JAtzendorfIN DER STILLE LIEGT DER TOD

Heute war der Tag gekommen, wo sie ihn dazu bringen würde sich zu erinnern. Wo sie ihn dazu bringen würde für das einzustehen, was er war und was er getan hatte und dafür zu büßen. Er wusste noch nichts von ihrem Plan, aber das würde sie bald ändern…

 

Er schlenderte durch den Englischen Garten und knöpfte seinen schwarzen Mantel zu. Es war frisch geworden und der Herbst stand vor der Tür. Das Laub war noch nicht verfärbt, schien sich noch zurückzuhalten, um den Sommer noch etwas Zeit zu gewähren, aber die Luft war spürbar kühler. Er beobachtete ein paar Eichhörnchen, die eifrig umherhüpften und Vorräte sammelten. Er musste beim Anblick der kleinen Tierchen lächeln. Es tat ihm gut spazieren zu gehen. Seitdem er vor einem Jahr Panikattacken und Depressionen bekommen hatte, musste er sich regelmäßig bewegen. Das hatte ihm seine Therapeutin dringlichst empfohlen. Körperliche Aktivität sollte die Ausschüttung von Endorphinen und Serotonin, also Glückshormonen im Gehirn anregen und der Depression entgegenwirken. Seitdem hatte er die Spaziergänge in seine tägliche Routine eingebaut und tatsächlich spürte er, wie gut ihm die Bewegung tat. Er lief besonders gern durch den Englischen Garten, Münchens grüne Oase mitten im Herzen der Stadt. Normalerweise wimmelte es nur so von Massen in dem Park, aber heute waren nur einige wenige Personen unterwegs. Seit einer Viruspandemie Anfang des Jahres gerieten die Menschen bei jeder neuen Grippewelle in Panik und verschanzten sich in ihren vier Wänden. „Staythefuckhome“ würde wahrscheinlich auch zum Wort des Jahres gewählt werden. Auch jetzt trugen die Passanten im Park Atemschutzmasken oder hatten sich ihren Schal über Mund und Nase gezogen. Es schreckte ihn eher ab an diesen vermummten Gestalten vorbeilaufen zu müssen, die meist noch eine Sonnenbrille trugen, womit man gar nichts mehr von der anderen Person erkennen konnte. Man nickte sich auch nicht freundlich zu, sondern versuchte mit einem größtmöglichsten Abstand einander vorbeizugehen, um sich ja nicht zu berühren. Auch wenn er wusste, dass jede Grippe mit vielen Erkrankungen und Todesfällen einherging und dass diese Maßnahmen vor einer Ansteckung schützen konnten, so fand er das Verhalten der meisten Leute doch recht befremdlich. Er atmete die kühle Luft tief ein und füllte seine Lungen mit frischem Sauerstoff und verjagte die negativen Gedanken in seinem Kopf. Was für ein schöner Herbsttag. In diesem Moment schien die Welt für ihn in Ordnung zu sein. Doch das sollte sich bald ändern…

 

Als er gerade über die Brücke ging, die über den Eisbach führte, bekam er plötzlich einen Stoß in die Rippen und taumelte zur Seite. „Hey, pass doch auf! Geht’s noch oder was?“, rief er hinterher, aber die vermummte Person, die ihn angerempelt hatte lief schon weiter. Sie hatte sich die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und trug einen Atemschutz, sodass er nicht erkennen konnte, wer ihn da angerempelt hatte. Er rieb sich seine schmerzende Rippe. Was für ein Depp! Diese Art von Menschen mochte er am liebsten. Atemmaske und Handschuhe tragen, aber dann bewusst keinen Abstand halten, als ob sie nun unverwundbar wären. Er schüttelte den Kopf und lief weiter. Plötzlich spürte er ein Vibrieren in seiner Manteltasche. Er hörte eine Melodie und schaute sich verdutzt um. Ein älteres Ehepaar ging an ihm vorbei und beäugte ihn missmutig. Die Beiden waren schon einmal nicht die Quelle der Musik und um ehrlich zu sein, traute er den beiden irgendwie auch keinen Handyklingelton von Eurielle zu. Aber konnte es sein Handy sein? Wie zum Teufel kam sein Handy dazu „City of the Dead“ als Klingelton zu aktivieren? Hatte Siri ihn wieder einmal missverstanden? Er griff in seiner Manteltasche nach dem Handy und stutzte. Das Handy in seiner Hand hatte er noch nie zuvor gesehen. „Was zur Hölle?“, murmelte er, als das immer noch klingelnde Handy näher betrachtete. Es sah ziemlich mitgenommen aus. Das Display war mehrfach gesprungen und auch das Gehäuse an sich war zerkratzt und zerbeult. Man konnte nur noch erahnen, dass die Farbe des Gehäuses scheinbar mal dunkelblau gewesen war. Das Handy hörte auf zu klingeln, um gleich darauf wieder mit Vibrieren anzufangen. Er schaute sich um, ob jemand in der Nähe war, dem er das Handy zuordnen konnte, aber er konnte niemanden sehen. Er drückte auf dem Display, um den Anruf anzunehmen, was aufgrund der Beschädigung des Handys nicht so einfach war. Schließlich gelang es ihm. „Hallo? Wer ist denn da?“ rief er in das Telefon. Am anderen hörte er nur ein Rauschen. „Haaallooo?“, rief er nochmal in das Handy. Er schaute sich dabei weiterhin im Park um, ob er nicht doch eine Person telefonieren sah. Plötzlich knackste es in der Leitung und eine Frauenstimme flüsterte: „Erinnere dich. Erinnere dich wer du wirklich bist.“ „Wie bitte? Hallo, wer spricht denn da? Wessen Handy ist denn das? Haben Sie ihr Telefon verloren? Ich habe es eben zufällig gefunden…“ „ERINNERE DICH!“, unterbrach ihn die Frauenstimme jetzt lauter. „Erinnere dich wer du bist und was du getan hast“ waren die ihre letzten Worte, bevor das Telefonat abbrach. Verwirrt schaute er auf das nun schwarze Display. Er verstand kein Wort. An was sollte er sich erinnern? Das war doch bestimmt ein doofer Streich. Wahrscheinlich ein Prankcall irgendeines Influencers, der alles mitfilmte, um ein paar erbärmliche Klicks und Likes abzubekommen. Wahrscheinlich würde er Morgen schon ein Video von sich auf Youtube oder Instagram finden, wie er ein dummes Gesicht während des Anrufs machte. Er würde das Handy einfach in den nächsten Mülleimer werfen. Es war ja in dem Zustand ohnehin fast unbrauchbar. Plötzlich vibrierte es erneut in seiner Hand. „Anonym hat ein Foto geschickt“ prangte in verzerrten Buchstaben auf dem zersplitterten Display. Was sollte das schon wieder? Er brauchte ein paar Sekunden bis er schaffte das Foto zu öffnen. Er wunderte sich noch, weshalb das Handy nicht gesperrt war, als ihm beim Anblick des Fotos jegliche Farbe aus dem Gesicht wich. „Fahndungsaufruf. Die Münchner Polizei bittet die Bevölkerung um ihre Mithilfe.“, stand über einem Foto, was einen braunhaarigen Mann hinter einem Lenkrad zeigte. Anscheinend handelte es sich um ein Foto aus einer Überwachungskamera. Die Gesichtszüge des Mannes waren nicht gut zu erkennen und auch ein Kennzeichen war nicht zu sehen. Der Grund des Fahndungsaufrufes stand nicht dabei. Er musste schlucken und merkte plötzlich, wie er fror. Er zog sich seinen Schal enger um den Hals und bemerkte, wie seine Hand dabei zitterte. Das war doch alles eine Farce! Warum schickte ihm jemand ein Fahndungsfoto von einem braunhaarigen Autofahrer? Nur weil er selbst braunhaarig war? Außerdem war er schon ewig nicht mehr Auto gefahren; das ging mit seinen Panikattacken gar nicht. Er betrachtete das Foto noch einmal. Der Fahndungsaufruf war auf den 26.04.2019 datiert. Warum schickte ihm jemand ein Foto von einem Fahndungsaufruf von einem unbekannten Mann, der schon so lange zurücklag? Plötzlich knackte es in seinen Ohren. Ein fast geräuschloses Knacken und dann verstummte alles um ihn herum. Er spürte, wie das Handy wieder zu vibrieren begann und sah, dass eine unbekannte Nummer wieder anrief, aber dieses Mal hörte er keinen Klingelton. Er hörte weder das Handy klingeln noch den kalten Wind zwischen den Blättern rauschen noch das Wasser im Bach plätschern. Alles um ihn herum war stumm geworden. Stattdessen hörte er nur sein Herz und sein Blut durch die Adern pulsieren. Er schleuderte das Telefon in den Bach und schlug sich mit der flachen Hand leicht gegen den Schädel. Er schlug sich immer wieder, aber es half nichts. Die Welt um ihn herum blieb stumm. Auf einmal hörte er etwas zischen. Erst leise, dann lauter, bis er schließlich die Stimme der Anruferin in seinem Kopf erkannte, die zu ihm leise, aber deutlich flüsterte: „Erinnere dich. ERINNERE DICH!“. Er sackte auf die Knie, den Kopf in seinen Händen vergraben und schrie und mit dem stummen Schrei ging seine Taubheit in einen schrillen Pfeifton über.

„Hallo? Hallo Sie da? Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, hörte er neben sich eine Stimme. Er wusste nicht, wie lange er da schon mit dem Kopf in seinen Armen verschränkt auf der Brücke gekniet hatte. Er spürte, wie ihn jemand am Arm tätschelte: “Hallo, ist alles in Ordnung? Sollen wir einen Arzt rufen?“ Er hörte etwas! Er konnte wieder hören! Der Pfeifton war nach wie vor da, aber die flüsternde Frauenstimme in seinem Kopf schien verschwunden. Er schaute auf und blickte in ein bleiches Gesicht mit roten, geschwollenen Augen über einer weißen Atemschutzmaske, die das ganze Gesicht bedeckte. Er schrie erschrocken auf und fiel nach hinten auf den Rücken. „Hallo? Geht es Ihnen gut?“ Eine gummibehandschuhte Hand streckte ihm entgegen, um ihm aufzuhelfen. Er sah bläuliche Adern durch den weißen Gummihandschuh der sehnigen Hand hindurchscheinen. Angeekelt kroch er rückwärts, sprang auf und rannte los. Um die Brücke herum hatten sich Schaulustige versammelt, die ihn über ihre Atemschutzmasken hinweg anstarrten. Er fühlte sich als wäre eine Meute bleicher Zombies kurz davor ihn anzugreifen und sein Hirn zu fressen. War vielleicht seine Anruferin genau unter ihnen und beobachtete, wie er auf ihre Spielchen reagierte? Er rannte durch die Leute hindurch und stieß dabei ausversehen jemanden an. „Hey, halten Sie doch Abstand!“, rief ihm jemand hinterher, aber er lief einfach weiter. Er konnte sich jetzt nicht mit den Befindlichkeiten Anderer beschäftigen. Er fühlte sich nicht gut. Immer noch tönte ein schriller Pfeifton in seinem Kopf während er weiter durch den Park lief. Er spürte wie ihm Schweißperlen auf der Stirn standen und er öffnete seinen Mantel und versuchte hastig seinen Schal zu lockern, der ihn fast erwürgte, so eng hatte er ihn vorhin festgezogen. Was für ein Spiel wurde hier mit ihm gespielt? Und was wollte die Anruferin von ihm? Was bedeutete dieses Foto von dem Fahndungsaufruf? Er hasste es Auto zu fahren und hatte schon ewig nicht mehr am Steuer gesessen. Er lief weiter zur Bushaltestelle. Er wollte nur noch nach Hause und er musste dringend seine Therapeutin anrufen.

Gott sei Dank hatte er nicht lang auf den Bus waren müssen. Er wollte vorn in den Bus einsteigen, aber die Busfahrerin deutete mit Handbewegungen an, dass er die hintere Tür nutzen sollte. Noch so eine Schutzmaßnahme. Er rollte mit den Augen, stieg durch die hintere Tür in den Bus und setzte sich erleichtert an einen Fensterplatz, um erst einmal tief durchzuatmen. Er brauchte einen Moment, um runterzukommen. Der Bus war fast leer, bis auf einen älteren Mann mit einer Bierflasche in der Hand. Seit der Viruspandemie schienen es sich die Leute angewohnt zu haben nun auch bei der alljährlichen Grippewelle auf öffentliche Verkehrsmittel zu verzichten. Dies hatte tatsächlich den Vorteil, dass ihm niemand mehr in den Nacken nieste oder hustete, wie es sonst vor der Pandemie üblich gewesen war. Und er hatte den Bus nun fast für sich allein. Er bohrte mit seinem Finger in seinen Ohren, aber das änderte rein gar nichts an dem schrillen Pfeifton in seinem Kopf. Der alte Mann mit Bierflasche blickte zu ihm herüber, stand schwerfällig auf und torkelte schließlich auf ihn zu. „Zigarette? Zigarette? Ey, haste mal ne Zigarette?“, fragte der alte Mann ihn und rollte dabei wild mit den Augen hin und her. Anscheinend war das Bier in seiner Hand heute nicht erst die erste Flasche gewesen, denn er roch die Fahne des alten Herrn schon von Weitem. „Was? Ähm sorry, ich rauche nicht“, antwortete er und rutschte dabei näher an das Busfenster, um den Abstand zu dem alten Mann zu vergrößern. Was wollte der Typ von ihm? Hatte er etwas mit dem Handy und dem Foto zu tun? Wollte er ihn bedrohen? Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass der einzige weitere Fahrgast in dem sonst leeren Bus wirklich nur eine Zigarette schnorren wollte? Der alte Mann blieb weiter neben seinem Sitz stehen, schlürfte an seinem Bier und machte keine Anstalten sich wegzubewegen. Wie konnte er den alten Herrn dazu bringen ihn in Ruhe zu lassen? Er überlegte kurz, griff in seine Hosentasche und holte einen Fünf-Euro-Schein heraus und streckte ihn dem alten Mann entgegen. Dieser griff danach, grunzte kurz, zerknüllte den Schein, steckte ihn sich in die Jackentasche und rollte dabei mit seinen Augen noch stärker hin und her. Wahrscheinlich war dies seine Art und Weise sich zu bedanken. Der alte Herr torkelte gerade wieder zu seinem ursprünglichen Platz zurück, als der Bus plötzlich viel zu schnell durch ein Schlagloch fuhr und er erst ruckartig gegen seinen Vordersitz geschleudert und anschließend wieder in seinen Sitz gedrückt wurde. Er nahm nicht mehr wahr, wie der Alte laut fluchend sein Bier verschüttete. Plötzlich wurde der Tinnitus in seinen Ohren wieder lauter und Bilder schoben sich vor seine Augen. Er sah sich selbst hinter einem Lenkrad, wie er nachts im Nebel eine Straße entlangfuhr. Es war stockfinster und er konnte fast nichts außer dem Nebel sehen. Die Häuser am Straßenrand waren nur schemenhaft zu erkennen und er nahm einen rötlichen Schimmer in der Ferne war, den er nicht zuordnen konnte. Vielleicht stammte es von einem beleuchteten Reklameschild? Plötzlich hörte er sein Handy piepsen und er griff danach, um zu schauen wer ihm geschrieben hatte. Es war eine Nachricht von seinem besten Kumpel, der fragte, ob er noch mit in eine Bar gehen wollte. Er wollte seinem Kumpel gerade eine kurze Antwort schreiben, als er auf einmal spürte, wie es einen Schlag gab und er erst mit dem rechten Vorderrad und dann mit dem rechten Hinterrad über etwas drüberfuhr…

Er schüttelte sich und die Bilder verschwanden. Der Tinnitus in seinem Kopf schrillte unerlässlich und er kniff die Augen zusammen, um gegen die aufkeimenden Kopfschmerzen anzukämpfen. Sein Atem raste. Plötzlich hörte er ein ihm bekanntes Lied im Hintergrund. Er öffnete die Augen und blickte vor zu Busfahrerin, die scheinbar laut „It’s all coming back to me now“ von Céline Dion aufgedreht hatte. Überraschend sah er, dass der Fahrersitz leer war und der Bus auch nicht mehr fuhr. Hatte der Bus durch das Schlagloch etwas abbekommen und war die Busfahrerin rausgegangen, um den Schaden zu beurteilen? Busse fuhren doch aber eigentlich andauernd durch Schlaglöcher. Er blickte sich um. Auch der alte Mann mit der Bierflasche war verschwunden und auf der Straße draußen waren ebenfalls keine Leute zu sehen. Draußen dämmerte es bereits und er konnte nicht mal erkennen, in welcher Straße sie gerade genau waren. Was zur Hölle ging hier vor sich? Plötzlich räusperte sich jemand hinter ihm. „Na, kannst du dich erinnern?“ fragte ihn die gleiche Stimme, die ihn auch zuvor angerufen hatte. Erschrocken drehte er sich um und sah wie sich eine zierliche Person zwischen den Sitzen hinter ihm aufrichtete. Ihr Gesicht war hinter einer Sonnenbrille und Atemschutzmaske versteckt und auch die Kapuze ihres Hoodies hatte sie sich tief ins Gesicht gezogen. War das nicht dieselbe Person, die ihm vorhin auf der Brücke über den Eisbach im Englischen Garten angerempelt und ihm wahrscheinlich auch das Handy zugesteckt hatte? „Was, was wollen Sie von mir? Und wer zum Teufel sind Sie?“, fragte er. „Ich stelle hier die Fragen“, unterbrach sie ihn und dabei sah er, wie sie eine Waffe entsicherte. „Und ich habe dir bereits gesagt, was ich will. Du sollst dich verdammt nochmal erinnern!“ Er spürte sein Herz und seinen Atem rasen und konnte den Blick von der Pistole nicht abwenden, mit der sie in ihren Händen spielte. Der Pfeifton schrillte nach wie vor unbarmherzig in seinem Kopf. „Aber ich weiß nicht, woran ich mich erinnern soll…“, stammelte er. „Oh mein Gott, Männer! Immer muss man euch alles aus der Nase ziehen!“ Sie schien belustigt und verärgert zugleich und setzte sich nun auf den Sitzplatz ihm gegenüber, die Finger nach wie vor in der Nähe des Abzugs der Waffe. „Also gut mein Lieber, dann fangen wir doch ganz von vorn an. Du bist seit fast einem Jahr in Therapie. Warum?“ „Woher wissen Sie das verdammt?“ „ICH stelle hier die Fragen!“ schrie sie ihn an und richtete die Waffe auf ihn. „Warum bist du in Therapie?“ „Ich, ich hatte ein Burnout.“ Sie lachte nur trocken auf. „Ein Burnout! Pah!“ „Ist das so Mainstream in München? Mir ging es vor einem Jahr wirklich schlecht!“, entgegnete er. „Ja, dir ging es schlecht, aber nicht, weil du ein Burnout hattest mein Lieber“, antwortete sie nun bedrohlich flüsternd und sah ihm dabei fest in die Augen. „Haben meine kleinen Trigger gar nichts bewirkt, die ich dir gestreut habe? Hast du keine Flashbacks gesehen oder gehört? Dein Tinnitus ist zurück, oder? Und du hattest einen Hörsturz?“, fragte sie ihn und grinste breit, was er aber aufgrund der Maske in ihrem Gesicht nur erahnen konnte. „Ich, ich weiß nicht, was …“ „Spuck es aus mein Lieber, sonst blase ich dir den Schädel schneller weg, als du bis drei zählen kannst. Woran kannst du dich erinnern?“ schrie sie ihn nun wieder an und die Pistole schwebte nun nur wenige Zentimeter vor seinem Gesicht. „Ich, ich habe mich hinter einem Lenkrad gesehen, wie ich bei Nebel Auto gefahren bin.“ „Oh, dass ist sehr gut. Das ist doch mal ein Anfang“ freute sie sich und senkte die Waffe wieder. „Aber ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat.“, unterbrach er sie. „Oh, du weißt nicht, was das zu bedeuten hat, mein Lieber? Du bist aber auch wirklich nicht von der intelligenten Sorte, oder? Na komm, dann schau dir doch das Foto nochmal an, was ich dir geschickt habe. Na los, mach schon. Wir werden hier auch nicht mehr jünger.“ Also doch, sie hatte ihm das Handy vorhin im Park zugesteckt; hatte er es doch richtig vermutet. Widerstrebend griff er in seiner Manteltasche nach dem Handy und öffnete die Nachricht mit dem Bild. „Was hat bitte ein Fahndungsaufruf vom 26.04.2019 mit mir zu tun?“ Sie blickte ihm direkt in die Augen und während er dem Blick nicht standhalten konnte und seinen Blick zu Boden senkte, sagt sie: „Das ist ein Fahndungsaufruf von dir. Das bist du auf dem Foto.“ Er wollte widersprechen, aber in dem Moment nahm der Pfeifton in seinem Kopf wieder Überhand. Stöhnend presste er sich die Hände an den Kopf. Wieder tauchten Bilder vor seinem inneren Auge auf. Er sah wieder, wie er die Straße im Dunkeln bei Nebel entlangfuhr, wie er eine Whatsappnachricht schrieb und spürte wieder diesen Schlag. Doch dieses Mal endeten die Bilder nicht damit. Er konnte sehen, dass er erschrocken bremste und in den Rückspiegel schaute. Im Rückspiegel sah er etwas auf der Straße liegen. Er konnte nicht erkennen, was es war und er stieg auch nicht aus. Stattdessen drückte er panisch auf das Gaspedal und raste davon…

 

Er schüttelte sich und die Bilder verschwanden. Schweißüberströmt lehnte er an dem Busfenster. Sein Brustkorb hob und sank sich hektisch. „Na, kannst du dich jetzt erinnern, was du getan hast?“ fragte sie ihn. „Ich, ich hatte einen Unfall. Ich habe etwas überfahren und deswegen wurde nach mir gefahndet…“, keuchte er. Sie lachte auf: „Oh, du bist wirklich hartnäckig. Du willst dich wirklich nicht erinnern. Dein Körper scheint zu wissen, dass du daran zerbrechen würdest, wenn du dich an die Wahrheit erinnerst. Aber ich will, dass du zerbrichst. Und ich werde dich zerbrechen mein Lieber.“ Er erschauderte bei diesen Worten und presste sich noch mehr an das Busfenster. Sie kam direkt auf ihn zu und beugte sich zu ihm herüber, bis ihr Gesicht direkt vor seinem war. Der Satz, den sie dann sagte, raubte ihm fast den Verstand: „Du hast nicht etwas überfahren…“ Der Pfeifton in seinem Kopf wurde noch schriller und er hatte das Gefühl, sein Schädel könnte jeden Moment zerplatzen. „Es tut mir leid, ich kann mich nicht genau erinnern was passiert ist.“, stammelte er. „Ist mir eine Katze oder ein Hund vors Auto gelaufen? Ich kann mich wirklich nicht erinnern…“ „Es war KEINE Katze und es war auch KEIN Hund!“, schrie sie ihn an. Sie sprang auf und riss sich die Kapuze und Maske vom Gesicht. Da erst erkannte er sie. Es war die Studentin, die immer bei seiner Therapeutin in den Sitzungen hospitierte. Sie hatten nie ein Wort gewechselt, daher hatte er sie nicht an der Stimme erkannt. „Oh, jetzt erkennst du mich. Toll. Ganz toll. ICH habe dich sofort von dem Fahndungsfoto erkannt, als du zum ersten Mal in die Praxis gekommen bist. Du hast so von deinen Panikattacken gejammert und dass du kein Auto mehr fahren kannst. Ich wollte eigentlich der Polizei einen Hinweis geben, dass sie dein Auto mal näher auf Unfallspuren untersuchen soll, aber du warst leider schneller und hast es ins Ausland verscherbelt. Ich hatte keine Chance nachzuweisen, dass du es gewesen bist, außer du würdest gestehen. Aber mit jeder Therapiestunde hast du die Wahrheit ein Stückchen mehr verdrängt.“ Er sah, wie plötzlich der alte Mann von vorhin wieder in den Bus einstieg. Er konnte nicht sagen, ob der alte Herr die gefährliche Situation erkannte, denn dieser sprach keinen Ton, sondern rollte nach wie vor nur mit den Augen hin und her. Konnte er ihm irgendein Zeichen geben, dass er Hilfe holen sollte? Sie bemerkte den alten Mann nicht und fuhr unbeirrt fort: „Du hast alles verdrängt und dir ging es durch die Therapie immer besser und deine Panikattacken wurden besser, während ich jeden Tag damit kämpfen muss überhaupt aufzustehen. Während meine Familie völlig am Ende ist! Ich habe es irgendwann nicht mehr ausgehalten mir dein Gelaber anzuhören. Mir blieb nichts anderes übrig als deinem Gedächtnis etwas auf die Sprünge zu helfen. Und wie hilfreich es doch ist, wenn man neben dem Studium als Busfahrerin arbeitet“, lachte sie und ein verzerrtes Grinsen machte sich auf ihrem Gesicht breit. „Du sollst dich erinnern was du getan hast und wer du wirklich bist. Heute vor einem Jahr hast du meine Schwester überfahren. Du bist der Mörder meiner Schwester!“ Bei diesen Worten sprang er auf und musste sich übergeben. Er rang nach Atem und wollte raus aus dem Bus, aber sie versperrte ihm dem Weg und richtete die Pistole entschlossen auf ihn. Der Pfeifton in seinem Kopf wurde immer lauter, auch wenn er es nicht für möglich gehalten hätte, dass er noch lauter werden könnte. „Wir waren in dieser Nacht zusammen mit ein paar Freunden auf einer Party unterwegs und wollte gerade über die Straße gehen, als du eine rote Ampel übersehen hast. Ich habe meine Schwester verdammt noch mal in den Armen gehalten, als sie gestorben ist. Die Polizei konnte anhand der Reifen- und Bremsspuren später feststellen, dass der Fahrer in Schlangenlinien gefahren ist und wahrscheinlich getrunken hatte. Weil es so nebelig war gab es kaum Zeugen. Das Handy in deiner Hand war übrigens das Handy deiner Schwester bzw. das, was davon übrig war. Sie hat erst letztes Jahr ihr Abi gemacht und wir wollten zusammen auf die Uni und studieren. Aber du hast diesen Plan zerstört. DU hast ALLES zerstört! Du bist ihr verdammter Mörder und du bist einfach weitergefahren, ohne irgendwas zu tun, ohne erste Hilfe zu leisten oder Hilfe zu holen. Und bis heute verleumdest du es. Oder erinnerst du dich jetzt, dass du ein Mörder bist?“ Er konnte ihren Worten nur noch mühsam folgen, da der schrille Pfeifton in seinen Ohren mittlerweile alle Geräusche überdeckte. Er sah vor seinen Augen, wie er im Auto in den Rückspiegel sah und schließlich erkannte er im Rückspiegel, dass eine Person auf der Straße lag und sich eine Gruppe von Leuten darüber bückte. Er wollte sein altes Ich anschreien auszusteigen und zu helfen oder wenigstens zum Handy zu greifen und den Notruf zu wählen, aber er sah wie er auf das Gaspedal trat und davonfuhr. Weg von der Wahrheit, dass er einen Menschen überfahren hatte. Ein Mädchen. Er war ein Mörder. Er brach schluchzend auf seinen Sitz zusammen. Er wollte ihr sagen, dass er sich erinnerte, was er war und was er getan hatte. Aber die Welt um ihn herum war wieder still geworden. Er bewegte seine Lippen, aber hörte nicht, ob er wirklich etwas sagte. Er sah sie etwas sagen, aber hörte auch das nicht. Er sah wie der alte Mann die Bierflasche zum Schlag angehoben hatten und langsam entgegenkam. Er wollte ihm entgegenrufen, dass er abhauen sollte, dass er es nicht verdient hatte gerettet zu werden und sie wahrscheinlich auch einen alten Mann erschießen würden, wenn sie merkte, dass der alte Herr ein unliebsamer Zeuge war, aber seine Worte verloren sich in seinen Gedanken. Das Letzte was er sah war der Lauf der Pistole und ihren Finger, der den Abzug drückte. Alles um ihn herum war stumm, bis auf die Stimme in seinem Kopf, die leise flüsterte: „Ich bin ein Mörder.“

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