LarsKain

Ein dunkler Schemen huscht durch die eisige Nacht. Sein langer Mantel scheint mit der Dunkelheit zu verschwimmen. Obwohl die Kapuze tief ins Gesicht gezogen ist, funkelt die Maske jedes Mal, wenn er sich nervös umdreht.

Die Welt ist düster geworden, durchfährt es ihn und er zuckt zusammen, als ob jemand hinter ihm stünde. Dabei hat sich die Decke aus Stille schon vor Stunden über die Stadt gelegt, sodass diese in ihren wohlverdienten Schlaf gesunken ist. Niemand ist um diese Zeit noch unterwegs. Nicht einmal sein eigener Schatten begleitet ihn in dieser Dunkelheit. Dennoch wählt er immer wieder den Umweg durch die schmalsten Gassen. Sein Blick huscht durch die Nacht, als erwarte er jemanden zu sehen.
Halte durch, ermahnt er sich selbst. Bald würde er seine rettende Wohnung erreichen. Niemand weiß, wer sich hinter meiner Maske verbirgt. Niemand weiß, wer ich bin. Wie auch, wenn ich es nicht einmal selbst weiß?

Einmal mehr starrt er in die Finsternis, bevor er sich mit einer kräftigen Bewegung über den niedrigen Gartenzaun schwingt. Einzig und allein die leuchtende 211 an der Hauswand starrt ihn mit stechenden Augen an, als er sich dem Haus nähert. Selbst der Bewegungsmelder scheint zu schlafen, denn die Lampe bleibt aus, als er den Schlüssel im Schloss herumdreht.

Er quetscht sich durch die halbgeöffnete Tür und drückt sie hinter sich zu, obwohl sie automatisch schließt. Ohne das Licht anzuschalten, huscht er er die Treppe so hinab, als schwebe er. Unten angekommen erstreckt sich ein langer Gang. Einen Augenblick später bleibt er vor einer Stahltür stehen. Kurz hält er inne, als wolle er sich vergewissern, dass alle noch schlafen. Noch immer herrscht Todesstille.

Vorsichtig dreht er den Schlüssel im Schloss herum. Als das leise Klicken ertönt, zuckt er kurz zusammen und scheint einen Augenblick lang irritiert. Habe ich nicht zweimal abschlossen?

Mit aller Kraft zieht er an der Klinke und die schwere Tür öffnet sich langsam, aber leise. Er quetscht sich durch den schmalen Spalt und drückt ihn hinter sich wieder zu. Sofort schiebt er die beiden Riegel vor zur Seite und rüttelt zur Sicherheit an der Türklinke, doch sie bewegt sich keinen Millimeter.

Ein Surren ertönt, als er auf den Lichtschalter drückt. Einen Moment später beginnen die Neonröhren den kahlen Raum zu erhellen. Er setzt seine Kapuze ab und will gerade die Maske vom Gesicht nehmen, als er die offene Tür zum Wohnzimmer bemerkt.

Das kann nicht sein!

Mit zitternden Beinen nähert er sich der offenen Tür. Nichts ist zu sehen. Niemand ist zu sehen. Wie soll es auch anders sein? Habe ich etwa erwartet, dass jemand auf der Couch sitzt und mich erwartet?

Er wirft einen kurzen Blick in die Küche, bevor er zurück in den Flur geht und die Tür zum Badezimmer aufreißt – auch hier ist niemand zu sehen.

Er beginnt vor Erleichterung so laut zu lachen, dass es von den Wänden widerhallt. Niemand weiß, dass ich hier bin.

Sofort wird die Illusion durch das klingende Handy auf dem Tisch zerschmettert. Er zuckt zusammen, als hätte der Schlag ihm und nicht seiner Vorstellung gegolten. Das kann nicht sein!

Während er weiterhin von der fröhlichen Melodie verspottet wird, starrt er bewegungslos auf den Tisch, als ob sie verstumme, wenn er es nur lange genug hinsieht.

Doch das Handy singt nur umso lauter und fröhlicher weiter, bis er es endlich in die Hand nimmt. Ein weiteres Mal zuckt er zusammen, als er das eingeblendete Bild erkennt, drückt aber dennoch auf den grünen Hörer.

Ich wusste, dass diese Teufelsdinger mich eines Tages ins Verderben stürzen.

Es rauscht kurz, bevor eine Frauenstimme ertönt: »Kain Schneider.«

Bei dem Klang seines Namens zuckt er zusammen und lehnt sich an die stützende Wand. Langsam rutscht er an dieser herunter, bis er auf dem Boden sitzt.

»Wer ist da?«, keucht er, obwohl er bereits genau weiß, wem diese Stimme gehört. Zu genau. Einige Zeit herrscht Stille. Kain starrt auf die Zeiger der Uhr. Die Zeit steht niemals still. Der Vergangenheit kann niemand entfliehen.

»Was willst du?«, flüstert Kain in das Mikrofon.

Sofort ertönt eine Antwort aus dem Lautsprecher: »Öffne die Galerie!«

»Was soll ich dort finden?«, frage er, während er bereits die Fotos betrachtet. Seine Augen weiten sich mit jedem neuen Bild, das auf dem Bildschirm zu sehen ist. Bilder auf denen er selbst zu sehen ist. Bilder von ihm ohne Maske. Bilder aus seiner Wohnung. Bilder von damals!

Wie ist das möglich?

Die kalte, emotionslose Frauenstimme ertönt: »Ich kenne die gesamte Wahrheit, Kain. Ich weiß, was du damals getan hast. Ich weiß, was du jede Nacht tust, wenn du deinen Bunker verlässt. Du hast gute Arbeit geleistet, deine Spuren zu verwischen – doch sei dir sicher: Du wirst mir niemals entkommen. Ich werde dich finden, egal wo du dich herumtreibst.«

»Was willst du?«, seine Stimme wird mit jedem Ton schriller.

»Sei pünktlich um 15 Uhr im Dringösel – ich hoffe, du weißt, wo das ist. Ohne Maske!«

Er nickt, bis er merkt, dass sie das nicht sehen kann. »Ich kenne das Café.«

»Behalte das Handy! Ich rufe dich an, wenn es was Neues gibt!«

Ohne auf eine Reaktion abzuwarten, legt sie auf und nur noch das leise Tuten ist zu hören. Er legt das Handy auf den Tisch. Ein kurzer Blick auf die Uhr verrät ihm, dass es bereits nach drei Uhr ist. Ihm bleiben weniger als 12 Stunden bis zu diesem merkwürdigen Treffen.
Warum gerade dort? Was hat sie vor?

Unzählige Frage durchbohren seinen müden Kopf. Er fühlt sich, als fließe flüssiger Beton durch seine Adern. Jede Bewegung kostet ihm all seine Kraft. Schließlich schafft er es, sich auf die Couch zu hieven und sinkt in einen unruhigen, alptraumgeplagten Schlaf.


Als er wieder wach wird, fühlt er sich, als hätte er nicht geschlafen. Ständig verfolgen ihn Bilder, die er am liebsten für immer verdrängen will. Bilder, vor denen er damals geflohen ist. Doch noch immer holen sie ihn regelmäßig ein und er hat das Gefühl, dass sie mit jedem weiteren Tag stärker und drängender werden.

Das ist nicht mehr mein Leben. Es ist über 15 Jahre her. Das hier ist mein Leben, nicht das, was hinter mir liegt, versucht er sich einzureden, schafft es aber nicht einmal, sich selbst zu überzeugen. Ich werde den Fängen der Vergangenheit niemals entfliehen können.

Er blickt zum Handy auf dem Tisch und widersteht dem Bedürfnis es gegen die Wand zu schmettern. So einfach würde sie es ihm nicht machen.

Er versucht sich einen Reim auf ihren Anruf zu machen, während er etwas Brot aus dem Schrank holt und sich an den Tisch setzt. Ihm fällt auf, dass er noch immer seine Maske trägt und legt sie auf den Tisch. Sie hat mich eh schon erkannt.

Noch immer begreift er nicht, warum sie sich mit ihm im Dringösel treffen will. Das letzte Mal, dass er dieses Café betreten hat, war vor 15 Jahren, kurz nach seiner Ankunft in dieser Stadt. Kurz nach der Flucht. 15 Jahre, ist sie her. 15 Jahre, seitdem ich alles hinter mir gelassen habe.

Kain wirft einen Blick zur Uhr. Ich habe zu lange geschlafen. Nur noch eine Stunde.

Er spült sich das Brot mit etwas Wasser die Kehle herunter. Schon der Gedanke seine Wohnung tagsüber zu verlassen, bringt ihm zum Schwitzen. Nicht einmal seine Maske würde er tragen können – selbst wenn sie es nicht verboten hätte, wäre sie tagsüber zu auffällig.

Er ringt mit sich selbst, ob er nicht einfach in seiner rettenden Wohnung bleiben könnte, doch mit einem Blick auf das Handy entscheidet er sich dagegen. Sie war hier.

Widerwillig steckt er sich das Handy in die Hosentasche, obwohl alles in ihm schreit, es einfach zu zerstören.

Mit zittrigen Finger dreht er schließlich den Schlüssel im Schloss herum. Erst nach mehreren Anläufen gelingt es ihm die Tür zu öffnen. Ebenso lange braucht er, um sie zu schließen. Er fühlt sich nackt, als er ohne Maske die Treppe hinaufgeht.

Die Tür nach draußen fühlt sich an, wie das Tor zur Unterwelt. Er erwartet jeden Augenblick von dem Höllenhund Kerberos angefallen zu werden. Selbst der Tartaros wäre mir lieber, als hier zu sein.

Ein paar Minuten später hat er seinen anfänglichen Schock überwunden und macht sich auf den Weg durch die Stadt. Immer wieder weicht er anderen Menschen aus, doch diese scheinen ihn nicht einmal zu bemerken. Erstaunlich.

Der Fußmarsch fühlt sich an wie ein Marathon und Kain ist froh, als er endlich das rettende Schild erblickt: Café Dringösel.

Er sieht durch das Schaufenster in das Café, doch von ihr ist nichts zu sehen. Vielleicht sollte ich hineingehen?

Eine kleine Glocke kündigt ihn an, als er die Tür öffnet und der Barista nickt ihm kurz zu. Kain schaut sich flüchtig in dem gemütlich eingerichteten Café um und setzt sich an einen leeren Tisch in der Ecke. Leise Musik vermischt sich mit dem Duft nach frischem Kaffee und Kuchen, doch Kain ist viel zu angespannt, um seine Umgebung genießen zu können. Immer wieder sieht er sich nach ihr um, doch er kann sie nicht entdecken. Dabei ist es laut der kunstvoll verzierten Uhr bereits nach 15 Uhr. Was soll ich an diesem Ort?

»Wollen Sie etwas trinken?«, reißt ihn eine sanfte Stimme aus den Gedanken.

»Nein … doch. Einen Kaffee. Schwarz.« Er versucht dem Keller freundlich zuzulächeln.

Der Kellner deutet auf den leeren Platz ihm gegenüber. »Für Ihre Begleitung ebenfalls?«

»Welche Begleitung?«

»Haben Sie nicht für drei Leute reserviert? In der E-Mail stand, dass ich einen Tisch für drei Personen freihalten sollte. Das fand ich etwas seltsam, da niemand reserviert. Stammkunden wissen, dass immer Tische frei sind und neue Kunden haben wir nur selten …«

Er lässt seinen Satz unvollendet stehen und Kain kann gerade noch widerstehen, den vermeintlichen Irrtum aufzuklären. Er könnte sich über sich selbst ärgern. Nicht auffallen. Niemand soll wissen, dass ich hier bin! Kann es sein, dass es zum Plan gehört? Doch warum drei Personen?

»Gerne«, erklärt er dem Kellner, um ihn wegzuschicken, als er bemerkt, dass dieser noch immer wartend vor dem Tisch steht.

»Wird erledigt«, verabschiedet sich der Kellner und huscht mit eleganten Schritten weiter. Erst jetzt sieht Kain sich in dem Laden genauer um. Er bemerkt, dass der vermeintliche Kellner bloß der Barista war, der seinen Platz hinter der Theke verlassen hat, um seinen einzigen Kunden zu bedienen. Wieso ist es hier so leer? Hier stimmt doch etwas nicht!

Viertel nach drei zeigt die Wanduhr bereits an, doch noch immer ist keine Spur von ihr zu erkennen. Beobachtet sie mich bloß und lacht sich darüber kaputt, dass ich hier ewig warte? Zwar will dies nicht so recht zu dem Bild passen, dass er von ihr hat, doch was bedeutet das schon?

Der Barista kommt mit drei Tassen Kaffee zurück zum Tisch und stellt sie ab.

»Verspäteten sich ihre Begleiter?«, fragt er freundlich.

»Sieht wohl so aus«, brummt Kain, nicht in der Stimmung für Smalltalk. Wo bleibt sie? Seine Gedanken stehen nicht still und umkreisen immer wieder den merkwürdigen Umstand, dass sie ihn in dieses menschenleere Café schickte.

Der Barista scheint zu verstehen, dass Kain nicht zu freudigen Gesprächen auferlegt ist und verschwindet nach einem Nicken wieder hinter seinem Tresen.

Kain hingegen starrt in seinen Kaffee und wartet. Worauf er wartet, dass weiß er selbst nicht. Er wartet darauf, dass etwas passiert; dass er ein Zeichen erhält. Wer sind diese zwei Leute?

Gerade als er zu dem Barista gehen will, um ihn nach der E-Mail zu fragen, die Kain nicht mehr aus dem Kopf geht, hört er die Glocke an der Tür.

Er hätte mit allem gerechnet und doch verschlägt ihm der Anblick der beiden Personen den Atem. Er versinkt in seinen Stuhl und wünscht sich, ihrer Aufforderung niemals gefolgt zu sein. Die Beiden nicken dem Barista kurz zu und er deutet auf die freien Plätze neben Kain. Doch das ist gar nicht nötig, denn sie marschieren bereits zielstrebig auf den einzigen besetzten Tisch zu.

Kain blickt zur Tür, auch wenn er weiß, dass eine Flucht sinnlos ist, denn er wurde schon längst gesehen und erkannt. Erkannt wie damals. Ein einziger schneller Blick.

»Kain«, begrüßt ihn die Frau und er ist froh, die Kaffeetasse nicht mehr in der Hand zu halten, denn sie wäre ihm bei dem Klang seines Namens ganz sicher aus der Hand gefallen. Wie kann ein einziges Wort so viel Macht besitzen?

Die Beiden setzen sich ihm gegenüber.

»Wir sind froh, dass du uns hierher eingeladen hast«, begrüßt ihn sein Vater und erhebt wie zum Anstoßen seine Kaffeetasse in Kains Richtung.

Verwirrt sieht dieser auf. »Welche Einladung?«

»Na die E-Mail mit der du uns hierher eingeladen hast! Übrigens tut es uns leid, dass wir zu spät sind, aber wir kamen so schnell wie wir konnten«, erklärt seine Mutter und lächelt ihm zu.

Was ist hier los?

»Ach ja, die E-Mail«, meint er nickend, um sich seine Verwirrung nicht anmerken zu lassen. Denn nun ist er sich sicher, dass es kein Zufall mehr ist. Sie muss hinter der E-Mail stecken. Aber warum? Was will sie erreichen?

Seine Mutter nippt an ihrer Kaffeetasse und sieht ihren Sohn zärtlich an, bevor sie aufsteht und auf ihn zugeht. Im nächsten Augenblick findet er sich in ihrer Umarmung wieder. Er versucht sich dagegen zu wehren, doch nun hält ihn auch sein Vater in der Umarmung gefangen.

Womit habe ich das verdient? Ich habe das nicht verdient!

»Du warst damals einfach weg« Er spürt ihre Tränen auf seine Schulter tropfen. »Gerade in dem Augenblick, als wir dich am meisten gebraucht hätten. Tilda …«, sie stockt, als gelinge es ihr nicht, es auszusprechen: »Es ging alles so schnell und niemand konnte es verstehen.«

Leise schluchzt Kains Vater und hält diesen noch immer in seiner Umarmung gefangen. Tränenüberströmt flüstert seine Mutter weiter: »… sie war immer so nett. So ein tolles Mädchen.«

Plötzlich wird sie lauter, fast schon schreiend, sodass Kain, ohne die haltenden Arme seines Vaters, vor Schreck umgefallen wäre: »Wer tut sowas? Und warum?«

Neid? Hass? Mordlust?

Die Umarmung wird fester, sodass sich Kain fühlt, als läge er bereits unter der Erde begraben. Erdrückt oder erstickt? Welcher Tod ist wohl angenehmer?

»Wenn ich diese … diese …«, er ringt keuchend nach Worten, »Ich schwöre dir, ich werde ihr mit bloßen Händen den Hals umdrehen und…!«

»Beruhig dich!«, unterbricht Mutter meinen aufgebrachten Vater.

»Aber es ist doch wahr!«, erwidert er, beruhigt sich aber merklich. Deutlich ruhiger wendet er sich seinem Sohn zu. »Ich bin jedenfalls froh, dass du bei uns bist.«

»Könnt ihr mich mal wieder atmen lassen?«, keucht Kain und seine Eltern lassen schließlich von ihm ab. Er fällt zurück in seinen Stuhl und sie setzten sich wieder ihm gegenüber hin.

Seine Eltern betrachten ihn, als erwarten sie etwas von ihm.

»Ich konnte es damals einfach nicht mehr ertragen«, gesteht Kain schließlich, da er die Stille nicht mehr aushalten kann. »All die Alpträume, die mich jede Nacht verfolgten. All diese Gedanken, Vorwürfe …«

»Ach, du musst dich doch nicht sorgen«, beruhigt sein Vater ihn. »Du warst nicht schuld daran, was passiert ist.«

»Nun erzähl mal, wie es dir ergangen ist. Hast du Freude gefunden? Hast du einen Job? Wo wohnst du?«, fragt ihn seine Mutter schließlich aus und er seufzt kaum hörbar.

Bitte nicht! Erlös mich!

Er sinkt immer tiefer in seinen Stuhl und versucht die fragenden Gesichter zu ignorieren. Gerade als sein Vater ansetzen möchte, etwas zu sagen, ertönt eine Melodie, die Kain viel zu bekannt ist. Er zuckt zusammen und versucht panisch das Handy aus der Hosentasche zu ziehen. Mit einem Schlag kehren all die Ängste und Gedanken wieder, als er das Gespräch annimmt.

»Wie ich sehe, habt ihr euch gut unterhalten«, meint Tilda, ohne eine Begrüßung. »Erzähl ihnen die Wahrheit! Jetzt, während ich am Telefon bin!«, fordert sie.

»Seit wann hast du ein Handy und wer ist dran?«, fragt sein Vater neugierig, doch Kain hebt seine Hand, um ihn zum Schweigen aufzufordern.

»Welche Wahrheit? Dass ich damals geflohen bin, weil ich es nicht mehr ertragen konnte? Dass ich es nicht mehr ertragen konnte, dich zu sehen, wie du mich verlassen hast, um mit seinem Bruder zusammen zu sein?«, fragt er energisch.

»Nein, die komplette Wahrheit!«, ihre Stimme wird schriller und lauter.

»Euren Sohn zu sehen, der in Wahrheit meiner war?«

Seine Eltern sehen ihn erstaunt an. »Du hast einen Sohn?«, fragt sein Vater und Kain nickt.
»David … Tilda hat Abel angelogen, ihm gesagt, dass David von ihm sei. Sie wusste es, die ganze Zeit«, flüstert Kain. »Ich konnte es nicht mehr ertragen und bin geflohen.«
Plötzlich wird ihm bewusst, wie sehr er seine Eltern in all den Jahren vermisst hat. Wie oft er sich gewünscht hat, dass sie bei ihm sein können.

Es wird ruhig, sodass man der leisen Musik im Hintergrund lauschen kann. Kain bemerkt, dass er noch immer das Handy in der Hand hält, aus dem mittlerweile nur noch ein leises Tuten ertönt.

»Komm her mein Sohn«, meint sein Vater und die beiden versinken in eine lange Umarmung.

Abrupt wird die Tür aufgerissen und eine Frau, mit zerzausten Haaren und dunklen Augenringen betritt den Laden. Sie wirkt, als wäre sie bereits mehrere Tage wach und dennoch sieht sie mit stechendem Blick zu Kain.
»Was willst du, Tilda?«, brummt Kains Vater drohend, als er sie bemerkt.

»Ich bin hier, um die Wahrheit zu erzählen. Ich bin hier, um Kains Lügen aufzudecken!«

Sein Blick pendelt zwischen Tilda und Kain hin und her, als könnte er sich nicht entscheiden, wen er ansieht.

»Verschwinde oder ich rufe die Polizei!«, knurrt er.

»Nicht nötig«, mischt sich der Barista ein. »Die habe ich bereits gerufen. Die kommt in ein paar Minuten, bis dahin haben wir noch ein bisschen Zeit, um uns zu unterhalten. Aber vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen. Uwe Klein. Privatdetektiv.«

Er streckt seinem Gegenüber die Hand entgegen, der sie verwirrt entgegennimmt.

»Was soll das?«, fragt Kains Vater Tilda. »Stimmt es, dass David der Sohn von Kain ist?«

»Was tut das noch zur Sache?« Langsam kommt sie auf ihn zu und nickt dem Privatdetektiv zu. »Ja, es war sein Sohn. Ja, ich habe Abel angelogen. Abel hat Daniel geliebt. Ich konnte es nicht über mich bringen.«

Doch bevor er sich auf Tilda stürzen kann, reicht der Detektiv ihm eine Mappe. Verwirrt betrachtet er das Papier in seinen Händen.

»Schauen Sie rein«, fordert Uwe ihn auf.

Eingehend studiert dieser die Seiten und wirft wieder finster werdende Blicke in die Richtung seines Sohnes, der noch immer am Tisch sitzt und fast schon teilnahmslos wirkt.

»Was steht drin?«, fragt Kains Mutter, die neben ihrem Mann steht, doch er reicht ihr die Mappe wortlos weiter.

»Ist das wahr?«, flüstert sie, ohne den Blick von der Mappe abwenden zu können. Es ist, als ob die unzähligen, blutverschmierten Leichen ihr nicht erlauben wegzusehen, bis sie die Wahrheit akzeptiert hat. Obwohl sie den Mann mit dem Messer in der Hand schon lange erkannt hat, klammert sie sich an den letzten Funken der Hoffnung, der ihr noch bleibt.

»Für die Polizei war der Fall damals erledigt, niemand wollte die Wahrheit wissen«, erklärt Uwe, doch seine Worte finden keine Beachtung, denn in dem Augenblick stürzt sich der Vater mit verzerrtem Blick auf seinen Sohn.

»Du Monster! Du …«, doch in seiner Wut wollen ihm keine passenden Beleidigungen einfallen. Leise hört man das immer näher kommende Martinshorn während er auf seinen Sohn einprügelt, der blutüberströmt am Boden liegt, aber nicht einmal daran denkt sich zu wehren.

***

»Ich bin wieder da«, rief Tilda freudig, während sie die Tür der kleinen Wohnung aufschloss. Doch niemand antwortete ihr. Niemand kam ihr entgegen, um sie zu begrüßen.

Wieso ist es so still?

»Hallo? Wo seid ihr?« Sie öffnete die Tür ins Wohnzimmer und was sie sah, verschlug ihr den Atem. Zuerst hielt sie den Klumpen auf dem Boden nur für ein Kissen, doch dann bemerke sie die dunkle Blutlache. Wie eine seltsame verrenkte Puppe lag ihr Sohn auf dem Laminatboden. Seine Kleidung war zerrissen und die unzähligen Messerstiche waren deutlich zu erkennen.

Obwohl sie wusste, dass es zu spät war, stürmte sie auf den leblosen Körper zu. »David! David!« Ihre Tränen vermischten sich mit dem Blut, als sie sich verzweifelt über die Leiche ihres Kindes beugte. »David«, keuchte sie ein weiteres, ungläubiges Mal. Als sie sich mit den Händen die Tränen aus dem Gesicht wischte, verteilte sein das Blut in ihrem Gesicht, fast als schminkte sie sich damit.

Ein Geräusch aus dem Schlafzimmer ließ sie zusammenzucken. Tilda sprang auf und stürmte auf das Geräusch zu. Die Tür sprang schon auf, noch bevor sie diese erreichte und eine Gestalt huschte an ihr vorbei – gerade lange genug, damit sie einen Blick in das Gesicht werfen konnte. »Kain?«

Mit einem Knall schlug die Haustür zu und die Gestalt war genauso schnell wieder verschwunden, wie sie erschienen war. Dennoch ging ihr das Bild des verzerrten Gesichtes und das blutige Messer in seiner Hand nicht mehr aus dem Kopf. Einige lange Sekunden starrte sie ins Nichts, bevor sie verstand, was gerade geschehen war und einen Blick ins Schlafzimmer warf. Sie sank zu Boden, als sie ihren Mann in einer ähnlich unnatürlichen Haltung auf dem Boden liegen sah. Auch seine Kleidung war zerrissen und blutüberströmt.

Das nächste, woran sie sich erinnern konnte, waren die grauen Wände der Gefängniszelle, die für die nächsten 15 Jahre ihr Zuhause darstellen sollte.

12 thoughts on “Kain

  1. Hallo Lars!

    Deine Geschichte hat mir super gefallen – spannend bis zum Schluss, so wie ich mir eine Kurzgeschichte vorstelle. Die Umsetzung der Parameter ist dir wirklich toll gelungen! Hat sich definitiv ein Like verdient!

    LG, Florian

    PS. Vlt magst du dir ja auch meine Geschichte lesen und evtl ein kurzes Feedback und – wenn sie dir wirklich gut gefällt – auch sogar ein Like da lassen. Würde mich sehr darüber freuen!

    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/schach-matt

  2. Lieber Lars,
    mir hat deine Geschichte sehr gut gefallen. Sie ist sehr spannend und hat mich mit den vielen Wendungen mehrmals überrascht. Zunächst fragte ich mich, woher hat Kain so viel Angst. Er muss große Schuld auf sich geladen haben, deshalb die Namenswahl. Dann als ihn seine Eltern wieder in ihre schützenden Arme schlossen, hatte ich das Gefühl er sein ein Opfer und würde nun aus der erzwungenen Isolation gerettet. Doch dann der Schluss! Wow! Damit hatte ich dann doch nicht gerechnet! Eine Frage bleibt mir noch: Woher kommt das Bild, das ihn als Mörder entlarvt? Habe ich da etwas übersehen?
    Mein Like bekommst du, weil mich die Geschichte großartig unterhalten hat. 🙂
    Liebe Grüße
    Angela
    PS: Ich würde mich freuen, wenn du auch bei mir vorbeischauen würdest. 🙂
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/stunde-der-vergeltung

    1. Hallo Angela,
      Vielen Dank für deinen Kommentar.
      Freut mich, wenn die Wendungen dich überraschen konnten.
      Das Bild hat der Detektiv bei seinen Recherchen ausgegraben, wie genau er das anstellen konnte, bliebt hier offen 🙂
      Das ist sehr schön zu hören

  3. Moin Lars,

    tolle Kurzgeschichte die du dir ausgedacht hast.

    Der Anfang hat mich gepackt und ich war gespannt wie es weiter geht. Also husch, husch, weiterlesen! Hab noch nie das Wort „ huschte „ so oft in einer Geschichte gelesen. 😉☺️

    Du baust einen schönen Spannungsbogen auf und deine Geschichte bleibt über die längste Zeit fesselnd. Die Szene im Café fand ich nicht ganz so stark wie den Rest, aber das Anfang und vor allem das Ende, ließen diese kleine Schwäche ( subjektiv betrachtet )verzeihen.

    Eine Frage…was hatte es mit der Maske auf sich? Hatte er was zu verbergen, war er entstellt, oder diente sie lediglich als Metapher? Oder hab ich da was überlesen? Irgendwie fehlte mir da ne Erklärung.

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für‘s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

    PS: Dein Steckbrief ist MEGA! 🤗🤗👍🏻

    1. Hallo Frank,

      Das freut mich zu hören. Ja, manchmal habe ich unbewusst ein paar Wortwiederholungen drin 😉

      Das mit der Maske habe ich tatsächlich nicht so genau erklärt, aber sie steht dafür, dass er selbst nicht mehr erkannt werden wollte und nichts mehr mit seiner Vergangenheit zu tun haben wollte.
      Grundsätzlich bist du aber frei auch die anderen Dinge hineinzuinterpretieren. Eine Wunde , die ihn entstellt hat, ist ja nicht ausgeschlossen 😉

      Vielen Dank 🙂

  4. Hallo Lars

    Deine Geschichte ist großartig.

    Ich habe sie gerne gelesen und wollte unbedingt direkt wissen, wie sie endet.

    Mit so einem Finale hätte ich nie gerechnet.
    Grandios.
    Super.

    Ich mag Geschichten, die das eine oder andere offen lassen, sehr.
    Auf diese Weise arbeiten die Eindrücke im Kopf des Lesers weiter.
    So wird die Story nachhaltiger.

    Du hast ein riesiges Potenzial und einen tollen Schreibstil.
    Kannst stolz auf dich und deine Geschichte sein.

    Sehr genial fand ich übrigens die Namen, die du dir für deine Protagonisten ausgewählt hast.

    Das Alte Testament mal anders 🙂

    Cool!

    Ich wünsche dir und deiner Geschichte alles Gute und viel Erfolg.
    Und noch viel mehr Likes.

    Natürlich lasse ich dir ein Herzchen zurück.

    Dir und deiner Familie wünsche ich Gesundheit und Liebe.

    Pass auf dich auf.

    Kollegiale Grüße, Swen Artmann (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen.
    Würde mich freuen.

    Meine Geschichte heißt:
    “Die silberne Katze”

    Vielen Dank.
    Swen

    1. Hallo Sven,

      Danke für deinen Kommentar.

      Freut mich sehr, dass sie dich überraschen konnte.
      Genau das wollte ich damit erreichen. Nicht alles offenbaren, sondern dem Leser die Möglichkeit geben, selbst noch weiterzudenken.

      Das ist großartig 🙂

      Ich wünsche dir und deiner Familie ebenfalls alles Gute
      Liebe Grüße
      Lars

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