Angelina M HagenauIm strömenden Regen

Lachend verabschiedete sich Sarah von ihrer letzen Patientin für heute.

War das wieder ein anstrengender Tag.

In Eile, nicht zu spät zu ihrer wöchentlichen Yogastunde zu kommen, hastete sie schnell aus ihrer Praxis in Berlin Mitte Richtung U-Bahn-Station, gerade rechtzeitig, um in den kühlen Spätsommerregen hinein zu springen.

Na toll.

Als eine der renommiertesten Psychologinnen Deutschlands glich Sarah mit ihrem zerzaustem Haar sowie ihrer zierlichen Figur eher einer gestörten Jugendlichen, die dringend Hilfe benötigte, als einer Psychologin, die dieses Mädchen aufsuchen würde.

Nachdem sie in jungen Jahren mehrmals versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, aufgrund nie endender Hänseleien ihrer Mitschüler, sah sie in ihr die Verpflichtung, anderen Menschen mit ähnlichen Problemen zu helfen, um die Sorgen der Welt jeden Tag etwas schrumpfen lassen zu können.

Um noch einzelne Patientenakten durchzugehen, setzte sie sich in der Bahn auf den einzig freien Sitzplatz neben einen jungen Proleten in Adidas Sportkleidung, der wohl nicht ganz davon begeistert war, die Reihe nicht mehr für sich zu haben.

Kramend durchsuchte sie ihre Tasche nach einem Kugelschreiber, da entdecke sie im seitlichen Fach einen kleinen Gegenstand, der sich hinter mehreren Notizblättern versteckte.

Was ist denn das?

Sieht aus wie ein…ja genau, ein Handy!

Verblüfft kontrollierte sie ihre Jackentaschen, für den Fall, ihr eigenes sei in die Tasche hineingefallen, bewahrte sie ihr Smartphone doch eigentlich immer an ihrem Körper auf, zum Schutz vor Taschendieben. Und tatsächlich, ihr Handy befand sich noch an Ort und Stelle.

Hmm…

Mit der Absicht, einem möglichen Irrtum auf den Grund zu gehen, griff sie nach dem, ihr unbekannten Smartphone in ihrer Tasche, als sei es ein ekliges Insekt, schließlich nahm sie es ganz in die Hand. Zu ihrem Erstaunen entsperrte es sich automatisch und leitete sie sofort auf ein Video weiter, welches ihr Leben für immer zerstören sollte.

Neugierig klickte Sarah auf die Abspieltaste, das Video begann.

Sämtliches Blut in ihren Adern gefror, als sie sich selbst in ihrem Besprechungszimmer ihrer Praxis wiedererkannte, vertieft in ein Gespräch mit einem ihr unbekannten jungen, offenbar magersüchtigem Mädchen, dem sie rät, sich das Leben zu nehmen.

Was zur Hölle?

Ihre Außenwelt nahm sie schon gar nicht mehr war, ihre Konzentration galt nur noch dem absurden Inhalt des kurzen Videoclips, da klingelte plötzlich ihr Telefon.

 

„Hallo? Marc? Was zum Teufel willst du?“

„Vielen Dank, ich freue mich auch dich zu sprechen.“, erwiderte er sarkastisch.

Marc, ihr bester Freund schon seit Schulzeiten, schien sich immer die besten Zeiten auszusuchen, um sie mit seinem nervtötenden Gelaber zu stören.

Geistesabwesend schüttelte sie den Kopf. „Lass den Blödsinn. Hör zu, gerade ist wirklich ungünstig, irgendjemand scheint mich hier mächtig reinlegen zu wollen.“

„Bitte? Wovon redest du da bitte, ich wollte dir nur kurz erzählen, dass deine Schwester sich mal wieder bei mir gemeldet und nach dir gefragt hat.“

Während ihrer mehrfachen Suizidversuche hatte ihre ältere Schwester, Sarah und die Familie, ohne sich je verabschiedet zu haben, einfach so verlassen. Ohne ein Wort.

Seit ein paar Wochen versuchte sie schon etliche Male bei ihr anzurufen, doch das war Sarah egal, ihre Schwester war für sie in dem Moment gestorben, in dem Isabella sie in den schwierigsten Zeiten im Stich gelassen hatte.

„Nein Marc, mir egal!“, unterbrach sie ihn scharf. Nachdem sie sich dazu entschlossen hatte, die Yogastunde für heute ausfallen zu lassen und somit schon einige Haltestellen vor ihrer Zielstation ausstieg, erzählte sie ihm ihre makabreren Entdeckungen der letzten paar Minuten, die ihr wie Stunden vorkamen.

„Du spinnst! Das glaubst du doch wohl selbst nicht.“ erwiderte er in einem Ton, der sie für dumm verkaufen sollte.

„Mensch, nein, tue ich nicht. Irgendjemand versucht mir anzuhängen, dass ich einem Mädchen, das ich verdammt nochmal noch nie in meinem Leben gesehen habe, dazu geraten habe, sie solle sich doch lieber umbringen, statt weiterhin zu meinen Therapiestunden zu erscheinen.“

War ja klar, dass der Idiot mir nicht glaubt.

Sarah wusste weder wo sie war noch wo sie hinlief, geschweige denn, was sie jetzt tun sollte, doch sie wollte nur noch raus. Raus in den strömenden Regen.

Ach, da war ja was.

Da fiel ihr ein: „Du hast doch diesen einen Freund, der mal für die Polizei gearbeitet hat, Ronald oder so? Vielleicht kann er was über eine gewisse Giulia Giordano herausfinden?“
„Die, die sich auf deine Anweisungen hin in den Tod stürzen sollte?“

Dass er ihre Bitte lächerlich fand, ließ sich nicht verbergen, doch eine Antwort sollte er nicht mehr erfahren, als plötzlich ein schrilles Klingeln aus ihrer Tasche ihre Gedankengänge zerstörte.

Auf dem fremden Smartphone versuchte gerade jemand, sie anzurufen.

 

 

 

Ihre kurze Schockstarre überwunden, nahm sie nach dem vierten Klingeln ängstlich ab.

Was habe ich denn schon für eine Wahl?

„Hallo?“, sprach sie verunsichert in den Hörer.

„Ich nehme an, Sie haben es schon gesehen?“, meldete sich ein dunkler Stimmenverzerrer zurück.

Sarahs Angst wich immer größer werdender Wut, fast schreiend antwortete sie: „Was um alles in der Welt wird hier für ein krankes Spiel gespielt? Wer zum Teufel sind Sie und was wollen Sie von mir?“ Sarah schwankte nun vor Aufregung. Kalte Schweißperlen liefen ihr den steifen Nacken hinunter, bis sie tropfend in ihre Bluse mündeten.

Angstschweiß.

Nun fand sie sich an einer belebten Kreuzung wieder. Autos fuhren rücksichtlos durch die Straßen, während sie um die Wette hupten, doch gefangen in ihrer schwindelerregenden Verwirrung, blendete sie alle Geräusche um sie herum aus.

„Was ich will? Das können Sie sich noch nicht einmal denken?“ Der Unbekannte lachte höhnisch auf, ließ sich aber nicht unterbrechen und wurde wieder ernst. „Sie sollen dafür bezahlen, was sie ihr angetan haben, Sie haben sie getötet! Sie einzig und allein tragen die Schuld an ihrem Tod!“

Das kann doch alles nicht wahr sein. Wo bin ich da nur reingeraten? Wovon faselt der?

Was der Unbekannte als nächstes forderte, traf Sarah wie ein Hammer mitten ins Gesicht. „Kommen Sie in drei Stunden zur S-Bahn-Station Westhafen. Kein Wort zu irgendeiner Menschenseele auf dieser Welt. Ich beobachte jeden Ihrer Schritte.“

Das war’s. Er oder sie hatte aufgelegt.

Sarah verstand die Welt nicht mehr, alles um sie herum verschwamm, sie wollte nur noch weg, weg von diesem Grauen, das ihre Gedanken in den Wahnsinn trieb, ihr Herz wie nie zuvor pulsieren ließ. Eine unendlich mächtige Kraft zog sie in die Dunkelheit, in ein tiefes schwarzes Loch, bestehend aus Angst und Schmerz, in dem jegliche Hoffnung zu erlöschen schien.

 

 

1 Stunde später

 

 

Nebel. Überall nur trüber Nebel.

Graue Schleier waren das Letzte, woran Sarah sich erinnern konnte, als sie langsam aus ihrer Bewusstlosigkeit erwachte, während sie mit dröhnenden Kopfschmerzen versuchte zu erahnen, wo sie sich befand.

Was ist passiert?

Kalte Wände sowie zwei Personen in weißen Anzügen, die sie mit unscharfem Blick zu erkennen glaubte, ließen Sarah kurzzeitig denken, man hätte sie in die Klapse verschleppt, doch diese Ansicht sollte schnell widerlegt werden.

„Frau Dr. Walter? Sind sie wach? Mein Name ist Behrens, Rettungssanitäter.“ Jedes Wort betonte der schlaksige junge Mann so laut und deutlich, als spräche er mit einer Irren. „Wir befinden uns hier in einem Krankenwagen, nähe Potsdamer Platz. Man hat sie ohnmächtig vorgefunden. Passanten haben beobachtet, wie sie sich offenbar vor einen Laster stürzen wollten.“

Vor einen Laster?

„Zum Glück ist nichts passiert und der Fahrer hat Sie rechtzeitig entdeckt.“ Er hielt kurz inne, dann fuhr er besorgt fort. „Doch sie leiden unter einem massiven Schock und offensichtlich unter Suizidgedanken, weshalb wir sie dringend hierbehalten müssen.“

Suizidgedanken?

In Lichtgeschwindigkeit prallte die Wucht der Erinnerung auf sie herab, alle Geschehnisse erschienen vor ihren Augen wie Puzzleteilchen, die sie nur noch an die passende Stelle einordnen musste.

Das Video, die unbekannte Stimme, die Drohung, die zerreißende Dunkelheit.

Moment mal…

Sagte der Lauch gerade Potsdamer Platz?

Das kann nicht sein.

Die Erkenntnis, die U-Bahn hatte sie doch eigentlich viel weiter außerhalb der Innenstadt gebracht,  weckte in ihr eine neue, alles entscheidende Frage.

Panisch schreckte sie von ihrer Liege hoch. „Wie ist die Uhrzeit?“

„Kurz nach 17 Uhr, Donnerstag, der 5. September…“, antwortete Behrens Begleiterin, die sich als Frau Schmitz auswies.

Verdammt, nur noch eine Stunde, um herauszufinden, was hier vor sich geht.

Ohne zu wissen, wie sie ihre nächsten Schritte planen sollte, packte sie ihre Tasche, sprang flüchtig  aus dem Krankenwagen heraus, rempelte beinahe eine Frau mit Kinderwagen um und entschied sich, davon zu rennen.

Wohin auch immer.
„Hey, was machen sie denn da?“, hörte sie Behrens noch schwach hinterherrufen, da war sie jedoch schon in der Menschenmenge verschwunden.

Weit genug entfernt, verlangsamte sie ihren Gang, versuchte vergebens, ihre Gedanken zu sortieren, die zurzeit noch wie einzelne Fetzen in ihrem, vom Schmerz erschütterten Kopf, umherschwammen.

Das ist doch bestimmt alles nur ein schlechter Scherz.

Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie plötzlich ein leises Telefonklingeln wahrnahm, doch Sekundenbruchteile später überkam sie die Flut der Erleichterung bei der Feststellung, das Summen käme doch aus ihrer Jackentasche. Also mein eigenes Handy.

Es war Marc.

„Und, rufst du jetzt wieder an, um mich für blöd zu verkaufen?“, schrie sie aufgebracht in den Hörer.

„Sarah, verdammt! Wo hast du gesteckt? Ich habe hunderte Male versucht dich anzurufen!“, brüllte er ihr vorwurfsvoll in die Ohren.

„Wo ich war?“ Wo war ich denn? Sie hielt inne, konzentrierte sich, was ihr in Anbetracht der Umstände allerdings wenig gelang.

„Oh Gott Marc, ich weiß nicht, was hier gerade vor sich geht, ich…“

Er unterbrach sie. „Wovon redest du da bitte? Du klingst ja wie eine Cracksüchtig auf Entzug, alter.“ Er ließ den Worten ihre Wirkung verleihen, als er keine Antwort erhielt, fuhr er fort.

„Falls es dich interessiert, ich habe mich tatsächlich über Madame Giordano schlau gemacht.“

Ach, auf einmal interessiert es dich doch.

Sarah zögerte beim Überqueren der Ebertstraße Richtung Brandenburger Tor. Ihr ganzer Körper glühte wie ein riesiger Feuerball, der sich aus der Hölle verirrt hatte, dabei hatte der Regen die heißen Temperaturen der letzten Tage schon erheblich sinken lassen. Die Lippen aufeinander gepresst, verbiss sie sich Marc gegenüber einen Kommentar, sie war zu geschwächt für weitere Auseinandersetzungen, weshalb sie ihn nur dazu aufforderte, seine Informationen preiszugeben.

„Giulia Giordano, geboren am 8. Dezember 2004 in Bergamo, Italien, aufgewachsen in Hamburg.“ Seufzend hielt er inne. „Gestorben am 26. August 2019, Ursache ist Selbstmord, mögliche therapeutischen Behandlungen hingegen sind hier nicht aufgeführt. Offenbar hatte sie sich von einer Brücke auf einen einfahrenden Zug gestürzt…Oh man…“

26. August? Das war doch erst vor einer Woche!

Sarahs Gehirnzellen arbeiteten auf Hochtouren, versuchten Licht in die dunkle Kammer ihrer Verzweiflung zu bringen, da ließ eine erschütternde Erkenntnis ihren Atem stocken, ihren Puls für einen kurzen Moment aussetzen.

„Wo hat sie es getan?“, fragte sie ihn, obwohl sie die Antwort bereits kannte.

„In Moabit, Haltestelle Westhafen.“

 

 

45 Minuten später

 

 

Sarah stand an der Putlitzbrücke, blickte hinunter auf die ein- und ausfädelnden Züge, während sie auf den vorhergesagten Anruf des Unbekannten wartete.

Deswegen bin ich hier. Ich soll mich umbringen. Als Rache für Giulia.

Nachdem sie in der letzten Stunde einen Megasprint durch die Berliner Innenstadt veranstaltete, schaffte sie es gerade rechtzeitig, um pünktlich am „vereinbarten“ Treffpunkt zu erscheinen, nichts ahnend, was ihr geschah.

Fassungslos schüttelte sie den Kopf, lachend überzeugte sie sich davon, dass sie bestimmt nur das Versuchskaninchen einer Comedy Talkshow war, bei der sich gleich aus allen Ecken die Kameras offenbaren würden, doch was sie dann sah, schien sämtliche Hoffnung in ihr zu vernichten. Erst dachte sie, es seien nur Hirngespinste ihrer Verzweiflung, doch sie täuschte sich nicht, der Schwung der Erkenntnisse donnerte wie ein schweres Unwetter auf ihre, immer noch vom Schmerz überwältigte Schädeldecke, hinab.

Ich beobachte jeden Ihrer Schritte…

Die Blitze pumpten so viel Adrenalin in ihre Venen, dass sie keine Gedanken mehr über ihre zukünftigen Handlungen verschwendete, sie rannte geradewegs in Richtung des, ihr bis vor wenigen Minuten noch unbekannten Erpressers, der sie auf der anderen Seite der Brücke schon die ganze Zeit beobachtet hatte.

Wie konnte ich nur so blöd sein?

Rücksichtlos passierte sie die breite Straße der Brücke, mehrere Autos mussten ihretwegen abrupt stoppen, sodass sich ein kleine Stauung bildete.

Das Bewusstsein, enttarnt zu werden, hatte sich schlagartig in den starrenden Augen des einst fremden Anrufes widergespiegelt, bevor er ebenfalls wie von der Tarantel gestochen loslief, hinunter auf den Bahnsteig, doch Sarah nutzte ihren Vorsprung, um Frau Schmitz am Ende der Plattform  einzuholen.

„So, jetzt ist Schluss mit den Spielchen, Sie sagen mir jetzt sofort was hier abläuft!“, schrie Sarah der Rettungssanitäterin in ihr ersichtlich amüsiertes Gesicht, während sie deren Kragen grob zu packen bekam. Wie sie feststellte, hatte Frau Schmitz noch nicht einmal Zeit, sich umzuziehen, weshalb sie immer noch in ihrer weißen Krankenhausgarnitur steckte, die langen braunen Haare zu einem Zopf zusammengebunden.

„Wer ist dieses Mädchen? Wer sind Sie? Und verdammt, was zum Teufel wollen Sie von mir?“, schrie Sarah ihrem Gegenüber ins Gesicht.

Vor allem, wie konnten Sie sich unbemerkt als Sanitäterin ausgeben?

„Du weißt es nicht?“ Entgeistert glotzte die Frau ihr in die verwirrten Augen.

Mehrere Sekunden verstrichen, in denen sich die beiden Frauen schweigend gegenüber standen, bis Frau Schmitz etwas sagte, was alles verändern sollte.

„Es hat wieder angefangen, richtig? Du erinnerst dich tatsächlich nicht mehr daran…“

Alles um sie herum drehte sich, nichts schien mehr zu existieren, die Puzzleteilchen vor ihren Augen verschwammen wieder nach und nach.

Irgendetwas scheint hier gewaltig nicht zu stimmen.

„Bitte was?“

„Schon früher hast du darunter gelitten, nur… ich dachte über die Jahre hättest du dich verändert. Sonst hätte ich meine Tochter sicherlich nicht zu dir geschickt, aber offenbar lag ich falsch.“

Schon früher…?

Bemerkbar geschockt über die Erkenntnis, wer sich vor ihr befand, brachte Sarah nur ein leises Flüstern zustande. „Isabella?“

Ein leichtes, jedoch nicht freundlich gemeintes Schmunzeln verriet ihr, dass ihre Schwester unmittelbar vor ihr stand. Nach all den Jahren.

Kleine Tränen kullerten ihre Wangen hinunter. „Dann warst du das alles! Die Kamera in meinem Besprechungszimmer, der Anruf? Verdammt, was willst du denn?“

Sichtlich aufgewühlt, schrie Isabella inzwischen, ihr Gesicht wie von Wut verzerrt. „Indem ich dir meine Tochter anvertraute, hatte ich die Hoffnung, dass wir uns wiedersehen, uns versöhnen können, doch je länger Giulia bei dir war, desto verstörter wurde sie, weshalb ich dich letztendlich kontrollierte! Während ich mir die Aufnahme ansah, die letzte, war es allerdings zu spät. Sie war schon auf dem Weg in ihren Tod, den du zu verantworten hast! Oder wer auch immer da aus dir gesprochen hat! Früher nahm ich dich in Schutz, doch jetzt bist zu weit gegangen. Du musstest einfach sehen, was du angerichtet hast, also hab ich mich heute unbemerkt zu dir reingeschlichen und das Handy in deiner Tasche versteckt!“ Sie stoppte kurz. „Jeder soll sehen, wer du wirklich bist, jeder soll dein wahres Ich sehen!

Mein wahres Ich.

„Ich verstehe nicht ganz…“ Und sie verstand es wirklich nicht.

Leichter Nieselregen tropfte auf ihre beider Gesichter herab, kündigte einen bevorstehenden Schauer an, während der Wind schon spürbar heulend auffrischte. Bald würde aus den dunklen Wolken literweise Wasser herausströmen, das Berlin in eine einzige plätschernde Pfütze verwandeln sollte.

„Sarah…du leidest unter einer schweren Bewusstseinsstörung.“

 

 

1 Stunde später

 

 

Sarah lief am Nordufer entlang, beobachtete, wie die ersten Zugvögel über ihr in Schwärmen durch die abendliche Dämmerung gen Süden flogen, sorglos auf dem weiten Weg in die ferne Wärme.

Nachdem besorgte Passanten, die offensichtlich die Auseinandersetzung zwischen den beiden Schwestern mitbekamen, die Polizei verständigt hatten und diese kurz darauf eintraf, bestätigten sie nur, dass alles in Ordnung sei, doch Isabella nutzte die Gelegenheit, um schnell wieder zu verschwinden.

Zusammen mit dem Video, welches sie veröffentlichen und meine Zukunft auslöschen wird.

Sie wollte niemals Rache, nur die Wahrheit ans Licht bringen.

Die seelischen Belastungen, die sie damals ihren Mitschülern zu verdanken hatte, lösten in Sarah eine multiple Persönlichkeitsstörung aus, durch die sie schon im Kindesalter regelmäßig aus der Realität flüchtete. Ohne davon zu wissen.

Über die Jahre schien alles wie vergessen, sie wurde erfolgreich, behandelte viele Menschen mit den unterschiedlichsten psychischen Problemen, bis Isabellas Tochter auftauchte und alles veränderte.

Normalerweise therapierte Sarah Patienten mit sehr viel gravierenderen Problemen, doch in Giulia erkannte sie sich selbst wieder, erkannte ihre Qualen, ihre Hilflosigkeit, die sie damals selbst erleben musste, weshalb sie bei jeder ihrer Therapiestunde flüchtete, in eine andere Welt ihrer Selbst, an die sie sich anschließend nicht mehr erinnerte.

Mein wahres Ich wollte sie von ihren Schmerzen befreien, sie erlösen.

Der Anruf des einst Unbekannten löste bei ihr eine weitere Realitätsflucht aus, jedoch eine von extremen Schuldgefühlen geprägte Persönlichkeit, die sich selbst nicht mehr ertragen konnte.

Deswegen wollte ich mich vor den Laster stürzen.

Zu begreifen, dass sie einige Abschnitte ihres Lebens in ein anderes Ich geschlüpft ist, stellte sie sich als unmöglich vor, immer noch geschockt aufgrund der heutigen Ereignisse, vermochte sie jedoch nicht weiter darüber nachzudenken. Sie war unendlich müde.

Wie ein letzter Hoffnungsschimmer blitzte die untergehende, blutrote Sonne durch die sich auflösenden Wolken, ein winziges Licht am Horizont, das kurze Zeit später wieder verschwinden würde.

 

 

Von Angelina Hagenau

 

Instagram: angelina.hgn

 

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