JuliaIm Zeichen der Vergangenheit

Im Zeichen der Vergangenheit
Geschrieben von Julia Seibel

Donnerstag, 23:15
Wenn ein Patient Cara das erzählt hätte, was sie selbst in den letzten Stunden erlebt hatte, hätte sie ihn vermutlich als psychisch labil beschrieben. Vielleicht war sie das ja auch, sie konnte es zur Zeit noch nicht einmal mehr ausschließen, denn es schien ihr, dass alles logischer wäre, als das, was geschehen war. Sie saß in diesem Loch, aus dem sie niemals entkommen würde, dafür würde er schon sorgen, denn er wollte Rache für ihr Glück..

Donnerstag, 7:10
Es zeigt sich schon zu Beginn ihres Dienstes, dass es ein stressiger Tag für Cara werden würde. Sie hatte Frühschicht auf der kardiologischen Station eines kleinen Krankenhauses, doch das hieß nicht, dass es hier ruhiger war als in anderen Kliniken, egal welche Größe sie hatten. Sie hatte vor einer Stunde ihre Übergabe von der Nachtwache bekommen, die sich mindestens eine halbe Stunde beschwert hatte, dass die Nacht ein einziges Chaos war und sie ganz alleine da stand, weil ihre Kollegin mit einer Erkältung im Bett lag. Cara war nicht überrascht. Ende Januar gab es immer eine Welle an erkrankten Mitarbeiten und jedes Jahr hatten sie Probleme die Dienste vollständig zu besetzen. Cara lief über Station, sie war heute mit einer Hilfskraft und einer erfahrenen Krankenschwester im Dienst, weshalb sie sich keine Sorgen machte, als sie schon den zweiten Zugang angekündigt bekam. Sie war erst 3 Monate examiniert, doch sie hatte Glück in ein gutes Team gekommen zu sein. In ihren Gedanken versunken, sah sie nicht das aus Zimmer 9 ein Mann herauskam, der sie ebenfalls zu übersehen schien. Sie streifte seine Schulter, schaute auf und entschuldigte sich, doch er behielt den Kopf gesenkt und lief weiter. Sie schaute ihm kurz nach, wunderte sich jedoch nicht wer er war. Hier kamen zu fast jeder Tageszeit Angehörige, auch wenn es die Besucherzeiten eigentlich verboten, doch das interessierte die meisten Leute eher wenig. Cara schnappte sich die nächste Infusion und lief den Gang entlang, als es in Zimmer 9 klingelte. Sie entschied zuerst zu fragen, wie sie helfen könne, da sie wusste, das Frau Brilmayer etwas wackelig auf den Beinen war. Sie mochte die Patientin, auch wenn sie mit ihren 81 leicht dement war und deshalb oft vergaß, weshalb sie eigentlich die Schwestern gerufen hatte oder gar weshalb sie hier war. Sie betrat das Zimmer und die ältere Dame saß an der Bettkante. Sie lag alleine in dem Zweibettzimmer „Ach da sind sie ja, gut das sie so schnell kommen!“ freute sie sich als Cara näher kam „Wie kann ich Ihnen denn helfen?“ fragte Cara lächelnd, als die Frau ihr ein Handy entgegen hielt „Das hat der junge Mann hier eben vergessen, er war so nett und er ist eben erst zur Tür heraus, vielleicht erwischen Sie ihn noch!” beeilte sie sich zu sagen, doch Cara schüttelte den Kopf „Er ist eben von Station gegangen. War das Ihr Enkel, Fr. Brilmayer?“ Die Frau schüttelte den Kopf. „Nein, nein das war doch der Handwerker! Er hat gesagt er müsste was an der Heizung machen, weil mir doch Nachts immer so kalt ist“ Cara runzelte die Stirn. Sie wusste nicht, dass jemand einen Handwerker bestellt hatte, aber sie hatte den Vortag auch frei und ging davon aus, dass ihre Kollegin bestimmt Bescheid wusste. Sie nahm das Smartphone, dankte der alten Dame und verließ das Zimmer. Sie würde das Handy erst einmal wegschließen und später ermitteln von welcher Firma der Handwerker kam.

Donnerstag 12:30
Cara hatte das Handy in dem morgendlichen Stress schon wieder vergessen, es war wie immer viel los auf Station. Sie saß gerade am Schreibtisch, schrieb ihre Berichte in den Akten, als sie ein Klingeln aus dem Schrank hörte. Sie beeilte sich ihn aufzuschließen, doch bis sie an das Handy kam, war der Anruf weg. Sie hatte gehofft den Eigentümer so ermitteln zu können, das wäre der einfachste Weg gewesen, doch die Nummer die angerufen hatte, war nur als ‚Dein Freund’ eingespeichert. Sie wollte das Handy gerade wieder zurück legen als es mit einem Vibrieren anzeigte das eine Nachricht eingegangen war. Es war eine SMS. Cara erwischte sich dabei wie sie den kurzen Inhalt las ‚Der Pin zum Entsperren ist 6968‘. Sie schaute verwirrt auf das Display, als eine zweite Nachricht einging ‚Ich weiß, dass du das liest Cara’. Ihr lief ein Schauer über den Rücken und sie merkte wie ihr die Farbe aus dem Gesicht floss. Was sollte das? Wessen Handy war das? Und woher wusste der Unbekannte wer sie war und dass sie das Handy hatte? Cara musste sich erst einmal setzen. Was sollte sie jetzt tun? Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn. Sie hatte Angst, doch sie musste wissen was das sollte. Mit zittrigen Fingern gab sie den Code ein, den ‚Dein Freund’ ihr geschickt hatte. Tatsächlich ließ sich das Handy mit einem leisen Signalton entsperren. Es zeigte nicht viel an, keine besonderen Apps, nur die, die schon vorinstalliert waren. Sie ging auf die Kontakte. Der einzige eingespeicherte war ‚Dein Freund’. Sie ging auf den Anruf Button. Nach ein paar Sekunden ertönte die typische Ansage einer Mailbox. Es hatte erst gar nicht geklingelt, dass hieß das der Unbekannte sein Handy wahrscheinlich ausgeschaltet hatte. Sie konnte sich nicht erklären was vor sich ging. Die Nummer war ihr völlig fremd und den Mann heute morgen auf dem Flur hatte sie zwar nur flüchtig gesehen, doch auch er kam ihr nicht bekannt vor. Sie suchte das Handy weiter nach Anhaltspunkten durch und in der Bildergalerie wurde sie fündig. Das was sie sah machte ihr noch mehr Angst, als das der Unbekannte Kontakt ihren Namen kannte. Es waren nur 15 Bilder in der Galerie, doch die ließen sie das Handy zu Boden fallen lassen. Sie starrte auf den leuchtenden Bildschirm am Boden und hätte am liebsten angefangen zu weinen. Auf allen Bildern war eine junge Frau zu sehen mit braunem langen Haar, einer gut gebauten Statur und einem schmalen, von Natur aus blassen Gesicht. Ihr Gesicht. Auf allen Fotos war sie zu sehen, doch keine die man Online, auf Instagram oder Facebook finden konnte. Es waren Bilder von Cara im Fitnessstudio, Zuhause im Wohnzimmer und sogar auf der Arbeit. Cara zitterte am ganzen Körper, als sie das Handy wieder aufhob. Es waren Bilder die sie nie zuvor gesehen hatte. Sie mussten von ihr gemacht worden sein, ohne das sie es gemerkt hatte. Sie klickte einige an um sie genauer anzusehen, als ihr ein Detail auffiel, wodurch es ihr noch übler wurde. Die Bilder hatten in der rechten Ecke alle einen Zeitstempel, wie man es von Überwachungskameras kannte, doch sie hatte weder welche Zuhause, noch gab es welche hier im Krankenhaus. Sie sprang auf und rannte in den Pausenraum, wo ein paar der Bilder offensichtlich gemacht wurden. Sie suchte die Position in der die Kamera die Bilder aufgenommen haben könnte, doch sie entdeckte nichts. Kein rotes Blinken, kein schwarzen Knopf in der Ecke, nichts was auf eine Kamera hindeuten könnte. Sie schaute erneut auf die Bilder. Jemand musste sich einen schlechten Witz mit ihr erlauben, dass war die einzige logische Erklärung für das Ganze. Vielleicht eine ihrer Kolleginnen? Doch wieso sollten die Aufnahmen von ihr beim Schlafen machen? Nichts was ihr durch den Kopf ging, ergab momentan einen Sinn. Ihre Kollegin Kathrin kam herein „Cara kannst du…? Cara geht’s dir gut? Du bist ja ganz blass?“. Kathrin zog einen Stuhl heran, auf den sich Cara fallen ließ „Liebes hörst du mich, du zitterst ja am ganzen Körper, soll ich Dr. Jacob holen?“. Schnell schüttelte Cara den Kopf „Nein, Nein, mir geht’s gut, ich muss gestern bloß was falsches gegessen haben oder so..“ murmelte sie und fügte gleich dazu „..ist es okay wenn ich gehe? Der Spätdienst kommt in einer halben Stunde und…“ Kathrin unterbrach sie barsch „Natürlich gehst du jetzt und ruhst dich aus! Wir packen das schon, los los”. Geistesgegenwärtig griff Cara nach ihrer Tasche und lief Richtung Umkleide. Ihre Gedanken überschlugen sich. Ihr fiel nicht eine plausible Antwort auf die tausenden Fragen ein, die sich in ihr gesammelt hatten.

Donnerstag, 14:50
Nichts. Sie hatte alle Winkel, aus denen die Bilder gemacht worden sein könnten, kontrolliert. Nirgendwo war eine Kamera. Nicht in ihrer Wohnung oder auf dem Parkplatz in ihrer Straße. Selbst in dem Fitnessstudio, bei dem sie einmal wöchentlich trainierte, waren laut Mitarbeitern nur im Eingangsbereich Kameras angebracht, doch keine in den Umkleiden. Doch dort wurde eines der Bilder definitiv gemacht. Cara war gerade auf dem Weg zurück zu ihrem Auto, um danach zur Polizei zu fahren, als das Handy vibrierte. Sie hatte es vorsichtshalber mitgenommen und in ihre Jackentasche gesteckt. Erst überlegte sie es zu ignorieren und das ganze der Polizei zu überlassen, doch als sie im Auto saß, siegte die Neugierde. Wieder eine SMS ‚Du wirst nichts finden, niemand wird dir glauben. Ich habe ein Virus auf dem Smartphone installiert. Ein Klick und alles ist gelöscht’ Wieder begannen ihre Finger zu zittern. Was sollte sie bloß tun? Sie hatte panische Angst. Was wollte er? Sie begann eine SMS an den Unbekannten zu tippen ‚Wer bist du?‘ Es waren bloß ein paar Minuten bis das Nachrichtensymbol erneut blinkte, doch Cara kam es vor, als wären es Stunden. Sie klickte auf die neue Nachricht ‚Falsche Frage Cara. Das tut im Moment nichts zur Sache. Fahr zum Gartenpark.‘ Der Gartenpark. Woher wusste er von einer ihrer schönsten Kindheitserinnerungen? Seitdem ihr Vater vor 2 Monaten an Krebs verstorben war, hatte sie nicht mehr daran gedacht. Es war, als sie noch klein war, ihr geheimes Versteck gewesen. Ein alter Schrebergarten, der mal ihrer Oma gehört hatte. Sie fuhren am Wochenende oft hin und stellten sich vor, sie wären im Urlaub, an einem Strand, ganz weit weg. Doch woher wusste er davon? Die einzigen die den Namen kannten, waren ihre Eltern und sie. Ihre Eltern hatten sich scheiden lassen, als sie 11 war, woraufhin ihre Mutter ihre Jugend wieder aufblühen lassen wollte und nach Paris zog. Sie lebte bei ihrem Vater und seitdem dieser verstorben war, war sie alleine. Keinen Kontakt zu ihrer Mum und einen Freund hatte sie auch nicht. Für ihre Freunde hatte sie wenig Zeit, da sie oft mit Schichtwechsel zu kämpfen hatte. Während sie die Strecke zu dem kleinen Garten fuhr, wurde alles nur noch undurchsichtiger. Nichts ergab einen Sinn, jede Frage die ihr in den Kopf schwirrte, warf noch fünf neue auf. Sie musste wissen was hier gespielt wurde. Die Straße außerhalb der Stadt wurde immer schlechter, bis es mehr ein Feldweg war. Von weitem sah sie schon das vereinsamte Grundstück. Ihr Vater hatte sich immer darum gekümmert, bevor die Bestrahlungen ihn geschwächt hatten. Sie parkte an dem Holzzaun, dessen blaue Farbe schon abblätterte. Dieser Ort war eigentlich immer ein Stück Frieden und Freiheit für sie gewesen, doch zurzeit wollte sie einfach nur noch weg. Sich in ihrer Wohnung verkriechen und alles vergessen. Das Gartentor quietschte beim Öffnen und es war schwer durch das Unkraut den steinernen Weg zu sehen, der zu der kleinen Hütte führte. Sie hatten dort früher einen kleinen Sandkasten und eine Rutsche für Cara aufbewahrt. Sie versuchte durch die Fenster ins Innere zu blicken, doch es lag eine dicke Staubschicht darüber, weshalb sie nicht viel erkannte. An der Tür hing ein Schloss. Plötzlich fuhr sie zusammen und stolperte beinahe. Das Handy vibrierte erneut. Nervös kramte sie es aus der Jackentasche. Es vibrierte weiter. Es war keine SMS, sondern ein Anruf! Sie hätte das Handy beinahe fallen gelassen, schaffte es jedoch auf ‚Abnehmen‘ zu drücken und es sich ans Ohr zu halten. Ihr ganzer Körper zitterte, wahrscheinlich eine Mischung aus ihren Gefühlen und der momentanen Außentemperaturen von 3°C „H-Hallo..??“ stammelte sie. Aus dem Lautsprecher war ein lautes Atemgeräusch zu vernehmen „Wer sind sie?“ brachte sie krachend heraus. Keine Antwort. Cara wollte gerade wieder eine Frage stellen, als eine männliche Stimme nun doch antwortete „Unter dem Blumentopf rechts ist der Schlüssel.“ Die Stimme war leise, doch keineswegs unsicher, eher bedrohlich. Als sie gerade ein wenig Mut gefasst hatte, um zu Fragen was das sollte, legte der Unbekannte auf. Cara ließ das Handy sinken und ihr Blick wandte sich nach rechts. Dort stand tatsächlich ein kleiner Blumentopf aus Porzellan. Die Pflanze die er einst wohl beherbergte war schon lange verkümmert. Sie hob ihn hoch und tatsächlich, darunter befand sich ein kleiner silberner Schlüssel, der schon an mehreren Stellen zu rosten begann. Sie hob ihn auf und schloss das alte Metallschloss auf. Einen Moment schaute sie die Tür nur an, unentschlossen, ob sie überhaupt wissen wollte, was sich dahinter befand. Schließlich siegte dennoch ihre Neugier und sie öffnete sie. Auf den ersten Blick, entdeckte sie nichts besonders. Die alte Muschelschale, in der früher Sand war und die gelbe Rutsche weiter hinten, die auch schon ihre besten Jahre hinter sich hatte. Erst als sie den Raum betrat fand sie in der Muschelschale ein altes Polaroid. Es war Sepiafarben und hatte einige Knicke, dennoch erkannte sie den jungen Mann darauf. Es war ihr Vater. Er musste auf dem Foto ca. 20 gewesen sein. Er grinste in die Kamera und mit ihm ein Kleinkind. Jedoch war es nicht Cara. Sie war verwirrt, sie hatte keine Geschwister, ihre Eltern auch nicht soweit sie wusste. Also wessen Kind war das? Sie drehte das Bild um ‚Mai 1989‘ stand dort in verblasste Handschrift. Das war zwei Jahre vor ihrer Geburt. Das musste das Jahr sein, indem ihre Eltern sich kennen lernten. Was hatte es mit alldem auf sich?

Donnerstag, 16:30
Sie war wieder zuhause. Das Polaroid lag vor ihr auf dem Couchtisch. Das Handy nebendran. Als sie nach Hause fuhr war eine weitere SMS eingegangen ‚Verstehst du jetzt? Du wirst büßen für dein Glück…‘. Cara verstand garnichts. Weder warum der Unbekannte Fotos von ihr auf einem Handy hatte, noch warum er sie so quälte. Was ihr Vater mit all dem zu tun hatte oder wer der Junge war, konnte sie auch nicht beantworten. Ihr Schädel brummte, sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Sie fühlte sich wie betrunken, obwohl sie so gut wie nie Alkohol trank und schon gar nicht jetzt. Sollte sie es doch riskieren und zur Polizei gehen. Doch was geschah dann? Die würden sie in eine Psychiatrie stecken, wenn der Fremde tatsächlich alle Daten von dem Smartphone löschen konnte. Sollte sie eine ihrer Freundinnen anrufen? Wobei würde sie jemandem glauben, der ihr so eine Story erzählt? Wahrscheinlich nicht. Außerdem hatte sie sich das letzte mal vor zwei Wochen gemeldet, die waren wahrscheinlich sowieso schon nicht gut auf sie zu sprechen. Ein lautes Surren, durchriss ihre Gedanken. Das Handy, das nur auf der Tischkante gelegen hatte, fiel durch den Eingang einer SMS auf den Teppich. Sie hob es auf und schaute auf das leuchtende Display ‚Du hast mir alles genommen Cara. Glaub ja nicht, dass du einfach so davon kommst.‘ Ihr stiegen die Tränen in die Augen. Niemals hatte sie jemand absichtlich verletzen wollen, doch der Unbekannte schien sie wirklich zu verabscheuen. Doch wieso? Eine weitere Frage auf ihrer Liste. Alles wurde immer undurchsichtiger. Sie lief im Wohnzimmer auf und ab, als es erneut vibrierte. Dieses mal keine Textnachricht. Er hatte ihr eine Bilddatei gesendet. Sofort lud sie sie herunter und sah wie so oft schon heute sich selbst. Im Wohnzimmer, wie sie auf und ab ging, genau jetzt. Sie rannte Richtung Badezimmer, von dort aus musste das Foto gemacht worden sein. Die Tür lehnte nur an, darin war es dunkel. Sie schnappte sich eine Glasflasche, das erstbeste an das sie rankam, und stieß die Tür nach innen auf. Sie machte das Licht an, doch der Raum schien auf den ersten Blick leer. Langsam näherte sie sich der Dusche. Der Vorhang war zugezogen. Die Flasche hielt sie wie einen Baseballschläger, als sie im Spiegel neben sich eine Bewegung feststellte. Die Tür fiel zu und Cara drehte sich um, doch zu spät. Sie sah nur noch einen schwarzen Schatten, spürte einen pochenden Schmerz an ihrer Schläfe und sackte schließlich auf dem Badezimmerboden zusammen. Das letzte was sie hörte, war ein dunkles Lachen, bevor sie in die Bewusstlosigkeit fiel.

Donnerstag, 20:20
Das Licht der kleinen Taschenlampe war die einzige Lichtquelle, die Cara zur Verfügung stand. Sie war vor kurzem aufgewacht. Wo sie war wusste sie nicht, neben ihr hatte die kleine Lampe gelegen, die ihr der Entführer wohl da gelassen haben musste, ihr Handy war weg. Sie war in einem kalten Raum, mit Steinwänden, keine Fenster, die einzige Tür war fest verschlossen. Sie hatte um Hilfe gerufen, doch es hatte sich nichts gerührt. Sie leuchtete den Raum ab, doch hier war nichts außer Spinnenweben in den Ecken. Sie begann verzweifelt zu schreien. Wahrscheinlich konnte sie niemand hören, doch sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte. Heiße Tränen rannen unaufhörlich ihre Wangen hinab. Zwischen den Schreien schluchze sie, bis ihre Beine nachgaben und sie auf den Boden sackte. Ihr Gesicht vergrub sie in ihren kalten Händen. Wie konnte ihr das nur passieren? Womit hatte sie das verdient? Sie erschrak heftig und verkroch sich in eine der feuchten Ecken, als sie Schritte auf dem Gang hörte. Das Schloss ächzte als der Schlüssel sich darin drehte und kurz darauf, schwang die Tür mit einem ohrenbetäubenden Quietschen auf „Du bist wach, das ist schön. Hast du darüber nachgedacht?“ Zum ersten Mal sah Cara sein Gesicht. Er war ungefähr in ihrem Alter, vielleicht ein paar Jahre älter, seine Augen waren blutunterlaufen und er sah leicht ungepflegt aus. Am Kinn konnte sie einen blonden Bartansatz ausmachen, der zu seinen hellen, wirr herabhängenden Haaren passte. Sie hatte diesen Mann noch nie gesehen „W-Worüber denn?“ Stotterte sie so leise, das sie es selbst kaum verstand, doch er schien sie gehört zu haben „Du hast es immer noch nicht kapiert du undankbares Weib?!“ schrie er. Sie kauerte sich noch mehr in die Ecke, am liebsten wäre sie mit der Wand verschmolzen. Was sollte sie denn verstehen? Er ging schnellen Schrittes auf sie zu und packte sie so fest an den Schultern, dass sie förmlich spüren konnte, wie ein Bluterguss entstand „Du hast ihn mir weggenommen! Du bist an dem Schuld was passiert ist!“ schrie er ihr ins Gesicht. Er war so aufgewühlt und sauer das seine Schlagadern am Hals pulsieren. Cara nahm ihr letztes bisschen Mut zusammen „Was hab ich denn getan?“ es war mehr ein Wimmern, aber immerhin hatte sie es geschafft was zu sagen. Ob es so eine gute Idee war, wusste sie nicht, denn als nächstes holte er aus und schlug ihr mit seiner Faust ins Gesicht. Ihr Kopf flog zur Seite, knallte gegen die Steinwand und ein unschönes Knirschen war zu hören. Warmes Blut floss ihr die Schläfe hinab und eine kurze Zeit drohte sie in sich zusammen zu sacken, doch ein weiterer Schlag in den Magen holte sie ins Bewusstsein zurück. Sie stöhnte vor Schmerz, wollte sich zusammen kauern, doch er hielt sie weiterhin mit einer Hand fest an der Schulter gepackt „Er war auch mein Vater!“ brüllte er. Cara glaubte durch den roten Schleier aus Blut vor ihren Augen, dass ihm eine Träne die Wange hinab lief, doch sie konnte es nicht genau sagen. Zu groß war der Schmerz um sich auf Details zu konzentrieren „Dad..“ brachte sie keuchend hervor. Er ließ sie los. Sofort sackte sie auf den kalten Boden, die Beine an den Bauch gezogen und fest mit den Armen verschlungen „Dein ‚Dad’ hat uns wegen dem Flittchen was sich deine Mutter nennt verlassen! Nur ihretwegen hat meine Mum sich eine Überdosis verpasst! Weißt du eigentlich wie schlimm es ist, in einem Kinderheim aufzuwachsen?! Oh nein warte, weißt du nicht, denn du hattest ja ‚Dad’!“ er lachte bitterlich. Cara brachte nur einige wimmernd Laute zu Stande. Sie wusste nicht ob er die Wahrheit sagte, doch wieso sollte er lügen? Es gab keinen Grund, es musste also stimmen. Sie hatte nie gewusst, das ihr Vater schon vor ihnen eine Familie hatte „ Es.. tut mir leid..“ flüsterte sie, in der Hoffnung ihn zu beruhigen. Sie spürte wie sich eine Blutlache um ihren Kopf bildete. Sie konnte nicht sagen, was ihr mehr weh tat, der Kopf, oder ihr Bauch „Dein Mitleid kannst du dir sonst wo hinstecken” er spuckte auf sie herab. Sie konnte seinen angewiderten Blick spüren ohne ihn zu sehen. Mit schweren, schnellen Schritten verließ er den Raum und warf voller Zorn die Tür hinter sich zu. Cara konnte sich nicht bewegen. Bei jedem blinzeln, drohte ihr Kopf zu explodieren. Ihre Gedanken kreisten, sie konnte sich nur schwer konzentrieren. Sie hatte also einen Halbbruder, der sie in einem Keller oder ähnlichem gefangen hielt. Sie hatte vermutlich einen Schädelbasisbruch und auch innere Blutungen ließen sich nicht ausschließen. Sie hatte keine Chance zu entkommen denn die Tür war… Moment. Hatte er die Tür abgesperrt? Cara konnte sich nicht erinnern. Sie versuchte den Kopf zu heben, doch ließ ihn stöhnend wieder fallen. Der ganze Raum drehte sich, eine Schmerzwelle schoss durch sie hindurch, doch sie musste es kontrollieren. Vielleicht war das ihre einmalige Chance, um nicht hier zu sterben. Sie zog sich mit den Armen am Boden entlang Richtung Tür. Nach einigen Versuchen schaffte sie es auch sich aufzusetzen. Cara konnte nicht einmal mehr fühlen wo ihre Schmerzen herkamen. Sie sah alles nur verschwommen, weshalb sie auch die Taschenlampe nicht sah. Vielleicht hatte er sie auch mitgenommen, sie konnte es nicht sagen. Mit beiden Händen zog sie sich an der Tür hinauf und stellte sich auf ihre zitternden Beine. Sie schwankte, schaffte es jedoch sich mit ihrem Körpergewicht gegen die Tür zu stemmen und tatsächlich. Sie ging knarrend auf. Ein kleiner Funken Hoffnung keimte in Cara auf. Sie konnte es schaffen. Konnte fliehen und zur Polizei gehen. In gekrümmte Haltung lief sie los. Sie kannte den Weg nicht, doch es war egal, hauptsache weg von diesem Ort, weg aus diesem Albtraum. Sie stolperte durch die kaum beleuchteten Gänge, als sie hinter sich ein lautes Fluchen hörte. Er musste bemerkt haben, dass sie weg war, denn kurz später rannten schwere Schritte einige Gänge hinter ihr entlang. Cara biss die Zähne zusammen, rannte weiter, als sie plötzlich in einem Raum stand. Es befand sich nur ein Tisch in der Mitte, darauf einige Unterlagen und.. das Handy. Es war nicht ihres, doch das spielte keine Rolle, sie schnappte es und rannte aus der gegenüberliegenden Tür wieder auf einen der Gänge. Sie wollte es entsperren, versuchte sich fieberhaft an den Code zu erinnern. 6790? 6289? 6968! Erst jetzt fiel ihr auf, dass das der Geburtstag ihres Vaters war, der 06.09.1968. Sie entsperrte es und rief die Nummer der städtischen Polizei an. Sie kannte sie auswendig, da sie sie schon oft im Krankenhaus gebraucht hatte. Es klingelte. Cara keuchte, sie würde nicht mehr lange so weiter laufen können und sie hatte das Gefühl ihr Halbbruder kam ihr immer näher „Städtisches Polizeirevier, Schmick am Telefon, wie kann ich Ihnen helfen?“ fragte eine helle Frauenstimme „Bitte.. ich wurde entführt.. er wird mich kriegen..“ keuchte sie zwischen tiefen Atemzügen „Beruhigen Sie sich, wo sind sie?“ sprach die Frau ruhig „Keine Ahnung.. in einem Kellergewölbe!“ sie hörte ihn nicht mehr weit entfernt animalisch aufbrüllen „Okay versuchen sie raus zu kommen, ich hab das GPS ihres Handys ermitteln können, in ein paar Minuten kommt ein Wagen, verstecken sie sich“ Das Licht im Gang wurde heller und als Cara um die nächste Ecke bog, sah sie eine Treppe die nach oben führte, ins Freie. Sie stürzte nach draußen, der Mond und ein paar Straßenlaternen erleuchteten die schmale Gasse. SIe rannte zu der leeren Straße, als sie ihn ebenfalls die Treppe herauf poltern hörte „Bleib stehen!“ schrie er, doch sie dachte garnicht daran, ihr Körper schrie vor Schmerz, doch sie rannte weiter, auf die Straße. Blaulicht flutete den Weg, als ein Streifenwagen rasant um die Ecke bog. Cara brach zusammen, bekam nur noch am Rande mit, wie eine Polizistin ausstieg und ihren Verfolger anschrie, er solle sich hin knien und die Hände über den Kopf nehmen, danach wurde sie bewusstlos.

Donnerstag, 22:30
Ihr Schädel pulsierte und drohte jeden Moment zu zerbersten, als Cara zu Bewusstsein kam. Alles um sie herum wackelte. Sie schlug die Augen auf und erkannte das Innere eines Streifenwagens. Auf dem Fahrersitz saß eine blonde Polizistin die sie durch den Rückspiegel beobachtete „Gut das sie wach sind, ich bringe sie in ein Krankenhaus.“ Cara war zu schwach um zu antworten. Jetzt würde alles gut werden. Ihr Halbbruder war bestimmt verhaftet worden und kam einige Jahre ins Gefängnis. Sie schloss die Augen wieder um die Kopfschmerzen zu verringern. Sie merkte, dass das Auto beschleunigte. Bald war sie im Krankenhaus, da konnten sie etwas gegen ihre Schmerzen und die Übelkeit tun. Der Wagen wurde immer schneller. Cara öffnete die Augen wieder „Mir ist etwas übel, könnten wir ein wenig langsamer fahren bitte?“ die Polizistin ignorierte sie. Schaute nicht einmal in den Spiegel zu ihr nach hinten. Vielleicht hatte sie sie einfach nicht gehört? „Entschuldigung?“ versuchte es Cara erneut und setzte sich leicht auf. Die Frau verriegelte die Türen von innen. Panik stieg in Cara auf. Etwas stimmte hier nicht. Warum war sie eigentlich nicht in einem Krankenwagen?! Sie fuhren über eine wenig befahrene, kurvige Landstraße mit mittlerweile fast 100km/h. Plötzlich bremste die Frau stark und riss das Lenkrad herum, sodass das Auto gegen einen Baum am Straßenrand knallte. Cara schlug sich den Kopf an der Scheibe an, war jedoch zum Glück angeschnallt. Benommen schaute sie auf. Der Wagen stand mit ihrer Seite zum Baum. Hatte sie Cara umbringen wollen? Aber wieso hatte sie dann gebremst. Auch die Polizistin hatte nur eine Platzwunde am Kopf und stieg, hustend von dem aufgewirbelten Staub, aus. Cara rüttelte an ihrer Tür, doch sie klemmte am Baum. Sie rutschte auf die andere Seite und wollte gerade ebenfalls aussteigen, als ihr eine Gestalt auffiel, die sich näherte. Nein. Das war unmöglich. Blondes zerzaustes Haar, der Bart.. er stellte sich neben die junge Frau und erst jetzt bemerkte Cara die Ähnlichkeit zwischen den Beiden. Sie hatten die gleichen Gesichtspartien, die gleiche Haarfarbe.. „Nein..“ hauchte Cara fassungslos „Ich bin stolz auf dich Schwesterherz” grinste er die Frau an. Diese deutete kichernd eine leichte Verbeugung an „Wieso?“ brachte Cara heraus, als er ihre Tür öffnete und sie nach draußen zerrte „Naja nicht nur ich wurde wegen dir zur Waise..“ sprach er zum ersten mal, mit ruhiger Stimme. Er stieß Cara zu seiner Schwester. „Wegen dir sind Ben und ich in einem verrotteten Kinderheim gewesen.” zischte sie und schloss Caras Handgelenke auf dem Rücken mit Handschellen fest „Es war garnicht so leicht, die ganzen Bilder von dir unbemerkt zu machen, besonders die im Krankenhaus waren eine Herrausforderung”. Ein breites Grinsen schlich sich auf das Gesicht der Frau. Ihr Halbbruder, Ben, ging zum Kofferraum des Polizeiwagens und holte eine große plastik-Rolle heraus. Er ließ sie mit einem dumpfen Schlag auf den Boden fallen und Cara schrie hysterisch auf als sie sah was dort eingewickelt war. Eine junge Frau. Sie musste in ihrem Alter sein, etwa so groß wie sie und auch von gleicher Statur. Ben packte die Leiche aus und hob sie hoch „Jessie, würdest du mal?“ bat er seine Schwester, die ihm die hintere Tür des Streifenwagens aufhielt. Er schmiss die Leiche auf den Rücksitz. Sie hatte einige Platzwunden am Kopf, wahrscheinlich hatte er die Frau zu Tode geprügelt „Keine Angst, sie war ebenfalls eine Weise, sie vermisst keiner. Sie hat auf der Straße gelebt.“ Er hatte Caras verstörten Blick wohl falsch gedeutet und zuckte mit den Schultern „Wir haben schon seit langem geplant, wie wir deinen Tod vortäuschen könnten, damit niemand nach dir sucht.“ Er schmunzelte boshaft und ging wieder zurück zum Kofferraum. Er entnahm ihm noch einen roten Kanister, bevor er die Türen alle wieder schloss. Durch die kaputten Fenster kippte der die Flüssigkeit ins Innere des Wagens. Die Luft wurde von dem typischen Geruch von Benzin erfüllt „Möchtest du?“ Er hielt Jessie das Feuerzeug entgegen. Sie grinste breit und zündete den Streifenwagen an, danach holte sie ihr Handy raus und wählte eine Nummer „Roger.. ich bin es, Jessie.. bitte schick schnell Verstärkung, ich würde als Geisel genommen und hatte einen Unfall, der Wagen brennt… Ja, die Frau die mich bedroht hatte, ist noch darin, sie ist bewusstlos, aber die Tür klemmt!“ sie klang überzeugend, so angsterfüllt, sogar mit einem Zittern in der Stimme. Ben hatte Cara die Hand auf den Mund gelegt, weshalb sie sich nicht bemerkbar machen konnte. Jessie schaute zu ihrem Bruder, als sie das Telefonat beendet hatte. „Los fahrt, ich komme später, die brauchen noch mindestens 10 Minuten bis die hier sind, bis dahin ist alles verbrannt.“. Ben packte sie am Arm und zog sie hinter sich her. Cara konnte sich nicht wehren, sie wusste nicht mehr wie oder was sie noch tun sollte…

Süddeutsche Zeitung, Ausgabe von Freitag dem 27.01.2012
Geiselnehmerin stirbt bei Verkehrsunfall!
Gestern am späten Abend ging bei der Städtischen Polizei ein Notruf einer Frau (21) ein, die behauptete entführt worden zu sein. Als die Polizei eintraf fand sie die junge Frau bewusstlos, mit einer schweren Kopfverletzung auf der Straße. Noch bevor der Krankenwagen eintraf, erwachte die Frau wieder und zwang die Polizistin bei vorgehaltener Waffe in das Auto zu steigen. Laut Aussage der Polizistin wollte sie, dass diese sie zu einem alten Schrebergarten bringt, der wohl einst ihrem verstorbenen Vater gehört hatte, doch auf dem Weg dorthin, gelang es der Polizistin durch einen leichten Verkehrsunfall, in den glücklicherweise kein Außenstehender verwickelt war, die Verdächtige abzulenken. Diese wurde durch den leichten Aufprall und die Folgen ihrer Kopfverletzung Ohnmächtig, was der Polizistin dazu verholfen hatte, aus dem Wagen fliehen zu können. Bei dem Unfall muss jedoch ein Kabelbrand im Motorraum und ein umgefallener Benzinkanister im Auto, dazu geführt haben das kurze Zeit später das Auto anfing zu brennen. Die Polizistin versuchte die Festgenommene aus dem Wagen zu befreien, scheiterte jedoch tragischer Weise. Als die Feuerwehr und der Rettungsdienst eintraffen, konnten sie nur noch die Leiche der jungen Frau bergen. Die Motive zu der Tat sind bislang unklar, doch es wird vermutet, dass sie einen psychischen Zusammenbruch hatte, nach dem Tod ihres Vaters.

Artikel geschrieben von: Ben Schmick, Journalist

3 thoughts on “Im Zeichen der Vergangenheit

    1. Hallo liebe Julia
      Eine wirklich gute Geschichte! Ich mag dein Ende – es klärt einiges auf, bringt aber auch neue Fragen oder lässt einiges im Dunkeln. Ich bin immer so gespannt wie andere Mitschreiber die Vorgaben umgesetzt haben und in welche Richtung ihre Phantasie gewandert ist. Deine Geschichte war gut, aufregend und spannend. Auch dein Anfang hat mich gleich gepackt und neugierig gemacht. Ich fand die Zeitangaben hier auch gut eingesetzt. Ich lasse dir in jedem Fall ein Herz da. LG Lisa

  1. Moin Julia,

    da hast du ne richtig tolle Storie erzählt. Spannend vom Anfang bis zum Ende. Du hast einen lockeren Schreibstil der mir gut gefällt. Wie du zum Schluss, mit Hilfe des Zeitungsartikels alles aufklärst, erinnert mich an meine Geschichte. Ich mag das..ist ein gutes Stilmittel.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

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