luisaandKartenhaus

Sechs Tage waren seitdem vergangen. Nur sechs verdammte Tage und sie zogen sich wie Wochen dahin. Noch immer schien Jo am ganzen Körper zu zittern. Noch immer drehten sich ihre Gedanken unaufhörlich im Kreis, schrieen und kreischten, dröhnten und hämmerten gegen ihre Schädeldecke.
Was hast du getan? Was hast du nur getan?
 

Ohne stehen zu bleiben lief sie durch die nachtschwarzen Straßen der Stadt, ziellos wie eine streunende Katze.
Der Wind pfiff eisig durch die Öffnungen ihres viel zu großen Mantels und Jo zog den Kragen höher.
Verdammt ist das kalt. 

Nervös begann sie an den schwarzlackierten Fingernägeln zu kauen. Eigentlich war von der Farbe kaum noch etwas übrig geblieben und die Kuppen einiger Finger waren schon blutig.
Doch nichts schien die Unruhe in ihr zu vertreiben. Egal was sie auch tat, nichts linderte das anhaltende Gefühl der Panik, das einfach nicht abebben wollte.
Aber sie lebte. Auch, wenn ihre Existenz nicht mehr als ein wankendes Kartenhaus war, das jeden Moment einzustürzen drohte.
Was blieb ihr nun schon zu tun?
Nach alldem was sie getan hatte konnte sie weder zur Polizei, noch zurück nach Hause. Nach Hause…  Hatte sie so etwas überhaupt noch? Sie war schuld. Sie war selbst schuld an allem was ihr widerfahren war. All den Mist den sie gebaut hatte in den letzten Monaten.

Diebstahl, Drogenhandel, Prostitution. All das kam ihr jetzt wie ein alberner Kinderstreich vor, im Gegensatz zu dem was sie nun getan hatte. Sie war schuld. Jo erschauderte.
Kurzentschlossen bog sie in eine Seitenstraße ein und steuerte auf die U-Bahn zu.
Der Dunst von Moder und Pisse schlug ihr entgegen noch bevor sie alle Stufen hinabgestiegen war.
Mit langsamen Schritten lief Jo den U-bahn-Tunnel entlang bis die Geräusche der Straße hinter ihr verstummten.
Bis auf das gelegentliche Dröhnen der Bahn fand sie hier beinahe so etwas wie Ruhe. Wenn es das in Berlin überhaupt gab. Auch in der Nacht schien die Stadt zu atmen, ihre giftigen Gase auszustoßen und düstere Gestalten von ihren Schatten zu nähren. Nun war sie vermutlich eine davon.
Kurz hatte sie überlegt aufs Land zu fliehen. Irgendwohin, wo sie niemanden kannte, wo das Leben ruhig und stetig war, die Luft klar und die Nächte still.
Doch sie selbst wusste zu gut, dass sie die Berliner Luft zum Leben brauchte.
Sie brauchte die Abgase und die Menge an gaffenden Menschen, die moderige U-Bahn und die unheimlichen Nachtgestalten in den sonst leeren Waggons.
Sie brauchte die Anonymität der Straßen, das Pulsieren der Stadt. Allein das gab ihr das Gefühl unsichtbar zu sein, nicht weiter aufzufallen und mit der Masse zu verschmelzen. Eine von vielen. Nichts weiter.
Mit einem Mal wurde Jo von hinten zur Seite gestoßen. Sie stolperte, fing sich aber gerade noch einmal bevor sie auf dem Boden aufschlug.
Ein groß gewachsener Kerl in schwarzem Anorak hastete an ihr vorbei in Richtung des Gleises.
Jos Herz begann wild zu schlagen und das Adrenalin schoss ihr ins Blut. Sie strauchelte rückwärts, weg von dem Fremden, die Augen in Panik weit aufgerissen.
Doch dieser schien überhaupt nicht bemerkt zu haben, dass er sie umgestoßen hatte und würdigte sie weder eines Blickes noch eines Wortes. Er lief einfach davon, als sei nichts vorgefallen.
Jo sah ihm keuchend hinterher, noch lange nachdem er aus ihrem Blick entschwunden war. Es kostete sie einige lange Sekunden bis sie begriffen hatte, dass ihr von dem Kerl im Anorak keine Gefahr drohte.
„Fuck“, murmelte sie und knirschte mit den Zähnen. Kraftlos wich sie einige Schritte zurück und lehnte sich mit dem Rücken gegen eine der weiß gefliesten Wände. Ihre Nerven lagen blank.
„Mach dir nicht ins Hemd.“, murmelte sie leise zu sich selbst. „Es war nichts.“
Sie holte tief Luft und sah sich zu beiden Seiten um. Das bläulich flimmernde Licht des Tunnels erstreckte sich endlos in beide Richtungen, doch sie schien nun allein zu sein.
Erschöpft ließ Jo sich mit einem leisen Seufzer auf den kalten Betonboden sinken und kauerte sich zusammen.
Immerhin windstill war es hier unten.
Erneut zog sie den Kragen ihres Mantels höher, vergrub den Kopf zwischen den Schultern und zog die Knie an den Oberkörper heran. Ihre Finger waren eisig.
Sie formte sie zu Fäusten und blies warme Luft in ihre Handflächen. Dann schob sie beide Hände tief in die Taschen ihres Mantels, um sie ein wenig zu wärmen.
Doch ihre Finger stießen in ihrer rechten Manteltasche auf etwas. Wie eingefroren hielt sie in der Bewegung inne. Hartes, glattes Plastik. Verwundert tastete Jo nach dem Gegenstand, strich vorsichtig über seine Oberfläche.
Was zur Hölle?
Ein schmales Ding mit ebener Struktur, einige Erhebungen aus gummiähnlichem Material. Tasten? Ein Bildschirm?
Sacht umschloss sie das Fundstück mit den Fingern, zögerte. Kurz spielte sie mit dem Gedanken einfach zu ignorieren was sie da in ihrer Tasche vermutete, als würde es wie ein böser Traum schon morgen einfach fort sein.
Doch die Unsicherheit darüber, was da in ihrem Mantel schlummerte schnürte ihr die Kehle zu, bis sie kaum noch atmen konnte. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Langsam zog sie das Ding aus der Tasche, so vorsichtig, als könnte es dadurch in 1000 Teile zerfallen.
Der kalte Schweiß trat ihr auf die Stirn, ihr Herz begann wieder in doppeltem Tempo zu schlagen. 

In ihrer Hand lag ein Handy.
Ein altes grobes Ding aus grauem Plastik. Der Bildschirm gesprungen, die riesigen Tasten schon gelb angelaufen.
Jo wagte nicht sich auch nur einen Millimeter zu rühren.
Ihre Gedanken überschlugen sich, waren unfähig klaren Worten zu fassen.
Wie? Woher? Der Mann im Anorak. Was soll… 

Ein schmerzhaft hoher Ton zerriss die Stille im U-Bahn Tunnel. So jäh, dass Jo das Handy beinahe fallen gelassen hätte. Panisch sprang sie auf die Beine, schaute sich noch einmal um und presste sich noch enger an die Wand, als könnte sie sich dadurch unsichtbar machen.
„Neue Textnachricht“, blinkte im Handydisplay auf.
Ein Schauer lief ihr vom Scheitel den Rücken hinab bis in die Zehen. Wie erstarrt stand sie da, schaute nur stumm auf das Handy in ihrer Hand und war zu jeder Regung unfähig. Noch immer raste ihr Puls. Heiß und lodernd pulsierte das Blut durch ihren Körper, trieb sie an die Flucht zu ergreifen, einfach fort zu laufen.
Renn, schien es ihr zu zu rufen. Renn wie du noch nie zuvor gerannt bist und verschwinde von hier.
Doch das tat sie nicht. Sie blieb. Sie blieb und schob die panische Stimme in ihrem Kopf bestimmt beiseite, ließ sie verstummen. Sie musste wissen was es mit all dem auf sich hatte. Langsam hob sie also die zitternden Finger zu den Tasten des Handys.
Menü. Sterntaste.
Die Tastensperre sprang heraus und sofort erschien das Nachrichtenfenster.
Schneller und schneller klopfte ihr Herz, überschlug sich, stolperte, setzte aus und schlug noch schneller.
Dann las sie den eingespeicherten Namen des Absenders. 

„RICK“
Mit einem mal wurde es still um sie herum. So schrecklich still. Die Welt blieb stehen und schien sich für diesen Augenblick nur um das Ding in ihren Händen zu drehen.
Dieses kleine unscheinbare Ding mit der Sprengkraft einer Atombombe. Vorbei. Sie war erledigt. Jo öffnete die Nachricht ohne weitere Zeit zu vergeuden.
„Versuch’s nochmal, Liebes. <3“ , stand nun in eckigen Buchstaben auf dem Bildschirm und verschwamm langsam hinter einem Vorhang von Tränen. Er lebt.
Und ihr Kartenhaus stürzte in sich zusammen. 

Jo wusste nicht mehr wie sie hier her gekommen war. Alles woran sie sich erinnern konnte war, dass sie gerannt war. Raus aus dem Tunnel, quer durch die nächtliche Stadt.
Sie hatte an nicht gedacht, nichts gehört bis auf ihren eigenen keuchenden Atem.
Und immer wieder sah sie die Bilder vor sich. Den glatten Griff des Jagdmessers, die silbern glänzende Klinge. Und ihn. Sie konnte nicht anders als ihn vor sich zu sehen, auf dem Boden liegend, in seinem Blut so dunkel, dass es im spärlichen Licht der Leuchtstoffröhren beinahe schwarz wirkte. Schwarz glänzendes Blut auf Beton. Und an ihren Händen.
Er war tot gewesen. Er war tot gewesen und nun war er es nicht mehr. Und er hatte sie gefunden.
Immer weiter war Jo gerannt, schneller und schneller. Bis sie ihre Füße nicht mehr tragen konnten und sie schließlich Schutz in einem verlassenen Gebäude suchte.
Schluchzend saß sie der Ecke eines dunklen Raumes.
Nur durch die Lichter, die von der Straße herein fielen bekam das Zimmer eine Form. 

Tapetenfetzen die von den Wänden hingen, eine schimmelnde Matratze unter dem zerschlagenen Fenster, die Bohlendielen wie schiefe Zähne im Mund einer alten Frau.
Und Jo fühlte sich so klein in diesem Zimmer. Klein und verloren, ausgeliefert. Als würden 1000 Augen sie aus der Dunkelheit anstarren, darauf warten dass sie einschlief nur um sie zu zerfleischen.
Das Handy hielt sie noch immer in der Hand. Als wäre es mit ihr verschmolzen. Sie war eins mit ihm. Eins mit Rick. Niemals würde sie von ihm loskommen können. Egal wie verzweifelt sie es auch versuchte. Er hielt sie so fest an unsichtbaren Schnüren, dass selbst der Tod ihn nicht davon abhalten konnte sie zu finden.
Aber nein. Nein sie würde nicht zu ihm zurückkehren. Nicht schon wieder.
Entschlossen wischte Jo sich die Tränen aus dem Gesicht und setzte sich auf.
„Hör endlich auf mit dem jämmerlichen Geheule.“, sagte sie nun laut zu sich. Sie atmete tief durch und versuchte all die Gedanken in ihrem Kopf zu sortieren.
Der Typ mit Anorak hatte ihr also das Handy in die Manteltasche geschoben. Wahrscheinlich zumindest. Einer seiner ekelhaften Handlanger. Doch warum hatte er sie nicht direkt zu ihm gebracht? Niemand hätte bemerkt wenn sie Nachts jemand von der Straße gepickt und in einen dunklen Lieferwagen geworfen hätte. Wozu die Mühe?
Die Sporttasche.  

Ja natürlich! Wie hatte sie nur so dumm sein können?
Sie hatte etwas was er wollte. Was er brauchte.
Doch wozu das Handy?
Erneut musterte sie es von allen Seiten, drehte und wendete es, schob das Akkufach auf, fand allerdings nichts Auffälliges daran. Jo entsperrte das Handy abermals und öffnete das Nachrichtenfenster. Nichts. Nur diese eine Nachricht, die sich ihr ins Gedächtnis gebrannt hatte.
Auch in den Kontakten war keine weitere Nummer gespeichert außer seine. Nur Rick.
Jo öffnete den Fotoordner, auch wenn sie nicht erwartete hier etwas zu finden. Und in der tat war auch dieser leer. Bis auf 3 dunkle Aufnahmen.
Sie hielt das Handy näher ans Gesicht, erkannte nur vage Umrisse und Silhouetten. Angestrengt sah sie noch genauer hin. Schleichend nur entschlüsselten ihre Augen die groben Formen, die Schatten. Und konnten nicht fassen was sie da sahen. Das war ihr Gesicht!
Nun erkannte sie immer mehr was dort in furchtbarer Qualität aufgenommen war. Wie ein Puzzle setzte ihr Kopf die Teile zu einem großen Ganzen zusammen.
Es waren Fotos von ihr! Die Bilder waren rauschig, dunkel und verpixelt, doch sie erkannte ihr Gesicht genau, auch wenn es hinter einigen Haarsträhnen versteckt lag.
Hand- und Fußgelenke waren zusammen gebunden, sie lag auf der Seite, die Augen geschlossen, die Kleidung zerrissen.
Abermals begann ihr Herz zu rasen. Verzweifelt versuchte Jo sich daran zu erinnern wo diese Fotos entstanden sein könnten. Bei einem ekelhaften Freier oder bei Rick? Während sie auf Droge eingeschlafen war? Nein das konnte nicht sein. So unvorsichtig wäre sie nie gewesen.
Aber… wenn das nicht sie auf diesen Bildern war, wer…
Schleichend wie zähflüssiges Nervengift sickerte die Erkenntnis in ihren Verstand.
Wenn nicht sie auf diesen Fotos zu sehen war, gab es nur eine Antwort darauf wer es sein konnte.
„Lina“, keuchte Jo fassungslos und klickte noch einmal durch die Aufnahmen. „Nein.“
Nun sah sie es eindeutig. Sie hatte sich geirrt.
Die gefesselte Frau auf diesen Bildern war nicht sie selbst. Es war ihre Schwester. 

Das Handy leuchtete auf und mit einer kurzen Verzögerung ertönte ein ohrenbetäubender Klingelton.
Jo ließ das Handy fallen, als hätte sie sich daran verbrannt  und rutschte weiter zurück in die Ecke. „Nein, nein, nein.“
Das Handy klingelte noch immer. Der Ton hallte von den leeren Wänden des Raumes wider, schien immer lauter zu werden. Panisch stieß Jo das Handy mit dem Fuß weiter weg von sich.
Das kann nicht wahr sein. Das darf nicht wahr sein. Nur ein Traum. Ein furchtbarer Traum.
Sie kniff die Augen zusammen, hielt sich die Ohren zu. Und wieder kamen die Tränen, die dummen Tränen die ihr heiß über die Wangen rannen und so salzig auf ihren aufgesprungen Lippen schmeckten dass es schmerzte. Was hatte sie getan.
Ihr eigenes Leben zu ruinieren war eine Sache. Doch das ihrer Schwester… Schuld. Sie war schuld.
Erst als es wieder still war in dem heruntergekommenen Zimmer traute Jo sich die Hände von den Ohren zu nehmen.
Was sollte sie nun tun? Sie konnte doch nicht einfach hier herum sitzen und die Augen vor der Realität verschließen während ihre Schwester… Sie mochte sich gar nicht ausmalen was Rick mit ihr anstellte.
Jo hatte versucht ihn zu töten. Und das wohl nicht besonders erfolgreich. Und obendrein hatte sie ihn auch noch bestohlen. Diese verdammte Sporttasche. Bis oben hin vollgestopft mit Kokain. Sie war so dumm. So dumm.
Wieso war sie nicht in eine andere Stadt, ein anderes Land geflohen. Wieso hatte sie diese verdammte Tasche mitgenommen. Und wieso hatte sie nicht zuverlässiger töten können. Wie schwer konnte es sein jemanden umzubringen?
Er hatte es schon hunderte Male getan und sie hatte es mit angesehen, hatte mit erlebt wie ihre Schädel zersprangen, wie ihr Blut in die Rinnen des Bürgersteigs floß, wie das Leben aus ihnen wich. Und sie hatte es nicht gekonnt. Sie hatte es nicht gewollt. Und deshalb war dieser Bastard noch am Leben. So dumm.
Erneut schrie das Handy auf. Derselbe Ton in derselben Lautstärke füllte die Nacht.
Jo schnappte nach Luft. Sie musste abnehmen. Sie musste.
Zögerlich kroch sie auf das Handy zu und hob es vom Boden auf. „RICK“, stand quer über dem Bildschirm.
Jo wischte sich die Tränen von den Lippen, fasste Mut und drückte auf den grünen Hörer.
Einen Moment schaute sie nur auf den Bildschirm, als wartete sie darauf, dass das Handy in ihren Händen zersprang, doch nichts geschah. Schließlich hob sie es ans Ohr. Stille.
Entschlossen holte sie ein letztes Mal Luft und begann zu sprechen.
„Was willst du, Rick.“ Ihre Stimme klang fester als sie erwartet hatte. Nur ganz leicht wankte sie unter dem Gewicht der Tränen.
Ein Lachen ertönte von der anderen Seite des Hörers. Sein Lachen. Knisternd durch den alten Lautsprecher des Handys aber doch so klar als stünde er direkt neben ihr.
„Hallo Liebes.“,flüsterte er nun und Jo stellten sich die Armhaare auf. Ihr wurde schlecht.
Liebes. Wie oft sie dieses Wort gehört hatte. Während er ihr übers Haar gestrichen war, während er sie umarmt, bevor er sie geküsst hatte. Sogar wenn sie mit ihm geschlafen hatte. Ein Kribbeln fuhr durch ihre Magengrube und Jo bemerkte, dass Angst und Verliebtheit sich gar nicht so unterschiedlich anfühlten.
„Okay also hör mal“, sagte Rick mit sanfter Stimme. So ruhig und gelassen, als würde er sie zum Essen einladen. „Ich habe keine Zeit für diesen Scheiß und sie auch nicht.“
Jo gefror das Blut in den Adern.
„Du lässt sie sofort gehen, hast du verstanden? Du wirst ihr kein…“, platzte es panisch aus ihr heraus und die Festigkeit ihrer Worte schmolz dahin wie Eis in der Sonne.
„SchSchSch“, unterbrach Rick sie beruhigend und setzte erneut an, wo er aufgehört hatte. „Es ist doch genau was du immer wolltest, Liebes. Du kannst jetzt endlich beweisen dass du nicht nur eine stehlende und drogenvertickende Nutte bist sondern Familie dir etwas bedeutet. Tada. Wunsch erfüllt.“ Er lachte abermals so warm und einladend, dass es Jo anwiderte.
„Verräterin oder Schwester. Du kannst selbst entscheiden. Das wolltest du doch. Und du weißt was ich will.“ Mit einem Mal kippte sein Tonfall, wurde plötzlich eisig und scharf.
„In zwei Stunden auf dem Parkplatz. Keine zweite Chance.“
Jo schwieg und zitterte am ganzen Körper. Zwei Stunden.
„Ich werde da sein.“, flüsterte sie fast tonlos und kam kaum noch zu Atem.
„Oh das hoffe ich. Denn Meine Finger töten zuverlässiger als deine, Liebes. Glaub es mir.“ 

Ein Knacken in der Leitung. Dann legte er auf.
Und Jo war wieder allein. Allein mit der Angst und mit der Gewissheit, was sie tun musste, wenn sie weiter mit sich leben wollte. Denn er hatte unrecht gehabt. Sie konnte nicht entscheiden wer sie war. Verräterin oder Schwester. Denn diese Entscheidung war bereits gefallen, als sie ihm das Messer zwischen die Rippen gestoßen hatte.
Es blieb ihr also nur eins zu tun. Sie musste zurück zu ihm.

Es war noch immer dunkel, als sie an dem leeren Parkplatz ankam. Versteckt mitten in einem Industriegebiet, abgeschirmt von Büschen und Bäumen, beleuchteten nur von einigen wenigen Laternen, die den schwarzen Asphalt gelb wie pisse färbten. Jo hatte sofort gewusst, welchen Parkplatz Rick gemeint hatte. Oft hatte er sie hier abgesetzt, um Kokain und Crack zu verticken, um Kunden zu treffen und Geld abzuholen. Und zuletzt auch, um zu Fremden ins Auto zu steigen, für einen kurzen Fick und schnelles Geld.
Jo presse die Lippen fest aufeinander um den Brechreiz zu unterdrücken, der in ihr empor stieg. Bei dem Gedanken daran was sie alles für Rick getan hatte, wurde ihr heiß und kalt. Sie ekelte sich vor sich selbst, vor ihrer Naivität, vor ihrer Dummheit und ihrer Furcht.
Die Furcht, ja die begleitete sie auch heute mehr denn je. Aber Jo würde sie nun nicht mehr entscheiden lassen was sie tat. Sie würde sie nicht mehr für sich sprechen lassen.
Das naive Mädchen von damals, blind vor Liebe und stumm vor Angst, war sie schon lange nicht mehr. Und egal wie viel Macht Rick über sie zu haben glaubte, heute würde sie dem ein für alle Mal ein Ende bereiten. 

Sie trat in den Lichtschein der orange leuchtenden Laternen.
Ihre Beine wogen Tonnen, sträubten sich gegen jeden Schritt den sie auf den Platz trat, auf dem ein schwarzer Transporter mit geschlossenen Türen stand. Jo erschauderte.
Nicht weiter nachdenken. Mach schon.
Mit festen Schritten näherte Jo sich dem Wagen und einer dunkel gekleideten Gestalt, die vor ihr stand. Ein grobschlächtiger Glatzkopf mit breitem Kreuz und eckigem Kiefer, glotzte sie an. Jo glaubte ihn nicht zu kennen, doch für sie waren die Männer, die für Rick arbeiteten ohnehin alle Gesichtslose. Sie taten was Rick sagte, sagten was Rick ihnen in den Mund legte und hörten nur auf seine Stimme.
Wie abgerichtete Hunde, waren sie die Augen und Ohren von ihm, die vor nichts zurückschreckten und deren Loyalität keine Grenzen zu kennen schien.
Erst als sie noch näher kam, sah sie was der Unbekannte in den Händen wog. Ein Brecheisen aus schwarzem Stahl.
Wie angewurzelt blieb sie stehen. Sie kannte diese Waffe. Sie kannte was sie anrichten konnte, wie sie töten konnte.
Wieder drehte sich ihr ihr Magen um.
Was hast du dir nur gedacht?
Doch
Jo versuchte den Kloß hinunter zu schlucken, der ihr mit einem Mal im Halse steckte. War er etwa gar nicht hier?
In ihr keimte fast so etwas wie Enttäuschung auf.
Doch bevor sie oder der Kerl mit dem Brecheisen etwas sagen konnten, schälte sich eine weitere Silhouette aus dem Schatten des Wagens. Zusehends wurde ihr Gesicht nun vom spärlichen Licht erhellt.
Jos Atem setzte aus und ihr Herz machte einen großen Satz. Rick. Es fühlte sich an, als würde sie fallen. Metertief ohne Sicherung, geradewegs in ein schwarzes Loch.
Und er lächelte. Mit einer ausladenden Geste schaute auf seine goldene Armbanduhr, wie ein Schauspieler auf der Bühne.
„So pünktlich. Wie schön, Liebes.“, sagte er beiläufig und betrachtete Jo wie ein wiedergefundenes Schmuckstück.
Grüne freundliche Augen, ein Gesicht so schön dass man nicht anders konnte als ihm zu vertrauen und eine Stimme so sanft, dass man ihr jede Lüge glaubte. 

Erst da bemerkte Jo die Krücke auf die er sich stützte. Sie sah den Schmerz in seinem Ausdruck bei jeder Bewegungen.
Und die Erinnerungen waren zurück. Gewaltig drangen sie in ihr Bewusstsein, nahmen jeden Raum für sich ein. Das Messer, die Klinge. Wie von oben herab sah sie sich zu, wie sie über ihm kniete, das Messer in seinen Brustkorb schlug und das Blut hervorsprudelte als sie es wieder herauszog.
Mehr und mehr Blut. Unaufhaltsam.
Aber er hat es verdient, erinnerte sie sich.
Er hätte weit Schlimmeres verdient.
Aber sie sagte nichts. Kein Wort mehr als unbedingt nötig würde sie sprechen. Sie wusste nur zu gut, wie er sie ihr im Mund verdrehen, wie er sie wieder in Fesseln legen würde.
„Hast du gar nichts zu sagen? Eine Entschuldigung vielleicht für das was du angerichtet hast?“, säuselte er und schaute an seiner linken Seite hinab. „Sehr unschön das alles. Sehr unschön.“, murmelte er leiser und trat einige Schritte auf sie zu. Jo blieb stehen, regungslos wie ein Reh im Lichtkegel eines LKWs.
„Wo ist Lina?“, presste sie zwischen den Lippen hervor und Rick lächelte abermals.
„Wo ist meine Tasche?“, fragte er höflich zurück und legte den Kopf schief. 

„Wo du sie nicht findest.“ Jos Ton war kalt und klar. Sie legte all den Hass in ihre Stimme, den sie aufbringen konnte. Doch Rick lachte wieder nur, diesmal so laut, dass Jo zusammen zuckte.
„Wenn du denkst, dass du in der Lage bist Forderungen zu stellen“, begann er und kam einige weitere Schritte auf Jo zu. Es kostete sie einiges an Überwindung nicht zurück zu weichen. Sie durfte jetzt nicht schwach wirken.
„nun, dann hast du dich getäuscht, Johanna.“ Sein Lächeln erstarb. Dass er sie mit richtigem Namen ansprach hatte etwas Belehrendes. Als wäre er ihr Vater, als würde er sie maßregeln für ihr kindisches Verhalten.
„Ich muss dir nicht erklären wie das hier läuft. Dazu bist du lange genug bei mir.“, sprach er weiter und Jo ahnte in welche Richtung er steuerte. Noch näher kam er ihr, bis er schließlich so dicht vor ihr stand, dass sie seinen Pfefferminzatem riechen konnte. Jo hielt die Luft an.
„Du kennst die Regeln. Du weißt was Loyalität mir bedeutet und du weiß was passiert wenn man sie bricht.“ Das letzte Wort spuckte er ihr regelrecht ins Gesicht. Nun wich Jo doch einige Schritte zurück. Der Glatzkopf beobachtete sie genau und ließ das Brecheisen von einer Hand in die andere wandern. Rick zupfte sein Hemd gerade und legte ein falsches Lächeln wie eine Maske auf.
„Aber nun ich will mal nicht so sein“, sprach er betont unbeschwert weiter. „Jeder macht doch mal einen Fehler, nicht wahr? Ich verzeihe dir.“, verkündete er mit großmütig feierlichem Tonfall. Grob griff er nach Jos Hand und zog sie zu sich heran. Seine Lippen waren nun direkt an ihrem Ohr seine andere Hand griff sie an ihrer Taille. Fast liebevoll.
„Ich will die Tasche. Gib sie mir und du darfst bleiben. Und dein Schwesterchen bekommt die Freiheit.“,zischte er, doch Jo drückte ihn kräftig von sich. Ihre eigene Wut spiegelte sich in seinen Augen.
„Nein. Du lässt meine Schwester mit mir gehen, und ich sage dir wo du dein scheiß Koks findest.“ Jo versuchte ebenso bedrohlich und selbstsicher zu klingen wie er, doch es mochte ihr nicht recht gelingen.
„Du willst mich verlassen?“ Rick klang ehrlich überrascht und zog die Augenbrauen nach oben. Jo lachte bitter auf. „Das verwundert dich? Du hast mich gezwungen zu Stehlen, hast mich zum Dealen gedrängt, mich eingesperrt, mich ausgenutzt wo du konntest, du hast mir meine Familie genommen, meine Zukunft.“ Ihre Stimme wurde immer lauter, bis sie schließlich schrie.
„Du hast mich genötigt anschaffen zu gehen, mich an Fremde verkauft während du mir vorgegaukelt hast mich zu lieben. Du hast mir eingeredet nichts wert zu sein, nichts als Abschaum. Und jetzt hast du meine Schwester entführt. Es gibt nicht einen einzigen Grund bei dir zu bleiben.“
Die Tränen liefen ihr schon wieder unaufhaltsam über das Gesicht. Doch Rick wischte sie fort und legte ihr eine Hand unters Kinn. Er zwang sie ihm in die Augen zu sehen, griff sie fest am Kiefer.
„Oh ich nenne dir mehr als nur einen Grund, Liebes:“
Die nächsten Worte kostete er aus, als würden er ihre Süße auf der Zunge schmecken können.
„Du – hast – es – so – gewollt. Ich habe es gefordert, du hast es getan. Und hast es immer wieder getan, hast das Gesetz gebrochen genau wie ich. Du bist genauso in all das hier verstrickt. Und nun hast du versucht mich umzubringen. Du bist genau wie ich. Und ohne mich, bist du nichts mehr, Jo. Nichts. Gib mir die Schuld daran dass ich dir dieses Leben gezeigt habe. Aber die Schuld daran dass du es lebst trägst du ganz allein.“ 

Jo versuchte sich aus seinem Griff zu winden, versuchte seine Hand von sich zu stoßen, doch Rick hielt sie immer fester, ließ die Krücke fallen und legte die Finger um ihren Hals.
Jo rang nach Atem, begann um sich zu schlagen, versuchte sich zu befreien doch er drehte sie leichtfertig in seinen Armen um, die eine Hand immer noch an ihrem Hals, die andere um ihre beiden Handgelenke.
„Mach auf.“, brüllte er seinen Handlanger an und dieser ließ zum ersten Mal die bedrohliche Waffe in seiner Hand sinken und öffnete die Türen des Transporters.
Jo, noch immer nicht in der Lage sich zu befreien, starrte in den düsteren Laderaum. Darin, ein zusammengekauertes Bündel, gefesselt und geknebelt. Im ersten Augenblick meinte sie wieder sich selbst vor sich zu sehen. Dieselben Augen, Nase und die schmalen Lippen genau wie die ihren.
„Lina.“, flüsterte Jo tonlos, doch fühlen konnte sie nichts. Da war nichts bis auf Verzweiflung. Ihre Schwester wand sich panisch hin und her, fixierte Jo mit ihren tränenfeuchten Augen. „Hilf mir“, schrieen sie ihr entgegen. Doch Jo war unfähig auch nur einen Ton von sich zu geben.
“Du sagst mir jetzt verdammt nochmal wo diese Tasche ist!“, brüllte Rick ihr nun wutentbrannt direkt ins Ohr und hielt sie nun so fest, dass es schmerzte.
„Meine Geduld ist wirklich am Ende.“, zischte er und der Glatzkopf setzte sich in Bewegung. Er stieg in den Laderaum des Transporters, hob das Brecheisen in seiner Hand und musterte Jo mit einem schiefen Grinsen. Kein Wort kam ihr über die Lippen. Und Rick seufzte resigniert.
„Mach sie kalt.“, wies er ihn schließlich ohne eine Spur von Emotion an und das Grinsen des Fremden wurde noch breiter, während er langsam die Türen des Wagens hinter sich schloss. 

„Nein!“, hörte Jo ihre eigene Stimme schreien. „Nein!“
Die Bilder aus ihrem Kopf, die Erinnerungen an all die Gewalt, an all das Blut, waren schlimmer als alles was sie hätte in dem Wagen sehen können. Sie sah die leblosen Körper, die zerschlagenen Schädel, die toten Augen. Und sie schrie. Sie schrie mit aller Kraft die sie aufzubringen hatte. Und als sie aus dem Wageninneren den donnernden Klang des Stahles hörte, legte sich plötzlich ein Schalter um. Mit einem Mal war ihre Welt wie in in rotes Licht getaucht.
Heiß und rot.
Ein gellender Schrei drang aus ihrer Brust. Sie ließ sich mit all ihrem Gewicht nach hinten fallen, befreite einen Arm aus Ricks Griff und holte aus. Mit dem Ellenbogen schlug sie ihn in die Brust, genau dort hin wo ihr Messer sein Herz verfehlt hatte. Er stöhnte auf, wankte rückwärts und krümmte sich zusammen. Jetzt oder nie. Mit einer einzigen schnellen Bewegung drehte sie sich zu ihm um, hörte wie hinter ihr die Türen des Lieferwagens aufsprangen, doch beachtete es gar nicht weiter.
Und dann zog sie den Revolver aus dem Gürtel. Auch der war in Ricks Tasche gewesen. Auch den hatte sie mit sich genommen. Ihr letztes Ass. Schwer wie Blei lag der Schaft der Waffe in ihren Händen, doch der Griff war glatt und warm, schien sich an ihre Finger anzuschmiegen wie eine zahme Katze.
„Ich versuchs nochmal, Liebes.“, rief sie ihm zu und zielte auf seinen Kopf, stellte sich vor wie die Kugel ihm zwischen die Augen fuhr. Endlich.
Hinter sich hörte sie das Klicken einer entsicherten Waffe, dumpf wie durch Watte, drang es an ihr Ohr. Doch sie drehte sich nicht um. Wozu?
Dann löste sich ein Schuss.
Ein einsamer Schuss, der in der Nacht verhallte und beim Morgengrauen bereits vergessen war.

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