Miliama(in)visible

Ich bin allein, während die Sterne an mir vorbeiziehen. Die alte Kapsel der Yggdrasil Raumstation am Rande der Milchstraße, die nur noch als Anlaufstelle für Weltraumschrottsammler existiert, ächzt unter der schnellen Reisegeschwindigkeit, mit der ich sie durch den dunklen Raum jage. Einen Hypersprung würde sie nicht schaffen, dazu fehlt ihr die nötige Technik. Aber ich habe es eilig, also trieze ich sie bis zu den Grenzen ihrer Auslastung. In wenigen Minuten bin ich dort.
Mit einem Seitenblick, das Steuer der Kapsel fest umklammert, schaue ich verstohlen auf das Gerät, das ich behelfsmäßig mit einem Magneten oberhalb der Steuereinheit befestigt habe. Diese Art von Gerät habe ich das ein oder andere Mal gesehen, auf alten Bildern und Zeichnungen. Dass ein solches noch existiert, ist mir neu.
Als ich es fand hatte ich das Gefühl, es sei für mich platziert worden. Auf der alten Erde war ein Kampf entbrannt. Zwischen den Feuern der jungen Vulkane standen die Erdenvölker und bekämpften eine, ihnen in der Überzahl, verhasste Flotte von Sternenpiraten, die den Menschen ihren letzten Schatz zu rauben versuchten. Mein Auftrag war simpel.
Bring uns den Kopf von Umbra, dem Anführer der Sternenpiraten.
Leichtes Spiel für mich. Sein Kopf liegt neben mir auf dem Sitz, der für einen möglichen Co – Piloten vorgesehen ist. Vorsorglich habe ich ihn angeschnallt. Seine leeren, purpurnen Augen schauen in die unendlichen Weiten des Universums, in dem sein Geist nun ziellos umherirrt.
Doch als ich Umbra den Kopf abschlug, hinterhältig und ohne Reue, fiel etwas aus seiner ledernen Tasche, die er, an einem Gürtel befestigt, bei sich trug. Ich nahm das eigenartige Gerät an mich und verließ, ohne von jemandem bemerkt zu werden, die alte Erde in meiner Kapsel, die ich eigens für diese Mission gestohlen hatte.  
Normalerweise war mir alter Technikschrott egal – sollten ihn doch die Sammler mitnehmen, die vom Verkauf der antiken Metalle lebten. Auf der Rückseite des Gerätes aber entdeckte ich etwas. Ein Symbol, das ich in meinem ewigen Leben nicht vergessen werde. Es ist das Symbol der Fähigkeit, die ich besitze. In meinen vielen Jahren als Kopfgeldjägerin, habe ich niemanden kennengelernt, der dieselbe Gabe mit sich trägt. Ich kann mich ganz und gar verschwinden lassen. Wenn ich will, bin ich für jeden unsichtbar. Somit habe ich den perfekten Beruf für mich gefunden. Was oder wer ich war, bevor ich angefangen habe Lebewesen für Geld zu töten, weiß ich nicht mehr.
Das Symbol der Unsichtbarkeit zeigt einen gelblichen Kugelblitz, der schwach im Sonnenlicht in den schönsten Farben schimmert.
Ich schaue ein letztes Mal auf das mysteriöse Gerät und konzentriere mich wieder auf den Flug. Der Wasserplanet, auf dem ich landen will, vergrößert sich in meinem Sichtfeld merklich, bis ich schließlich in die Atmosphäre eindringe, fest in meinen Sitz gedrückt werde und das helle Glühen der Außenwand meiner Kapsel wahrnehme. Dann ist es ruhig. Beeindruckt schwebe ich oberhalb des unendlichen Meeres und begutachte die kleinen, silbernen Inseln, die Menschen hier vor hunderten von Jahren erbauten, um zu forschen. Da im Luftraum keine Reisen von Besuchern geduldet werden, lande ich auf einer der Inseln und lasse mich von einem fliegenden Katamaran zu Insel Nummer 21 bringen.
Max erwartet mich schon. „Zeig her!“, fordert er ohne weitere Begrüßungsfloskeln und nimmt mir das Gerät aus der Hand, das auf der alten Erde aus Umbras Tasche gefallen ist. „Ja, ja. Das dachte ich mir.“, nuschelt er sich in den Bart, während er sich abwendet und zu seinem mit Technikschrott überladenem Tisch schlurft. Mit einem Wisch fegt er alles hinunter. Die Metalle landen laut klirrend auf dem silbernen Boden. Sonnenlicht fällt durch die schmalen, haushohen Fenster hinein und zeichnet bunte Streifen in den Raum. Max geht zu einem hölzernen Schrank, holte einige Werkzeuge raus und fuchtelt wild an dem Fundstück herum.
„Aha!“, ruft er nach einigen Minuten aus und dreht sich endlich zu mir um. „Es läuft wieder.“, erklärt er und hält mir das Gerät hin.
„Was ist es?“, frage ich nervös.
„Die Menschen nannten es einst ein Smartphone.“, er betont den Namen, als preise er eine Gottheit. „Sie nutzten es als Kommunikationsmittel und Datenspeicher. Aber dieses ist seltsam. Es enthält nur ein paar Bilder von dir.“
Erschrocken schaue ich in seine bernsteinfarbenen Augen. „Wie bitte?“
„Sieh es dir an.“ Er deutet auf das Smartphone
in meinen Händen. Der Bildschirm ist schwarz. Verloren blicke ich zwischen ihm und dem Gerät hin und her. „Ach ja.“, bemerkt er und drückt einen Knopf, der sich seitlich am Gerät befindet. Der Bildschirm leuchtet auf und zeigt ein eigenartiges Symbol. Es sieht aus wie ein Kreis, dem ein Stückchen fehlt. Mit seinem Finger streicht Max über den Bildschirm und dann sehe ich mich. Besser gesagt ein Abbild von mir. Ich sehe mich selbst in dem dunklen Palast der Minenzwerge, wie ich hinter dem Bauleiter einer nuklearen Waffe stehe, mein Schwert, Todesschwinge, zum Schlag erhoben. Max erforscht meine Reaktion, dann wischt er mit dem Finger über den Bildschirm und ein neues Abbild erscheint. Wieder sehe ich mich selbst. Ich stehe vor einem Monarchen, dem das Alter nichts anhaben kann, auf seinem Grundstück im Garten und halte ihm meine Klinge an den Hals. Ich erinnere mich daran, dass er seine Töchter und Frauen jahrelang gefoltert haben soll. Also machte ich ihm im Auftrag seiner Regierung den Gar aus. Max wischt erneut über den Bildschirm.
Diesmal sehe ich mich von der Seite. Mit erhobenem Schwert stehe ich über einem am Boden liegenden Körper, der einst einer Assassine gehörte, die der Yggdrasil und seiner Regierung ein Dorn im Auge gewesen war.
Entsetzt schaue ich Max an. „Das ist nicht möglich.“, stelle ich fest. „In all diesen Momenten war ich unsichtbar. Niemand hätte von mir ein Abbild erschaffen können. Niemand ist in der Lage, mich in einem solchen Moment zu sehen. Und wer hätte wissen sollen, wo ich mich aufhalte und wann genau ich diese Morde begehe? Es gab nie einen Zeitplan, es waren stille Aufträge, die ich nach eigenem Ermessen zu erledigen hatte.“
„Loreen.“, spricht Max mich ruhig an. „Es sind 898 Bilder.“
„Das sind 101 weniger als die Anzahl meiner gesamten Morde.“, sage ich leise zu mir selbst. „Wie kann jemand ein Abbild von fast jedem einzelnen meiner Morde gemacht haben?“
„Welcher Mord fehlt?“, fragt Max unbefangen und lässt mir Zeit, die Abbilder durchzugehen. Ich schaue mir jedes einzelne genau an. In mir regen sich keine Gefühle. Keine Reue, kein Mitleid – nur eines: Unbehagen. Warum weiß ich genau. Auf der Suche nach einem bestimmten Abbild wische ich immer schneller und nervöser über den Bildschirm, schaue mir die Morde nicht mehr detailliert an. „Wo ist es nur, wo ist es nur?“ Inständig hoffe ich, dass es dabei ist. Sollte es fehlen, wie ich vermute, was würde das für mich bedeuten? Müsste ich an diesen Ort reisen, um Antworten zu finden? Schließlich passiert es. Ich kann nicht weiter über den Bildschirm wischen, nur zurück. Keine neuen Bilder. Der einzige Mord, den ich in meinen langen Jahren als Kopfgeldjägerin bereut habe, ohne zu wissen warum. Er ist nicht dokumentiert. Mein einhundertster Mord. Er fehlt. Max sieht mich an und verzieht die Lippen zu einem mitleidigen Lächeln. „Fehlt er? Die 100?“
Ich nicke unbeholfen. Meine Hände zittern. „Glaubst du es hilft, wenn ich dorthin zurückfliege und mich umsehe?“
„Kann nicht schaden.“, antwortet Max schulterzuckend und nimmt mich in den Arm. Ich küsse ihn, weil ich das Gefühl habe, dass ich ihn nicht mehr sehen werde. Das Smartphone stecke ich in meine Hosentasche, gehe zurück zum Katamaran und fliege zu der Insel, auf der meine Kapsel parkt.
Der Kopf des Anführers der Sternenpiraten stinkt schon, weil ich in der Sonne geparkt habe. Bevor ich ihn meinem Auftraggeber bringe, muss ich an den geheimnisvollen Ort zurückkehren. Mit wummerndem Herzen gebe ich dem Antrieb der alten Kapsel die Sporen und verlasse rüttelnd die Atmosphäre des blauen Planeten. Wieder ziehen die Sterne an mir vorbei. Ich bin allein. Während ich auf die Ankunft am Ziel warte, singe ich mit zittriger Stimme Kinderlieder, von denen ich nicht weiß, woher ich sie kenne. Die Texte sind in mein Gehirn eingebrannt wie keine andere Erinnerung.
Letzte Nacht um viertel vor vier, da hatte ich eine Erscheinung…
Ich erreiche mein Ziel schneller als mir lieb ist. Der Planet des schwarz – weißen Dschungels ist zehnmal so groß wie die alte Erde. Seinen Namen hat er dank einer Besonderheit erhalten, die in unserer Galaxie nur einmal existiert. So wie es meine Gabe kein zweites Mal gibt. Er hat keine Rotation. Das bedeutet; Auf der Seite, die sich der Sonne zuwendet, ist immer Tag. Auf der anderen Hälfte des Planeten herrscht die ewige Nacht. Ich durchbreche die Atmosphäre mit einem lauten Knall und nehme erschrocken Qualm wahr, der meinem Motor entsteigt. Unsanft lande ich das Klappergestell gewollt auf der dunklen Seite des Dschungels in einem leuchtend blutroten Fluss. Die Strömung treibt mein Raumschiff ans Ufer, wo es an einigen wuchernden Baumwurzeln hängen bleibt. Ohne zu zögern öffne ich eine Luke im Dach, springe geschickt raus und lande ohne nass zu werden am Ufer des Flusses. Im Schutze der unzähligen Bäume ist es stockfinster. Dennoch weiß ich, dass ich nicht weit vom Ort des Geschehens entfernt bin. Von der Lichtung, auf der mein eigenartigster Mord geschah. Der einzige, den ich in meinem Leben als Kopfgeldjägerin bereut habe. Ich erinnere mich genau an das Opfer. Es ist weit über siebzig Jahre her. Sie trug einen güldenen Schleier, der ihr nussbraunes, hüftlanges Haar umschmeichelte. Anmutig stand sie auf einer Lichtung und schien auf etwas zu warten. Das helle Licht des nächsten Sterns ließ das grüne Gras aufleuchten und die Lichtung in einer besonderen Atmosphäre erblühen. Sie wusste, dass ich kommen und sie töten würde. Als ich hinter ihr stand, drehte sie sich um. Zuerst dachte ich, sie sehe mich, aber ihr Blick ging ins Leere. Ohne zu zögern schlug ich zu, nahm ihren Kopf auf, dem ich auch auf Schulterhöhe die Haare abgeschnitten hatte, und verließ diesen unwirklichen Ort. Je weiter ich mich entfernte, umso eigenartiger wurde das Gefühl, das mich bis heute begleitet. Warum ist dieser Mord nicht auf dem Smartphone dokumentiert?
Mit einer Taschenlampe gehe ich großen Schrittes durch den Dschungel, der ganz still ist. Ich gehe einen Hügel hinauf, trete über den Kronen der schweigenden Bäume hinaus unter freien Himmel und finde mich auf der Lichtung wieder, auf der ich die wunderschöne Frau erschlug. Ihr Gesicht hatte makellose Züge und eine weiche Sympathie. Wie ich so dastehe, sehe ich es deutlich vor mir. Jetzt leuchtet das Gras nicht mehr. Zum ersten Mal in meinem Leben, an das ich mich erinnern kann, verspüre ich Verbitterung. Nachdenklich schaue ich in den schwarzen Himmel, der nur von dem einen Stern erhellt wird. Er steht genau an derselben Stelle am Firmament, an dem er in dem Moment gestanden hat, in dem die Frau starb. Ich habe nie gemordet, ohne den Grund für die stille Todesstrafe zu erfahren. Bei ihr aber glaube ich, wurde ich belogen. Man sagte mir, sie sei einst eine Kriegsverbrecherin gewesen. Habe einen Planeten sprengen lassen, der unbewaffnet war. Ich glaubte ihnen. Bis ich ihren Kopf in den Händen hielt.   
Hinter mir ertönen Schritte, die mich aus meinen finsteren Gedanken holen. Sie sind noch weit entfernt, aber mein geschultes Ohr nimmt vieles wahr. Im selben Moment ertönt mein Heron. Ein Empfänger, der anschlägt, wenn ich einen neuen Auftrag erhalte. Ich spüre die leichte Vibration an meinem linken Unterarm, an dem ich das Heron wie einen Armreif trage, und halte ihn in Position. Ein rotes Hologramm flackert auf und zeigt einen alten Mann. Er steht am Stock mit gebeugtem Rücken und ungepflegtem Haar. Eine grausame Befürchtung ermächtigt sich meiner. Die Schritte kommen näher. Das Hologramm verweilt fünf weitere Sekunden. Dann weicht es einer Nachricht, die in meiner Muttersprache formuliert ist. Für Auftraggeber ist das sehr ungewöhnlich. Normalerweise schreiben sie auf Alluma, der Sprache, die jeder beherrschen muss, der interstellar reist und arbeitet. Ich spreche fließend Alluma, meine Muttersprache hingegen stammt von der alten Erde. Bis heute glaube ich, dass ich von dort stamme, obwohl sie auf vielen Planeten gesprochen wird. Oft ärgere ich mich darüber, dass ich keine Erinnerung an mein altes Leben besitze. Was ich tue, um sie zurück zu gewinnen, ist belanglos. Viele Jahre habe ich versucht, etwas über meine Vergangenheit zu erfahren. Es ist als suche ich eine Dimension in einem schwarzen Loch. Keine Existenzen, bloß das unendliche, finstere Nichts.
Neugierig schaue ich zu, wie die Nachricht in meiner Muttersprache Form annimmt. Im ersten Moment verstehe ich die Botschaft nicht. Sie ist kryptisch formuliert.
Dieser Mann hat ein Verbrechen begangen. Er griff jemanden an, der unter unserem Schutz steht und Immunität genießt. Töte ihn, oder wir töten ihn.
Mir macht es nichts aus jemanden zu töten. Warum zweifeln sie daran? Wenn ich nicht töte… Erneut erschien ein Hologramm von einem Menschen und wischt die eigenartige Nachricht davon. Ich muss zweimal hinsehen.
Max.
Töte ihn, oder wir töten ihn.
Mir gefriert das Blut in den Adern. Würde Max mir gleich gegenüber stehen?
Ist er es, dessen Schritte ich kommen höre? Ich kann ihn nicht töten. Er ist der einzige Mensch im gesamten Universum, das einzige Lebewesen, dem ich nicht das Leben nehmen kann. Ich liebe ihn.
Max würde niemals jemanden angreifen. Er ist so friedlich und immer in seine Forschungen vertieft, als gäbe es nichts anderes in den geheimnisvollen Weiten. Das ist ein Missverständnis. Er…
„Kenii?“, ertönt eine Männerstimme hinter mir. In meinen Gedanken versunken habe ich die Außenwelt abgeschaltet. Die Schritte waren inzwischen an ihrem Ziel angekommen. Ich zucke zusammen. Kenii? Die Stimme kommt mir bekannt vor, aber sie gehört nicht Max. Kurz überlege ich, mich unsichtbar zu machen. Nein, dazu ist es zu spät. Ich drehe mich um.
Wenige Meter entfernt steht ein alter Mann am Stock, sein Rücken ist gebeugt, sein Haar ungekämmt, sein Blick nach oben auf mein Gesicht gerichtet. Er ist kleiner als ich. Der Stern am Firmament strahlt heller, das Gras leuchtet in einem schwachen grün und lässt mich ihn gut sehen.
„Sie müssen mich verwechseln.“, sage ich und frage mich angestrengt, ob er oder Max mein Auftragsmord ist.
„Dich würde ich an jedem Ort und in jeder Form erkennen.“, erklärt er und seine Stimme klingt freundlich. Ein trauriger Unterton schwingt mit. Seine Hand, mit der er sich auf dem Stock abstützt, zittert. Er senkt den Kopf. Meine Gedanken fahren Achterraumschiff. Ich kenne ihn nicht. Warum nennt er mich Kenii? „Pelo, alter Mann.“ Eine Ansprache für eine förmliche Entschuldigung. „Aber Sie sind mir gänzlich unbekannt. Mein Name ist Loreen, nicht Kenii. Ich insistiere, Sie verwechseln mich.“
Er schaut nicht auf. Stattdessen geht er ein paar Schritte auf mich zu. Ich weiche nicht zurück, murmle einen Spruch, um Todesschwinge zu beschwören. Sie taucht unmittelbar in meiner rechten Schwerthand auf. Ich spüre ihre Wärme. Der weiße und der schwarze Drache, die sich am Heft umeinander schlängeln, geben zischende Geräusche von sich. Der Alte kann sie nicht sehen oder hören. Todesschwinges Existenz ist mir vorbehalten. Fest umklammere ich den Griff. „Bevor du mich köpfst,“, setzt der Greis an und hebt seinen Kopf, um mir in die Augen zu schauen. „sollst du etwas wissen.“
„Worum es sich bei deinem Verbrechen handelt?“
„Nein.“ Er hebt seinen Stock und drückt die Unterseite an meine Brust, dort wo mein Herz sitzt. Sein Bild verschwindet vor meinen Augen und der Kosmos durchströmt meinen Körper. Ich fliege durch bunte Gasnebel, die voller heller Sterne glitzern. Dann stehe ich wieder auf der Lichtung. Der Alte Mann ist weg. Vor mir liegt der Körper einer toten Frau. Ein Teil eines güldenen Schleiers. Das Gras leuchtet nicht grün, doch der Stern am Firmament wirft einen Lichtstrahl auf die enthauptete Leiche. Wieder höre ich Schritte. Ein Mann kommt angelaufen. Er wirkt vital, etwas in die Jahre gekommen, aber nicht alt und greis. Schreie entweichen seiner Kehle, erfüllt von Schmerz und unstillbarem Leid. Kraftlos sackt er vor der toten Frau auf die Knie, legt weinend seinen Kopf auf ihren Bauch. Ich fühle ein leichtes Ziehen in der Brust. Ein Gefühl, das ich seit unzähligen Jahren nicht mehr gespürt habe.
Das ist nicht möglich. Ich empfinde keine Gefühle für fremde Lebewesen. Nicht für meine Opfer. Nur für einen Menschen im gesamtem Universum.
Doch ich fühle es deutlich. Schmerz. Mitleid. Warum fühle ich mit diesen Wesen mit? Der Mann hebt den Kopf und setzt einen langen, krächzenden Schrei in die feuchte Nachtluft. Dann sieht er mir direkt in die Augen. Ich werde fortgerissen, rückwärts durch bunten, glitzernden Nebel und lande mit einem unsanften Ruck in der Realität. In den Augen des alten Mannes erkenne ich den Schmerz meiner Vision wieder. „War sie Eure Frau?“, frage ich, obwohl ich die Antwort zu kennen glaube und sie nicht hören möchte.
„Das ist sie noch heute.“ Tränen füllen seine trüben Augen, er senkt wieder den Kopf. „Sie fehlt mir.“
„Sie hat einen unbewaffneten Planeten gesprengt und ein gesamtes Volk ausgelöscht.“, stelle ich mit meiner typischen Kühle fest, fühle mich bei der Aussage aber wie eine Lügnerin.
„Sie war engelsgleich.“ Seine Stimme bricht. Er holt tief Luft und fährt dann fort: „Nie hat sie jemandem Leid zugefügt. Eine Altruistin, das war sie, ja.“ Der Greis schaut mir wieder in die Augen. „Sie haben dich belogen. Und du hast es geahnt. Ich mache dir keinen Vorwurf. Hättest du nur gewusst, was du gleich erfahren wirst.“ Er nimmt meine Hand. Diesmal fliege ich nicht durch bunten Nebel. Die Sterne ziehen an mir vorbei. Sie sehen aus wie lange, weiße Linien, die im Dunklen liegen. Ich fliege auf ein grelles Licht zu, breche hindurch und dann strömt alles in mich hinein. Bilder, Erinnerungen. Eine schöne Frau mit einem güldenen Schleier, die auf dem Balkon eines brennenden Hauses steht. Sie ruft nach mir.
Kenii.
Rauch verhüllt das Bild. Ein Mann hält meine Hand, er ist über einen Meter größer als ich. „Ich beschütze dich.“, sagt er. Am blauen Himmel erscheint ein Schatten. Bomben fallen, Menschen rennen schreiend aus der Stadt hinaus, auf die wir von einem Berg hinabblicken. Von dem Raumschiff, das über der Stadt schwebt, lösen sich kleine Kapseln, die mit ihren Feuerwaffen auf fliehende Menschen schießen. Eine von ihnen fliegt direkt auf uns zu. „Papa!“, höre ich mich schreien, doch er kann nicht schnell genug reagieren. Wir sind erst wenige Schritte gelaufen, der Stadt den Rücken zugekehrt, da landet die Kapsel vor unseren Füßen. Als ich sehe, wer ihr entsteigt, entfährt mir ein gellender Schrei. Während Max mich am Arm packt, meinen Vater niederschlägt und mich in die Kapsel steckt, brennt mein Herz wie Feuer. Ein Schmerz, den ich nie zuvor empfunden habe. Er holt mich zurück in die Realität. Ich falle auf die Knie, lasse Todesschwinge los und halte mir die Hände vor mein Gesicht. Bitterlich weine ich.
„Sie haben dein Gedächtnis gelöscht, nicht wahr?“ Ich bin nicht in der Lage, ihm zu antworten. „Max dachte, er hätte mich getötet. Ich bin aufgewacht, als alles bereits vorüber war. Das Raumschiff war fort und der Himmel wieder blau.“
Zitternd sehe ich zu ihm auf. „Papa?“ Ich frage ihn, obwohl ich die Antwort kenne. Er nickt, die Augen mit Tränen gefüllt. Doch bevor ich ihn in den Arm nehmen kann, erfüllt mich eine weitere, grausame Erkenntnis. Das Ziehen, das sich in meiner Brust erneut ausbreitet, lässt meine Tränen versiegen. Ich stehe auf. Meine Knie sind weich und geben beinahe nach. Angestrengt versuche ich, die Puzzleteile zusammen zu setzen.
„Es sind so viele Erinnerungen, ich kann sie kaum ordnen.“
„Versuche zu atmen, lass sie auf dich wirken.“
Ich hole tief Luft und schließe die Augen.   Kann es tatsächlich sein?
„Du bist mein Vater.“, wiederhole ich, um es mir selbst klar zu machen. „Wir haben auf einer Erde gelebt, wurden angegriffen, Max hat mich entführt und mein Gedächtnis gelöscht. Das bedeutet, dass er für die meisten meiner Aufträge verantwortlich sein muss. Er hat immer behauptet, sie kämen über seinen Transmitter rein. Dabei waren sie von ihm selbst. Und das wiederum bedeutet…“ Mir wird schwindelig. Ich öffne die Augen und drehe mich zu meinem Vater um, den ich seit über einhundert Jahren nicht gesehen habe.
Warum altert er so stark im Gegensatz zu mir und Max?
Übelkeit überkommt mich. Erschrocken halte ich mir die Hand vor den Mund. „Mein einhundertster Mord.“ Mein Vater nickt.
„Du hast deine eigene Mutter umgebracht.“  Er kommt auf mich zu und legt einen Arm um mich. „Du konntest es nicht wissen. Sie haben dich benutzt, deine Erinnerungen genommen und du bist ihnen blind gefolgt, weil du dachtest, sie seien deine Familie. Es ist nicht deine Schuld, verstehst du?“ Plötzlich fühle ich wieder nur die Wut, die ich all die Jahre mit mir trug. Ich spüre nur noch sie. Ihre borgende Wärme, ihre Sicherheit. Ich balle die Hände zu Fäusten.
Töte ihn oder wir töten ihn.
Max war es. Er ist der Verbrecher. Er hat mich meine eigene Mutter töten lassen. Und jetzt soll ich meinen Vater töten. Damit ich für immer ihm gehöre und ich mich nie zurück erinnern kann. Nein! Das wird nicht passieren!
„Loreen?“ Perplex drehe ich mich um. Das Gras beginnt in allen grün Tönen zu tanzen. Der Stern scheint heller zu strahlen als je zuvor.
„Du hast mir das angetan!“, zische ich. Max reißt die Augen auf. Er sieht entsetzt und ängstlich aus, aber mich kann er nicht täuschen.
„Was?“ Er geht einen Schritt auf mich zu. Obwohl er Todesschwinge nicht sehen kann, scheint er zu bemerken, dass ich nach ihr greife, und weicht vor mir zurück. „Loreen, was soll das werden?“
„Was tust du hier?“ Ich habe die Welt um mich herum vergessen. Da sind nur Max und meine ungezähmte Wut.
„Deine Kapsel sendet ein Notsignal.“, erklärt er mir. „Ich bin hier, um sie zu reparieren. Aber ich wollte erst nach dir sehen, wissen, ob es dir gut geht.“ Verwirrung spiegelt sich in seinen Augen wider als er den Greis hinter mir entdeckt. „Ich verstehe nicht, was ist hier los? Ist das der Mann, der die Bilder von dir gemacht hat?“
Das Smartphone
und die Bilder habe ich vergessen! Mein Kopf beginnt sich zu drehen. Das ergibt alles keinen Sinn. Ich drehe mich zu meinem Vater. „Hast du die Bilder von mir gemacht?“
Er nickt stolz. „Ich wusste, du würdest zu diesem Ort zurückkehren, wenn du merkst, dass er in der Sammlung der Abbilder fehlt. Sie war deine Mutter. Du musstest etwas gespürt haben. Seine Familie vergisst man nie gänzlich. Man trägt sie immer im Herzen.“
Ich kann nicht mehr klar denken. Unwillkürlich sehe ich zu Max, umklammere Todesschwinge fester. Er hat mich meine Mutter ermorden lassen und wollte mich meinen Vater ebenso ermorden lassen. Die Mutter als hundertste und den Vater als tausendsten, wie poetisch, denke ich zynisch und lasse mich verschwinden. Ich bin unsichtbar und fühle mich sicher. Die unbändige Wut kontrolliert mich, nicht ich. Geschickt hebe ich Todesschwinge und lasse sie einen Moment neben Max Hals schweben. Seine bernsteinfarbenen Augen wirken traurig und hilflos. Er weiß, was passieren wird. Warum wehrt er sich nicht? Warum läuft er nicht davon, oder versucht mich zu überzeugen, ihn am Leben zu lassen? Ich spüre immer noch die Liebe.
Töte ihn oder wir töten ihn.
Moment mal!
Klick.
Langsam drehe ich mich um, lasse die Unsichtbarkeit verschwinden und sehe meinen Vater an. Er hält das Smartphone in der Hand, die Rückseite auf mich gerichtet. Doch etwas anderes beschäftigt mich.
„Warum hast du all diese Fotos gemacht?“
„Ich dachte, wenn du sie eines Tages findest, dann kehrst du zurück, erkennst die Wahrheit und kannst wieder du selbst sein, Kenii.“
Etwas an seiner Vorgehensweise machte mich stutzig. „Wenn du selbst all diese Fotos geschossen hast, warum hast du dich mir nie gezeigt? Du hattest 898 Gelegenheiten dazu.“
Ich bekomme keine Antwort. Sein Mund verzieht sich zu einer eigenartigen Fratze und seine trüben Augen glotzen mich durch das unwirkliche Licht an. Er wirkt verärgert, ungeduldig.
„Du hast die Nachricht auf mein Heron gesendet.“, geht mir plötzlich auf.
„Welche Nachricht?“, fragt Max, der unbemerkt an meine Seite getreten ist. Ich aktiviere das Heron und spiele das Hologramm ab, dass ich vor weniger als einer Stunde erhalten habe. Es zeigt wieder das Bild meines Vaters, dann die Nachricht, dann Max.
„Deswegen war die Nachricht auf meiner Muttersprache!“, fällt mir ein. „Aber warum solltest du so etwas tun?“
Töte ihn oder wir töten ihn.
Der Blick meines Vaters ist unverändert. Er geht einen Schritt auf uns zu. Max greift unwillkürlich nach meiner Hand. Ich empfinde ihm gegenüber keine Wut mehr. Ich versuche zu verstehen…
„Gaben sind etwas seltsames.“, sagt der Greis mit bedrohlicher Stimme. „Jede ist im Universum einzigartig. So wie dieser Planet. Du kannst dich unsichtbar machen, deine Mutter konnte Gedanken lesen und ich kann den Menschen falsche Erinnerungen generieren. Dank dieser Gabe habe ich eine weitere. Ich kann alles sehen, auch Lebewesen, die unsichtbar sind.“
„Warum erzählst du mir das?“
„Weil du mich längst durchschaut hast.“
Meine Hände beginnen zu schwitzen. Ich fühle so viele Dinge auf einmal. „Du hast mich hergelockt, um dich zu rächen?“
Seine Augen verdunkeln sich. Max drückt meine Hand fester. In der anderen halte ich Todesschwinge. Sie glüht wie nie zuvor.
„Du wirst nie erfahren, was wirklich passiert ist. Aber eines verrate ich dir: Ich hätte dich Max töten lassen, obwohl er unschuldig ist. Offenbar habe ich dich unterschätzt. Ich war mir sicher, du würdest nicht dahinter kommen. Aber deine Mission ist nicht beendet.“ Er macht eine Pause. Sein Blick wandert zu Max, der sich an mir vorbeischieben will, um ihm die Stirn zu bieten.
„Du hast mir genommen, was ich liebte. Jetzt sollst du denselben Schmerz erfahren!“
Mit diesen Worten hebt er seinen Stock und macht einen Satz nach vorn. Ich schubse Max zur Seite, hebe Todesschwinge, die in meiner Hand vibriert und setze zum Schlag an.

 

Wieder ziehen die Sterne an mir vorbei. Aber ich werde nie wieder allein sein.

 

5 thoughts on “(in)visible

  1. Die erste der Geschichten, die mich in den Weltraum entführt hat. Tolle Idee, gut erzählt 👍 Kennst Du die Computerzeirschrift c‘t ? Die haben in jeder Ausgabe eine ziemlich abgefahrene sci-fi Kurzgeschichte. Könnte was für Dich sein, bestimmt brauchen die regelmäßig Nachschub.

  2. Hallo,
    direkt von Anfang an dabei, sobald man die ersten Zeilen liest. Spannend und sehr flüssig zum Lesen. Die vielen Fragen die beim Lesen aufkommen halten die Geschichte am Leben und machen Lust auf mehr.
    Danke Liebe Miliama

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