NielsJohannesGuentherIm Spiegel

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Im Spiegel

 

Kurzgeschichte

 

von

 

Niels-Johannes Günther

 

 

Max schaute ihr in die blauen, tiefen Augen, die strahlten wie Opale. Ihr langes, braunes Haar war wie die Vollendung männlicher Sehnsüchte. Kaum zu glauben, dass er mit dieser Braut verheiratet war.

   „Schatz?“ Claire lächelte und streifte kurz seine Hand.

   Er kehrte zu ihr zurück, grinste entschuldigend, verspeiste weiter den Hummer in Cocktailsauce. „Die Sonne“ hatte nicht von ungefähr einen Michelin-Stern. Das Essen war köstlich, der Service ausgezeichnet, die Inneneinrichtung erinnerte an Versailles.

   Claire sah ihn verliebt an. „Kannst du glauben, dass es schon 10 Jahre sind?“

   Er schüttelte den Kopf und sein Blick wanderte von ihrem Hals über das sehr offenherzige Dekolleté, hinab an ihrem sagenumwobenen, roten Kleid. „Nein.“ Er lächelte zufrieden. Das Leben hatte es gut mit ihnen gemeint.

   Claire spürte und genoss seinen Blick. Heute Abend würden sie noch etwas tanzen, dann ein Hotelzimmer nehmen und diese Nacht zu etwas Besonderem machen. Ihre Kinder betreute ein Babysitter, der sie nicht vor morgen Mittag zurückerwartete.

   Max küsste ihr die Hand und sie schauten einander verliebt an.

   Nichts stand ihnen heute Abend im Wege.

   Claire sah aus dem Fenster. Der Regen ging in Nieseln über, die Laternen ließen die feuchten Pflastersteine glänzen. Wie waren die Jahre gut zu ihr gewesen. Ihre wunderbaren Kinder waren fünf und acht. Ihr Mann war nach all der Zeit immer noch aufmerksam, einfühlsam und in den letzten vier Jahren leidenschaftlicher als je zuvor. Wenn die Berichte über lange Vermählte zutrafen, dann nicht bei ihnen.

   Sie blickte wieder zu ihm, nahm seine Hand, lächelte. Das einzige, was ihr Glück etwas trübte, war eine seltsame Leere, die sie bei ihm ab und an spürte, die er ihr verschwieg.

   „Hast du eigentlich von deinem Bruder mal wieder etwas gehört?“

   Max starrte sie an. Diese Frage traf ihn wie ein Schlag. Er zog seine Hand zurück. Sie erschrak, fasste sich vor den Mund, verfluchte ihre Unbedachtheit.

   „Entschuldige, das war…“

   Er hob abwehrend die Hand, hatte sich schlagartig wieder gefangen. „Schon gut…“

   Seine Augen füllten sich mit einem leichten Tränenschleier. „Nichts, immer noch nichts.“

Sie tastete wieder nach seiner Hand, erreichte sie, fuhr sacht darüber.

   „Entschuldige mich kurz.“ Er verschwand in Richtung Toilette.

 

Max stand im Waschraum, betrachtete sich im Spiegel, grinste seinem Ebenbild zu.

   Und dort, auf der Ablage erblickte er es. Ein Handy, haargenau wie sein eigenes. Reflexartig fasste er ans Jackett. Seines lag noch darin. Er griff nach dem fremden Handy. Es hatte keine Sicherung. Wem es wohl gehörte? Vielleicht gaben die Bilder darauf Auskunft. Doch als er das erste Foto betrachtete, da erstarrte er: Es zeigte ihn, Max selbst!

 

Er erwachte und fühlte sich gut. Was für eine Nacht. Er hatte sich das beste Leben aufgebaut. Mit täglicher, harter Arbeit. Breit grinsend folgte er Claire ins Badezimmer. Sie hatten schließlich noch Zeit.

 

Max saß im Büro. Stierte auf das fremde Handy. Konnte keinen klaren Gedanken fassen. Jemand erlaubte sich mit ihm einen Scherz. Es konnte einfach nicht anders sein. Der Mann auf dem Foto, das war nicht er. Die Ränder unter den Augen, das etwas grauere Haar, die eingefallenen Wangenknochen. Ja, der Typ war ein Doppelgänger. Aber was wollte er? – Vermutlich Geld. Ja, einfach nur Geld. Rasch wandte sich Max wieder dem Computer zu. Das Meeting begann schon in einer halben Stunde. Verdammte Scheiße.

 

Er schritt über den Kiesweg des weiten Vorgartens, der Abend kroch bereits heran. Vor ihm erhob sich der imposante Bau ihrer Villa. Plötzlich wurde die schwere Tür des Eingangsportals aufgeschoben.

   „Papa!“, schallte es Max zweifach entgegen und ein kleiner Wuschelkopf, gefolgt von zwei wackelnden Lockenzöpfen kamen auf ihn zu gerannt. Er umarmte beide Kinder liebevoll. „Marie! – Leon!“

   Die beiden strahlten ihn an und eine kleine Hand links und eine kleine Hand rechts führten ihn ins Haus.

   Der Flur war hell erleuchtet. Alles war sauber und aufgeräumt. Auch Claire kam zu ihm und begrüßte ihn liebevoll.

   Sie setzten sich ins ausladende Esszimmer. Durchs Fensterpanorama sah Max in den hinteren Garten, ihr Anwesen reichte weiter als sein Auge wandern konnte. Zwei Bedienstete erschienen freundlich grüßend und begannen, ihnen das Abendessen zu servieren. Sie konnten sich glücklich schätzen. Sie gehörten zu den oberen Zehntausend des Landes. Nicht zuletzt wegen Claires wohlhabenden Eltern, von denen sie dieses Anwesen samt Villa vorzeitig geerbt hatten. Das Servicepersonal war da nur das Extra, das sie sich ob Max guten Verdienstes leisten konnten.

   Die beiden Eltern saßen an je einem der kurzen Tischenden, an einer der langen Seiten saßen die Kinder, ihnen gegenüber zwei der engsten Angestellten.

 

So verging der Abend wie gewöhnlich und erst als Max neben seiner bereits schlafenden Frau saß, grübelte er weiter über das Handy. Unter ihm lag im fahlen Mondlicht das Anwesen: ausgedehnte Wiesenflächen, Bäume, ein kleiner Fluss. Wer, verdammt, hatte ihm das Handy zugespielt? Wo war er? Er würde ihn zerquetschen, wenn er sich endlich zeigte.

   Es war jemand, der ihn genau kannte, so genau, dass es Max schauderte. Dieser jemand wusste offenbar, dass sie alle drei Monate, jeden ersten Freitag, in der „Sonne“ einen Tisch reserviert hatten. Ihm wurde angst und bange und er konnte die ganze Nacht kein Auge zutun.

 

Max saß im Büro, schlürfte am Kaffee, starrte in den Bildschirm. Gott sei Dank waren die Dämonen der Nacht längst fort.

   Plötzlich öffnete sich die Tür und da kam er hereingetreten, die Tür wieder behutsam hinter sich schließend.

   „Viktor!“, fuhr es ihm heraus und er hätte sich sogleich für seine mangelnde Beherrschung ohrfeigen können.

   Der Mann grinste. „Ja. Max. Ich bin wieder da. – Und wir machen jetzt einen Ausflug.“

   Max musterte sein Gegenüber. Die letzten vier Jahre hatten deutlich an ihm gezerrt. Die Augenringe. Die grauen Haare. Die gebrochene Körperhaltung. Doch immer noch ungebändigter Hass im Blick. Für einige Minuten war Max unfähig, zu sprechen. Wie kam er nur hierher? Wie hatte ihm das gelingen können?

   „Du warst das mit dem Handy!“, fuhr es ihm erneut eher unkontrolliert heraus. Er biss sich auf die Lippen.

   „Bingo!“ Viktor feixte. „Ich beobachte dich schon eine Weile!“

   Max betrachtete ihn mit abfälliger Miene. „Verschwinde!“

   „Irrtum. Du kommst jetzt mit.“

   „Irrtum. Ich lass die Security rufen.“ Er nahm den Telefonhörer ab.

   Wie der Blitz war Viktor herangeschossen, schlug ihm den Hörer wieder zurück, hielt seine Hand umfasst, die andere schnellte an den Hals, bereit, zuzudrücken.

   Ihre beiden Blicke trafen sich. Hass stand in den Augen.

   Trotz seiner Lage zuckte Max unbekümmert die Schultern, griff nach Viktors Händen, drehte sie weg und ging zwei Schritte zurück, sodass sein Angreifer durch den Schreibtisch von ihm getrennt war.

   „Du hast mich beraubt. – Jetzt hol ich es mir zurück!“, stieß Viktor giftig aus.

   Max lachte hämisch. „Du bist längst Vergangenheit.“

   Wieder erboste sich Viktor. „In meinen Wagen. Jetzt!“

   Erneut zuckte Max die Schultern. „Ruhig. Ich komm ja mit. Aber wir nehmen meinen Mercedes.“

 

Max parkte den Wagen auf dem Waldweg. Viktor stieg aus. Dort stand tatsächlich inmitten der umstehenden Bäume eine kleine Hütte. Viktor ging darauf zu und Max gab Gas. Hier und jetzt würde er es beenden.

   Durch die rasche Beschleunigung drehten die Reifen im schlammigen Untergrund. Dies alarmierte Viktor, der sich gerade noch rechtzeitig umdrehte und geistesgegenwärtig auf die Motorhaube springen konnte. Er verlor nicht einmal das Gleichgewicht.

   Max wollte zurücksetzen, wieder drehten die Reifen durch. Er hatte sich verrechnet und konnte nur zusehen, wie Viktor pfeilschnell seitlich absprang, die Fahrertür aufriss und mit seinen Fäusten auf ihn einhämmerte.

   Woher nahm er diese Kraft? – Die Jahre hatten ihm offenbar nichts an Stärke genommen. Schwärze empfing Max.

 

Als er die Augen wieder öffnete, lag er im Zwielicht der Hütte. Seine Arme und Beine waren mit dünnen Seilen gefesselt, in Metallösen in Wand und Boden verankert.

   „Ah, er kommt wieder zu sich!“, rief Viktor triumphierend. „Gut, dass du noch ein wenig lebst!“

   Max setzte sich benommen auf und blickte ihn zornig an. Eine Spur Angst gesellte sich zu ihm. „Was soll das?“

Viktor beugte sich etwas zu ihm herab, tätschelte ihm die Wange, erneut grinsend. „Vier lange Jahre hast du mir eingebrockt. Jedes einzelne werde ich dir zurückzahlen!“

   Max stand wackelig auf und ging so weit vor, wie es seine Fesseln zuließen. Nur wenige Zentimeter trennten ihn von Viktor.

   „Was hast du vor?“, fragte er leicht zitternd.

   In diesem Moment riss Viktor ihm mit einem Ruck das Hemd auf, fuhr langsam über Max Haut. „Ach, Brüderchen, du wirst hierbleiben und ich werde deinen Willen brechen.“

   Max sah ihm giftig in die Augen.

   „Ich bin hier!“ Viktor breitete die Arme aus. „Und jetzt kümmere ich mich um Claire!“

   Max rüttelte an seinen Fesseln.

   Viktor grinste in Vorfreude. „Keine Sorge. Spar dir deine Kräfte. Ich werde nur mit ihr schlafen.“

 

Seine Lippen gingen über ihren Körper. Sie hatte die Augen geschlossen und begann leise zu seufzen. Oh, in all den Jahren hatte er sie noch nie so berührt.

   „Geliebter“, raunte Claire, ergriff seine Arme. „Ich will dich spüren!“ Ihre Lippen fanden sich.

   Sie hatte sich kein bisschen verändert.

   Er schloss selig die Augen und wähnte sich im Himmel.

 

Pfeifend stieg er aus dem Mercedes, schritt zur Hütte. Das Leben war großartig! Er öffnete die Holztür und ging ins Halbdunkel.

   Ein Ellenbogen stach ihm in die Schläfe, ein Knie malträtierte seinen Oberschenkel. Er ging zu Boden. Max grinste ihn an.

   „Hallo, Bruder.“

Viktor hob abwehrend die Hände. „Ok, ok. – Vielleicht können wir das doch wie vernünftige Menschen klären!“

   Er rappelte sich auf und ging an die Rückwand der Hütte. Max stand an der anderen nahe der Tür, feixend. „Ich höre.“

   Viktor zögerte kurz, grinste. Er war wieder voll da. „Es ist kein Platz für uns beide.“

   „Sehe ich genauso.“

   „Wir können uns nicht ein Leben teilen.“

   Erneut nickte Max. „Deshalb geh zurück, wo du herkamst!“

   Viktor kam einen Schritt auf ihn zu, schluckte in Erinnerung, plötzlich zeigten sich in seinem Gesicht sanftere Züge. Tränen traten ihm völlig unvermittelt in die Augen. Damit hatte er nicht gerechnet. Und plötzlich fragte er seinen Bruder: „Weißt du, wie es in den Minen in Brasilien zugeht? Das ist ein Sklavenlager, in das du mich da verkauft hast!“

   Max begegnete seinem Blick völlig gleichgültig. „Ich weiß, das war ja der Sinn der Sache.“

   „Wenn wir aus dem Lager fliehen wollten, haben sie uns zurückgeknüppelt! Sie haben uns schuften lassen, ohne Lohn zehn Stunden am Tag!“

   Max betrachtete ihn weiter teilnahmslos. Sie glichen wie ein Ei dem anderen. Nur die Ringe unter Viktors Augen, die etwas graueren Haare, die leicht eingefallenen Wangenknochen unterschieden sie. Die harte Arbeit in der Miene hatte ihn gezeichnet.

   Viktor kam einen weiteren Schritt auf ihn zu.

   „Wie konntest du mir, deinem Zwillingsbruder, so etwas antun?“

   Max schnaubte verächtlich durch die Nase. „Oh, mir kommen gleich die Tränen! – Was sind schon vier Jahre im Vergleich zu einem ganzen Leben, das ich unter dir litt?“

   „Wie bitte?“ Viktor schnappte nach Luft. „Nach allem, was ich für dich getan habe? – Als mein kleines Mäxlein damals am Boden war… Ich hab es versorgt!“

 

Er stand auf der Türschwelle, blickte ehrfürchtig auf das hohe Portal, läutete. Neben ihm lagen zwei Koffer, alles, was er noch besaß. Viktor öffnete, strahlte ihn fröhlich an. „Max! Komm doch herein!“

   Dieses feixe Grinsen konnte er sich sparen. Ja, er war ganz oben, er ganz unten. Das musste er ihm nicht auch noch unter die Nase reiben.

   30 Jahre Demütigung.

   Er sah sich in dem riesigen Wohnzimmer um, es war allein schon so groß wie seine frühere Wohnung. Claire umarmte ihn strahlend, zeigte ihm stolz ihren Babybauch.

   Sie setzten sich alle drei an den Esstisch, seine Frau schöpfte ihnen aus. Sie war schön wie eh und je. Das braune Haar fiel ihr auf die Schulter. Die Augen leuchteten wie Sterne, die der Himmel für sie verloren hatte.

   Doch all das gehörte Viktor und nicht Max. Alles, was Viktor seit Jahren anfasste, gelang, alles, was Max begann, endete in einer Katastrophe.

   Als sie dort saßen und aßen, zwei Brüder und eine Frau, da hatte Claire die beiden betrachtet und überlegt. Sie waren so exakt gleich: Ihre Körperhaltung. Ihr Geruch. Ihre Stimme, ihre Gestik, ihre Mimik. Es fiel ihr tatsächlich schwer zu sagen, wer von ihnen beiden eigentlich ihr Mann war.

 

„Bullshit!“ unterbrach Viktor seinen Bruder. Sie standen sich in der Hütte dicht gegenüber. Seine Fäuste waren geballt.

   Max blickte ihm abfällig ins Gesicht. Sein müdes Spiegelbild behielt die starre Miene. „Oh, Bruder. Du hast ja keine Ahnung, 38 Jahre und du hast keine Ahnung!“

   Viktor schaute verdutzt zu ihm.

   „Vier Jahre lebte ich unter deinem Dach, sah nach deinen Kindern, mähte den Rasen. Geduldig wie ein Diener!“

   Viktor schüttelte den Kopf. „Ich zahlte dir dafür ein höheres Gehalt, als du mit der Schauspielerei je verdient hättest!“

   Viktors Kiefer begannen zornig zu mahlen. Max betrachtete ihn voll Abscheu.

   „Du hast es doch nur genossen, mich am Boden zu sehen, gib es zu!“

   „Nein!“ Viktor griff versöhnend nach seiner Hand. Max schüttelte sie sogleich fort, ging in der Hütte etwas auf und ab.

   „Doch eigentlich sollte ich dir danken“, fing er dann an, „in der Zeit, die ich bei dir lebte, hatte ich Gelegenheit, dich zu studieren und genau zu kopieren…“

   Viktor sah ihn fragend an.

   „In einer Nacht, noch als ich bei dir wohnte, machte ich die Probe aufs Exempel.“

 

Er stand mit einem Trolley vor der Tür. Der Vorgarten lag im Dunkel. Es musste schon nach 22 Uhr sein. Nur im oberen Schlafzimmer brannte noch Licht. Er strich sich zufrieden über den neuen, bekannten Anzug.

   Leise schritt er die Holztreppe hinauf.

   Da lag sie, auf dem Bett. Ihr langes Haar über den Kissen ausgebreitet.

   Claire sah vom Buch auf, erfreut und überrascht. „Du bist schon zurück?“

   „Ja, Baby!“ Er warf das Jackett fort, knüpfte sich sogleich das Hemd auf. Sie strich sich ein wenig übers Gesicht. Ihr Negligé raubte ihm den Verstand. Er kam aufs Bett, näherte sich ihr verstohlen. Sie blickte verführerisch lächelnd.

 

„Du Schwein!“, brach es aus Viktor heraus. Er starrte Max fassungslos an. „Während du bei uns gewohnt hast!“

   Er verstummte, mehr brachte er nicht heraus.

   Max schaute überlegen zu ihm. Auf diesen Moment hatte er so lange gewartet! Oh, und wie er ihn genoss! Das Gefühl der Dominanz war noch größer als ersehnt.

   „Ja, in der Nacht habe ich sie gefickt!“, rief Max dann, um diesen Moment noch auszudehnen. „Und sie hat geglaubt, ich wäre du!“

   Viktor taumelte, ging zurück, lehnte sich an die Holzwand.

   „Ich hatte mir deinen Anzug nachgemacht, dein Parfüm aufgelegt, deine Frisur kopiert, deinen Gang, deine Sprechweise. Während du nichtsahnend auf Geschäftsreise warst!“

   Viktor musste sich setzen. Oh, wie Max das genoss!

   „Das war meine Generalprobe, ob Claire es mir abkaufen würde. Als es gutging, konnte ich dich in der Miene entsorgen.“

   Diese Worte stachen Viktor ins Herz. Die Miene. Das war Benzin in seinem Blut. Vier Jahre in der Miene, bis jetzt. Die Erinnerung, die ihn stählte, die ihn zeichnete, brachte ihn wieder auf die Füße. Langsam schritt er auf Max zu.

   „Du…“, begann er. „Du hast mir alles genommen!“ Seine Faust brach auf Max nieder, so unvermittelt, dass dieser sofort zu Boden ging. „Vier Jahre hast du mein Leben gelebt. Das endet hier und jetzt!“

   Wieder ging eine Faust auf Max herab, dieser hob schützend beide Arme an den Kopf, eine weitere, dann trommelten Viktors Fäuste nur so auf ihn ein. Max versuchte vergeblich, sich zu erheben. Scheiße, so hatte er sich das nicht vorgestellt. Die Zeit in der Miene hatte seinen Bruder vielleicht ausgelaugt. Doch sein gestiegener Hass kompensierte das. Kurz hielten die Schläge inne. Diesen Moment nutzte Max und setzte sich auf.

   „Willst du deinen eigenen Bruder zu Tode prügeln?“

   Viktor stand dicht über ihm, sah auf ihn herab, wartend, um sogleich weiter zuzuschlagen. Was war nur aus ihm geworden? Bereit, seinen eigenen Bruder zu töten. Hatten sie ihm im Lager doch alles genommen, seine ganze Menschlichkeit? Eine Träne trat ihm ins Auge. Wenn er das fortsetzte, hatten sie tatsächlich gewonnen. Er war kein Mensch mehr.

   Langsam kniete er sich zu Max hinunter, fasste an dessen blutende Kopfwunde.

   „Verzeih mir, Max, verzeih!“ Er half ihm hoch.

   „Geht schon“, entgegnete dieser und als er auf den Beinen war: „Ich kann mehr einstecken, als du denkst!“

   Er stand ihm jetzt wieder aufrecht gegenüber und auf einmal sausten Max Fäuste auf Viktor nieder. So urplötzlich und heftig, dass dieser in die Knie sank. Ohne Unterlass hämmerte es auf seinen Kopf, bis es schwarz um ihn wurde.

 

Viktor erwachte. Er lag in der Hütte, gefesselt an Händen und Füßen. Er hatte ihn unterschätzt, so maßlos unterschätzt. Langsam setzte er sich auf. Sein Kopf dröhnte. Eine Wunde an der Stirn hatte bereits eine Kruste gebildet. Wieviel Zeit wohl verstrichen war? Die Hütte lag im selben Halbdunkel wie zuvor. Eine Minenbaracke im Regenwald. Er hustete, der Staub brannte ihm in den Lungen. Langsam erhob er sich. Seine Fesseln reichten bis zum Wasserkanister, den er hier deponiert hatte. Zittrig nahm er einen Schluck daraus, fühlte, wie er wieder atmen konnte.

   Viel zu sehr hatte er seinem eigenen Hass vertraut und nicht damit gerechnet, dass im entscheidenden Moment Mitgefühl, ja Barmherzigkeit in ihm aufflackern könnte. Sein Blick fiel erneut auf die Fesseln, so festgezurrt, dass ihm das Blut staute.

   Und er hatte Max gänzlich falsch beurteilt. Dieser besaß keine Reue, kein Gewissen, vielleicht noch nie.

   Seufzend setzte er sich wieder. Er musste hier raus, die Fesseln lösen. Und dann würde er Hilfe brauchen, von ein paar alten Bekannten. Langsam zuckte ein Grinsen über sein Gesicht.

 

Wie war das Leben doch gut! Glücklich trat Max aus dem Restaurant. Die Sonne schien ihm warm ins Gesicht. Kein einziges Wölkchen am Himmel. Er beschloss, die Mittagspause etwas zu verlängern und ging über den Weg eines Grünstreifens, der zu einem Fluss führte. Hier ließ er sich auf einer Parkbank nieder und schaute zufrieden ins Wasser.

   Er musste nachdenken. Die Hütte war natürlich keine Dauerlösung. Man musste es ein für alle Mal erledigen. Viel zu sehr hatte er sich an dieses Leben gewöhnt. Doch war es überhaupt sein Leben?

   Und abermals stieg in ihm diese Leere auf, die er seit Jahren nicht mehr gefühlt hatte, diese Leere, die es zu betäuben, anzufüllen galt. Wer war er? Was war noch seins? Hatte er jemals ein eigenes Leben gelebt? Oder war er nur ein unbedeutender Schatten, der so gar nichts eigenes besaß?

   „Nein!“ Zornig warf er einen Stein in den Fluss. Er hatte eine Frau und zwei Kinder. Das war nun sein Leben. Seit vier Jahren hatte er ein Leben! Einen Beruf. Ein Haus. Angestellte. Nur eines gab es dafür zu tun: Viktor war der Schatten, den er loswerden musste.

 

Er ging über das Firmengelände. Die Nacht war bereits hereingebrochen, so sehr hatte er sich in die Arbeit vertieft. Bei seinem Mercedes angekommen, öffnete Max gedankenverloren die Tür und setzte sich hinein. Als er gerade losfahren wollte, spürte er etwas hinter sich. Jetzt war es soweit. Zwei Gestalten erhoben sich vom Rücksitz.

   Zwei Männerhände packten seinen Hals, hinderten ihn am Aufstehen. Zwei andere rammten eine Spritze in den Oberschenkel. Nacht empfing ihn.

 

Mühsam öffnete er die schweren Augenlider. Sein Blick wanderte über den weißen Sandstrand. Davor lag weit und ruhig das Meer, das heranrollte und sich wieder zurückzog. Leicht und unablässig. Langsam setzte er sich auf. Das Ganze schien wie ein Traum. Doch Max war wach.

   Zu beiden Seiten zog sich der Strand in die Ferne. Menschenleer.

   Hinter ihm erhoben sich ein paar Palmen und es begann sattes Grün. Idylle.

   Später würde Max herausfinden, was für ein Plätzchen sein Bruder da für ihn ausgesucht hatte: Eine sehr abgelegene Insel, mit genug essbaren Früchten und sogar Süßwasser. Und Einheimischen, die ihn nicht verstanden. Es hätte schlimmer sein können.

 

Viktor setzte den Mercedes auf den Kiesvorplatz, blieb mitten darauf stehen. Es brach allmählich die Nacht herein, die kleinen Gartenleuchten brannten bereits.

   Er stieg aus und strich über Max Anzug, der ihm wie angegossen passte.

   Langsam schritt er über den Weg und dann die Stufen zum Portal hinauf. Die Villa erhob sich über ihm. So gigantisch war sie ihm noch nie vorgekommen.

   Sacht öffnete sich die Tür.

   Claire schob sich in den Eingang und lächelte. Sie trug schon ihren Pyjama.

   Viktor kam zu ihr auf die Türschwelle, betrachtete lange ihr Gesicht.

   „Du kommst spät!“, wisperte sie.

   Er sah ihr still in die tiefen Augen. Wie hatte er sie vermisst! „Ich weiß.“

   Seine Hand fuhr ihr zärtlich über die Wange, sodass sie sinnlich die Augen schloss.

   Er küsste sie sanft auf den Mund. Und Claire erwiderte den Kuss, schlug die Augen auf, zog ihn überschwänglich zu sich.

   „Oh, Schatz, ich liebe dich!“

   Viktor strich ihr verloren durchs Haar.

   „Ich bin zuhause. Ja, ich bin zuhause.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

One thought on “Im Spiegel

  1. Hallo Niels-Johannes,

    vielen Dank für deine Geschichte. Deine Idee mit den Zwillingen, die vollkommen unbemerkt ihr Leben tauschen, finde ich sehr interessant. Vielleicht könntest du die “Wiedersehens-Szene” in der Max zum ersten mal auf Viktor trifft noch ausführlicher beschreiben (in den meisten anderen Szenen kommt die Atmosphäre zwischen den Personen nämlich sehr gut rüber).

    Da lasse ich dir gerne ein Like da.

    Grüße,
    Simone (“Kaum gekannt”)

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