PatriciaJonas

David stieg in den Fahrstuhl und drückte die 1.
In gut einer Stunde müsste er in der Uni sein. Normalerweise würde er jetzt seine Kopfhörer in die Ohren stecken und seine Lieblings-Playlist hören. Diesmal war ihm nicht danach. Er sah sich in der Fahrkabine um und ein beklemmendes Gefühl ergriff von ihm Besitz.
Kurz bevor die Tür sich schloss, stieg er aus der Kabine aus und beschloss die Treppe zu nehmen.
Du drehst langsam durch. Der Fahrstuhl hätte dich nicht gefressen.
Er schüttelte den Kopf über sich selbst, konnte aber auch nicht aus seiner Haut.
Es hatte vor zwei Wochen angefangen. Zunächst waren es nur Kleinigkeiten gewesen. Er hatte sein Haargel verlegt, nur um es nach der Uni ganz offensichtlich im Regal zu finden.
Seine Kaffeetasse stand benutzt neben der Spüle, obwohl er sich sicher war, dass er sie abgewaschen hatte.
Zunächst hatte er diese Dinge auf seine morgendliche Müdigkeit geschoben. Inzwischen befürchtete er, dass er langsam paranoid würde. Manchmal fühlte er sich verfolgt, wenn er sich umsah, konnte er jedoch niemanden entdecken, der auf ihn verdächtig wirkte.
Das Schlimme war, dass er es niemandem erzählen konnte. David wusste, wie sich das anhören würde und das ihn seine Freunde nur auslachen würden. Daher tat er, was ihm am sinnvollsten schien und versuchte, die Dinge nicht so ernst zu nehmen. Das quälende Baugefühl, dass ihn warnte, blieb jedoch bestehen.

„Hey, na das sieht ja wieder vorzüglich aus.“
Sandra ließ sich schwungvoll auf den Stuhl fallen und sah sich in der Mensa um, während David appetitlos in seinem Hackbraten herumstocherte.
„So schmeckt es auch. Genauso versalzen wie jeden Tag.“
Sandra lächelte und strich ihre dunklen Locken aus ihrem Gesicht.
„Der Koch hat es halt voll drauf, jeden Tag gleich schlecht zu kochen.“
David lächelte leicht. Zu mehr war er nicht imstande. Er kannte Sandra seit zwei Semestern, sie studierte Deutsch und Geographie auf Lehramt und sie hatten sich von Anfang an gut verstanden. Sie hatte ihm in den Semesterferien beim Umzug und Renovieren geholfen.
„Was ist los?“ In ihre braunen Augen war ein besorgter Ausdruck getreten, auch wenn sie versuchte, ihn durch ein Lächeln zu überspielen.
„Nichts. Ich bin nur müde. Die Vorlesung war einschläfernd. Du kennst ja Professor Kaufmann und seine Vorliebe dafür, während des Sprechens die Wörter zu suchen.“
Sandra lachte und nickte, aber der Ausdruck in ihren Augen blieb.
„Und es geht spannend weiter. Kommst du mit zu Fachdidaktik, oder schwänzt du?“
Er wusste, was sie vom Schwänzen hielt.
„Nein, ich komme mit.“

Die Hälfte ihrer Kommilitonen war schon im Seminarraum, als sie sich auf ihre üblichen Plätze setzten.
David packte seine Sachen aus und legte seinen Schreibblock auf den Tisch, als er das Gefühl hatte, dass ihm die Luft wegbleiben würde.
Er starrte auf den Tisch. Das konnte nicht sein. Er blickte sich um und beobachtete die anderen Studenten.
Sah jemand zu ihm herüber? Verhielt sich jemand auffällig? Alles schien wie immer und dennoch hatte er das Gefühl, dass sich die Atmosphäre im Raum verändert hatte.
Erneut starrte er auf die Tischplatte, von der aus ihn ein mit Bleistift geschriebener Text verängstigte.
Ich weiß es. Ich habe es nicht vergessen. Du etwa?
Sandra drückte seinen Arm. „Hey, was ist los?“
David deutete nur auf den Tisch. Zu seiner Überraschung grinste Sandra, nahm ihren Bleistift und schrieb in Druckbuchstaben: NEIN. ICH BIN AUCH EIN STREBER!
„Mal sehen, ob er zur nächsten Stunde geantwortet hat. Ich hatte schon mal einen Tisch-Schreibfreund. Wir haben uns das ganze Semester Nachrichten hinterlassen.“
David sah sie an und rang sich zu einem Lächeln durch.
Natürlich. Studenten schreiben ständig Nachrichten an andere. Was ist nur mit mir los?
Er konnte nicht aufhören seine Kommilitonen prüfend zu betrachten.
Sie wirken so unbeschwert. Er spürte Trauer in sich aufsteigen. Sie haben auch keine Schuld auf sich geladen.

David stieg aus der Straßenbahn. Er konnte sein Haus von der Haltestelle aus sehen. Er hatte sich immer gefreut nach Hause zu kommen. In letzter Zeit war die Freude der Angst gewichen.
Er stieg in den Fahrstuhl, drückte die 8 und sah in den Spiegel, der im Aufzug befestigt war. Sein Herzschlag beschleunigte sich, als er im Spiegel einen Schriftzug sah, der hinter ihm an die Wand der Fahrkabine geschrieben war.
Er drehte sich um und starrte auf die Wand.
Ich weiß es. Ich habe es nicht vergessen. Du etwa?
David schluckte. Nun war es sicher, jemand war hinter ihm her. Irgendjemand wusste um die Schuld, die er auf sich geladen hatte und wollte sich nun dafür rächen.
Er hatte Mühe zu atmen. Es war ein Alptraum. David stieg aus dem Aufzug und sah sich auf dem Hausflur um. Es war niemand da. Er lauschte, ob er etwas auf der Etage über oder unter sich hören würde. Nichts.
Er ging schnell zu seiner Wohnungstür, schloss auf und schloss sofort hinter sich ab.
Jemand der so weit ging, würde sich nicht darauf beschränken ihm nur Nachrichten zu schreiben. Ihm war klar, dass, wenn er sich nicht täuschte, und die Dinge in seiner Wohnung tatsächlich ihre Plätze gewechselt hatten, jemand sich Zugang zu seiner Wohnung verschaffen konnte.
Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, schloss er die Wohnungstür wieder auf, zog den Schlüssel ab und nahm ihn in seine Faust.
Er lauschte. Hörte er etwas? Nein. Es drangen nur Geräusche von der Straße an seine Ohren. Er hatte wohl vergessen das Schlafzimmerfenster zu schließen.
Habe ich es wirklich offen gelassen? Er fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht.
Das ist doch irre. Jemand schreibt etwas in den Fahrstuhl und du rastest so aus. Selbst wenn jemand weiß, was damals passiert ist, bedeutet das nicht, dass du in Gefahr bist. Und wenn zehn Sätze in den Hausflur gekritzelt werden. Jemand will dir Angst machen. Mehr traut sich derjenige nicht. Soll er doch schreiben, was und so viel er will.
David versuchte sich zu beruhigen und atmete tief durch.
Du kannst es nicht mehr ändern.
Trotzdem er sich selbst Mut zugesprochen hatte, prüfte er, ob sich jemand in seiner Wohnung aufhielt. Es ging sogar so weit, dass er in seinem Kleiderschrank nachschaute, ob sich jemand dort versteckt hielt.
Das ist doch paranoid. Beruhige dich.
Zum ersten Mal hielt er es für einen Glücksumstand, dass er nur zwei Zimmer besaß. Wäre seine Wohnung größer, hätte er mehr abzusuchen, da es mehr potentielle Verstecke gäbe.
David schaute noch einmal unter sein Bett, bevor er sich im Wohnzimmer auf die Couch fallen ließ. Er wusste nicht was er tun sollte. Da er seinen Verfolger nicht kannte, konnte er sich nicht mit ihm aussprechen. Dem Gefühl bedroht zu sein, gesellte sich nun auch noch Hilflosigkeit zu. Eine fatale Kombination.
David schloss die Augen und bemühte sich, einen klaren Kopf zu bekommen und überlegte, welche Möglichkeiten er hätte, um die Sache zu beenden.
Plötzlich klingelte das Handy. Es war nicht das Klingeln, weil jemand anrief, sondern die Weckeinstellung. Viel schlimmer allerdings war, dass es nicht sein Handy war.
Seines lag neben ihm auf der Couch und gab keinen Ton von sich, während aus der Richtung des Fernsehers ein lautes Piepen erklang.
David erschauderte. Er brauchte ein paar Sekunden, bevor er sich imstande fühlte aufzustehen und sich dem Fernseher zu nähern.
Das Klingeln hörte nicht auf und jeder einzelne Ton fuhr ihm durch Mark und Bein.
Das Smartphone was hinter dem Fernseher lag, war ein älteres Modell, sah jedoch neu aus. Wer auch immer es da platziert hatte, hatte nicht viel investieren wollen.
David nahm das Gerät in seine zitternden Hände und schaltete den Alarm aus. Das Smartphone war nicht durch einen Code geschützt und David wollte schauen, was sich auf dem Handy befand. Doch bevor er dazu kam in dem Telefon zu stöbern, piepte es erneut. Eine SMS ging ein.
David wurde schlecht und er spürte, wie Magensäure seine Speiseröhre hinaufstieg.
Er öffnete die SMS und beinah wäre ihm das Smartphone aus der Hand gefallen. Er sah auf ein Bild von sich selbst. Auf dem Bild stand er an der Kasse seines Stammsupermarkts.
Die Schrift auf dem Bild sagte: Ich weiß es. Ich habe es nicht vergessen. Du etwa?
Die nächste SMS traf ein. Diesmal zeigte das Bild das Haus von seinen Eltern.
Ich weiß es. Ich habe es nicht vergessen. Du etwa?
Das nächste Bild kam an. Diesmal zeigte es David, wie er nachts in seinem Bett lag und schlief.
Ich weiß es. Ich habe es nicht vergessen. Du etwa?
David sank zu Boden. Seine Augen füllten sich mit Tränen.
Das nächste Bild zeigte einen Grabstein. Der Text dazu war eindeutig.
MÖRDER!
Sein Herz pochte in seiner Brust als wäre er einen Marathon gelaufen. Was sollte er tun? Zur Polizei gehen? Vielleicht.
Sein Verfolger war eine Sache, seine Schuld eine andere.
Ein erneutes Klingeln riss ihn aus seiner Starre. Diesmal war es die Klingel seiner Wohnung.
War es der Täter? Wollte er seine Rache vollenden?
David stand auf und ging langsam zur Tür und hielt den Hörer der Sprechanlage ans Ohr.
„Ja.“ Er war erschrocken als er hörte, wie schwach und zitternd seine Stimme klang.
„Ich bin’s, Sandra. Lässt du mich rein?“ Sie klang so fröhlich, wie es ihrem Gemüt entsprach.
Er öffnete und wartete darauf, dass sie schließlich aus dem Fahrstuhl stieg.

Sandra’sLächeln erstarb als sie ihn sah.
Sie schob ihn in seine Wohnung und schloss die Tür hinter sich.
„Meine Güte, David, was ist los? Du siehst furchtbar aus.“
David schluckte, nickte und führte sie ins Wohnzimmer.
Sandra hatte sich alles angehört und sich mit fassungslosem Gesichtsausdruck die Bilder auf dem Handy angesehen.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich meine, wer kommt hier in die Wohnung? Wer tut so etwas? Vor allem hast du doch niemanden umgebracht. Wir sollten zur Polizei gehen.“
David schwieg.
Sandra stupste leicht seinen Arm an.
„Hey, was ist?“
David atmete tief ein.
„Es stimmt.“
Ihre braunen Augen sah ihn besorgt an.
„Was stimmt? David, wovon sprichst du?“
Er sah sie an und sie sah seinen gequälten Gesichtsausdruck und einen Schmerz in seinen Augen, der sie erschrak.
„Es ist wahr. Ich bin für den Tod von einem Menschen verantwortlich. Ich habe ihn nicht eigenhändig getötet, aber was macht das für einen Unterschied?“
Sandra schwieg, nickte ihm aber ermutigend zu, weiter zu erzählen.
„Es ist fünf Jahre her. Ich hatte einen Jungen in der Klasse, der keinen guten Stand bei uns hatte. Rückwirkend weiß ich nicht einmal mehr weshalb. Selbst wenn er etwas eigen war, gibt es keine Entschuldigung dafür, wie wir mit ihm umgegangen sind. Ich war ganz vorne mit dabei, wenn es darum ging, auf ihm herumzuhacken. Seine Mutter war mehrmals in der Schule, aber unsere Klassenlehrerin hat das Ganze immer abgeblockt. Als das Wort Mobbing aufkam, sagte sie, dass seien normale Kinderärgereien und das Mobbing ein heftiger Vorwurf sei. Außerdem sollte Jonas, so hieß der Junge, vielleicht sein eigenes Verhalten ändern. Wir fanden das damals lustig.“
Sandra sah ihn fassungslos an und David weinte.
„Was ist passiert?“, fragte sie, obwohl sie es sich denken konnte.
„Zunächst war er immer stiller geworden. Schließlich hat er sich das Leben genommen. Es ist meine Schuld. Ich habe die anderen ermutigt. Ich fand kein Ende und keine Gnade war in mir. Es hat mir Spaß gemacht ihn zu ärgern. Ich weiß nicht einmal mehr warum.“
Sandra schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
„Es tut mir so leid. Mein Gott, es tut mir leid. Ich würde es so gerne ungeschehen machen. Nur kann ich es nicht. Ich kann es einfach nicht. Jedes Jahr an seinem Todestag gehe ich zu seinem Grab. Entweder mitten in der Nacht oder sehr spät abends. Ich möchte seiner Familie nicht begegnen. Weißt du, ich hatte damals überlegt, seine Mutter zu besuchen. Aber was sollte ich sagen? Wie hätte ich der Frau unter die Augen treten können?
Ich denke jeden Tag an ihn. Vielleicht ist das jetzt meine gerechte Strafe. Ich kann nichts mehr tun. Das Einzige ist, dass ich mir selbst versprochen habe, immer und überall aufzustehen und mich für die einzusetzen, die von anderen angegriffen werden. Damit er nicht vergessen wird. Damit aus diesem schrecklichen Fehler wenigstens etwas Gutes entstehen kann.“
Er weinte und Sandra schwieg. Nach ein paar Minuten in denen beide schwiegen, legte sie tröstend ihren Arm um ihn.
„Vielleicht solltest du das seiner Familie schreiben. Ich denke, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass sich jemand von denen rächen möchte. Auffällig ist doch, dass der Täter dir nicht droht. Er macht dir Angst, aber er droht nicht, dir etwas anzutun.“
David nickte. Es war tröstend, dass Sandra ihn nicht verurteilte.
„Nächste Woche ist sein Todestag. Ich denke, ich werde ihnen einen Brief hinterlassen.“
Sandra zog ihn an sich und strich über seinen Rücken.
„Warten wir bis dahin ab. Sollte sich nichts ändern, gehen wir zur Polizei.“

Der Tag war gekommen. Es war noch dunkel, als David sich auf den Friedhof schlich. Er legte seine Blumen auf Jonas’ Grab und den Brief auf seinen Grabstein. Ein Weile blieb er stehen und betete.
Es wurde langsam hell, als er beschloss nach Hause zurückzugehen. Er sah sich noch einmal um und plötzlich sah er eine Gestalt. Eine junge Frau, die hinter ein paar Sträuchern stand. Langsam trat sie hinter den Sträuchern hervor.
David erschrak.
Sandra sah ihn und nickte ihm kurz zu, bevor sie sich umdrehte und ging.
David blinzelte. War sie es gewesen? Hatte sie ihm das angetan. Natürlich, sie hatte die Gelegenheit. Sie hatten zusammen renoviert. Es wäre ihr ein leichtes gewesen, sich einen Nachschlüssel machen zu lassen.
Sie wusste, auf welchem Platz er in der Uni immer saß.
David überlegte, ob Jonas eine Schwester gehabt hatte. Er wusste es nicht. Möglich wäre es natürlich.
Seine Gedanken rasten, als er zurück nach Hause ging.
Er stieg aus dem Fahrstuhl. Der Satz an der Wand war weggewischt worden.
David stieg aus der Kabine und ging zu seiner Wohnungstür. Sofort fiel ihm der hellgrüne Briefumschlag auf, der auf seiner Fußmatte lag.
David, stand in feiner, schnörkeliger Schrift darauf.
Er öffnete den Umschlag und nahm ein Foto heraus. Es zeigte Jonas neben einem dunkelhaarigen Mädchen. Sie war etwas jünger als er. Vielleicht 13 Jahre. David drehte das Foto um. Es stand nur ein Satz darauf, der in derselben Schrift geschrieben war.

Es ist vergeben.

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