie liebte alles was mit Streifen verziert war. Dieses Kleid liebte sie, weil es sie an Zitronenhaine erinnert. Die harte Sohle ihrer braunen Sandalen klackern in einem schnellen Rhythmus über den Gehweg. Die eine Hand hat sie schützend auf ihren runden Bauch gelegt. Immer wieder warf sie einen Blick über ihre Schulter. Ein gehetzter Ausdruck auf ihren eisblauen Augen. Sie sah wie ein gejagtes Tier aus. Voller Furcht. Ich rannte schneller. Ich musste es ihr doch erklären. Eine Gruppe Radfahrer bremste mich aus. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit bis ich es endlich an ihnen vorbei geschafft hatte. Aufkeimendes Einsetzen traf mich in diesem Moment. Ich verstand es in diesem Moment noch nicht. Verstand auch noch nicht wieso es plötzlich so schien als hätte jemand die Welt in Stille gehüllt. Ein Aufschrei. Stille. Diese erdrückte Stille. Ich blieb stehen. Hatte für einen viel zu langen Moment vergessen was ich vor wenigen Sekunden noch hier gemacht hatte. Ich sah sie plötzlich fallen. Ein heller gelber Fleck. Feiner, in der Luft flatternder Stoff, so schnell wie ein herab stürzender Stein. Dieser Fall hatte nichts mit Anmut zu tun. Genauso wenig wie meiner. Die Luft knackt in meinen Ohren. Der Wind zerrt an meinem Mantel. Der freie Fall dreht mir den Magen um. Ein Geräusch, das ich seit diesem Moment nicht mehr vergessen konnte. Es ist das letzte an das ich denke und das letzte was ich in dieser Welt an Spuren hinter lasse.

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