machicraKatharsis

Ich betrachte das Handy in meiner Hand und fühle zum ersten Mal seit Jahren etwas, das sich wohl am ehesten mit Stolz vergleichen lässt. Die Zeit, die ich unschuldig im Gefängnis gesessen habe, verbrachte ich damit, einen geeigneten Racheplan zu schmieden. Mit einer leichtfertig ausgesprochenen Anschuldigung hatte sie mir vor einigen Jahren erst meinen Beruf, dann einen großen Teil meines Lebens genommen. Sie hatte mich vor die Wahl gestellt: entweder ich gebe ihr die eine gute Note, die sie brauchte, um zum Abitur zugelassen zu werden, oder sie würde mein Leben zerstören. Verloren in Idealismus hatte ich mich für die falsche Seite entschieden. Sie hatte ihren Eltern von der angeblichen Vergewaltigung erzählt und Würgemale an ihrem Hals gezeigt, die ihre Geschichte unterstützt hatten. Als schließlich auch ihre beste Freundin für sie ausgesagt und ihre Lüge bestätigt hatte, war der Fall für alle klar gewesen und ich war ins Gefängnis gegangen. Ihr Abitur hatte sie trotzdem nicht geschafft.

Nun bin ich seit wenigen Monaten wieder frei und fühle mich noch immer wie ein Gefangener, denn ich schaffe es nicht, den Stempel des Gewaltverbrechers von meiner Haut zu waschen. Außerdem glaube ich, dass ihre Lüge wirklich etwas in mir verändert hat. Wo früher Leidenschaft für meinen Beruf und meine Schülerinnen und Schüler war, ist heute Wut über die Ungerechtigkeit, die mir zugestoßen ist. Wo früher Idealismus war, ist heute Ernüchterung. Wo früher die Bereitschaft war, Fehler zu vergeben, ist heute die Sehnsucht nach Rache.

Ich habe das Gefühl, dass ich diese Sehnsucht nach Rache stillen muss, wenn ich wieder ein normales Leben führen will. Nachdem ich die Frage, warum ausgerechnet mir so etwas passieren musste, nicht klären konnte, nahm eine andere Frage ihren Platz ein. Ich fragte mich nun, wie die Rache aussehen sollte, mit der ich meine Wut schmälern und meine Seele läutern wollte. Von Anfang an war für mich klar, dass ich ihr keinen physischen Schmerz antun würde. Auf keinen Fall wollte ich ihren Anschuldigungen entsprechen und das Verbrechen wahr machen, für das ich schuldig gesprochen worden war. Ich entschied mich dazu, ihr das Gefühl von Sicherheit und Überlegenheit zu nehmen, denn ich vermutete, dass ich sie hiermit am meisten treffen konnte. Einfach, aber effektiv.

Durch meinen Gefängnisaufenthalt verlor ich nicht nur meinen Job und Beamtenstatus, sondern auch, und das war wesentlich schlimmer für mich, meine Familie, meine Freunde und meine Wohnung. Als ich entlassen wurde hatte ich keine andere Möglichkeit, als in ein Ein-Zimmer-Appartement zu ziehen, das ich sonst nicht einmal während meines Studiums in Betracht gezogen hätte. Zurzeit wohne ich immer noch dort und habe mich mittlerweile tatsächlich mit der Situation angefreundet. Von Zeit zu Zeit finde ich es sogar richtig gemütlich.

Gleich nachdem meine Wohnsituation geregelt war, kaufte ich mir einen Laptop und begann, meine geplante Rache zu verwirklichen. Das Mädchen, das mein Leben zerstört hat, war nun eine junge Erwachsene. Wie die meisten jungen Menschen heutzutage war auch sie bei den gängigen sozialen Netzwerken vertreten. Ihre Profile waren öffentlich und konnten so von jedem eingesehen werden, was sich für mich als glücklicher Zufall erwies. Sie schien nach Bestätigung und Aufmerksamkeit zu lechzen, sodass sie täglich Bilder und persönliche Informationen mit ihrer digitalen Gefolgschaft teilte, zu der auch ich bald gehörte. Ich hatte mir ein gefälschtes Profil erstellt, mit dem ich mich bei allen Netzwerken anmeldete, die auch sie benutzte. Nach wenigen Wochen wusste ich nicht nur, mit welchem Frühstück sie in den Tag startete, wie sie ihre Freizeit verbrachte und was ihr Lieblingsbuch war, sondern auch welche Route sie täglich nach Feierabend joggte und wo sie wohnte. Ich nahm keinen Kontakt zu ihr auf und likete keines ihrer Bilder, trotzdem wusste ich bald alles über ihr Leben und zeichnete jeden ihrer Schritte auf.

An der Wand neben meiner Wohnungstür entstand nach und nach eine Karte, auf der ich eintragen konnte, wann, wie lange und mit wem sie sich wo aufgehalten hatte. Außerdem druckte ich einige Fotos aus und hängte sie dazu, wenn sie mir weitere Informationen oder interessante Details liefern konnten. Ich achtete penibel darauf, dass dieses Wandbild die Maße von 1,80 Meter mal 90 Zentimeter nicht überschritt, damit ich es mit meinem halbleeren Kleiderschrank verdecken konnte, wenn mein Bewährungshelfer zu Besuch kam.

Nach und nach hatte ich alle Daten zusammen, die ich brauchte, um der Planung Taten folgen zu lassen. Ich kaufte ein Handy, das ich nicht für mich selbst benutzen wollte. Stattdessen nahm ich es mit, wenn ich auf der Strecke spazieren ging, auf der sie, wie ich wusste, gerne joggte. Ich hatte es auch dabei, wenn ich auf der Bank vor ihrer Wohnung ein Eis aß. Vorher hatte ich mir die Haare gefärbt und einen Bart wachsen lassen. Außerdem trug ich jetzt eine Brille mit Fensterglas.

Um neu anzufangen, sagte ich meinem Bewährungshelfer.

Damit sie mich nicht erkennt, wusste ich.

Bald verging kein Tag mehr, an dem ich sie nicht mindestens einmal sah. Ich sprach niemals mit ihr. Eigentlich bin ich mir sogar sicher, dass sie mich überhaupt nie wahrgenommen hat. Sie hatte immer noch den gleichen Gang wie früher, mit geradem Rücken und einem weit ausgreifenden Schritt. Bei jeder Gelegenheit machte ich Fotos von ihr und achte dabei immer darauf, nicht zu auffällig zu sein. Von der Dachterrasse eines kleinen Biergartens, in dem ich schon bald Stammgast war, konnte ich direkt auf ihren Balkon sehen. Ich wusste, dass sie sich dort bei gutem Wetter gerne sonnte und so hatte ich schon bald einige schöne Bikinifotos von ihr.

Nun begann der nächste Teil meines Plans, während dem ich meine Wohnung kaum noch verließ. Ich erstellte Fake-Profile von ihr, bei denen ich sowohl die Fotos benutzte, die sie von sich gepostet hatte als auch die, die ich selbst geschossen hatte. Für jedes Profil richtete ich einen Schnellzugriff auf der Startseite des Handys ein. In der Profilbeschreibung gab ich nicht ihre Adresse an, das erschien mir zu offensichtlich. Stattdessen verlinkte ich auf jedem Bild den Standort der Aufnahme, sodass sich jeder den Rest selbst zusammenreimen konnte. Bald zeichnete sich ein Trend ab: Am wenigsten beliebt waren die Bilder, die ihr Frühstück zeigten, am beliebtesten waren diejenigen, auf denen sie sonnenbadete. Viele Männer kommentierten diese Bilder und ich antwortete auf jeden Kommentar in ihrem Namen. Einigen gab ich ihre genauen Kontaktdaten und sagte ihnen, dass sie jederzeit vorbeikommen dürften. Anderen versprach ich ein baldiges gemeinsames Sonnenbad.

Die Galerie des Handys ist nun voll mit ihren Fotos. Einige wird sie wiedererkennen, die meisten nicht. Ihr Postfach quillt über von Nachrichten von Verehrern. Wie ich zur Schande meines Geschlechts gestehen muss, sind einige Annäherungen recht platt. Trotzdem wird sie unter jeder einzelnen Nachricht eine Antwort finden, die noch mehr von ihrem Privatleben preisgibt. Einem Mann, den ich besonders sympathisch fand, habe ich das Versteck ihres Zweitschlüssels beschrieben (verbuddelt unter einem Rosenstrauch im Vorgarten).

Nun sitze ich also wieder auf der Bank gegenüber ihrer Wohnung und halte diesmal kein Eis, sondern das Handy in der Hand. Einige Passanten wundern sich vielleicht darüber, dass ich Handschuhe trage. Die meisten scheinen mich jedoch gar nicht wahrzunehmen. Ein Blick auf meine Armbanduhr bestätigt mir, dass sie in ungefähr einer halben Stunde nach Hause kommen wird. Es ist nun an der Zeit, mein Theaterstück auf seinen finalen Akt vorzubereiten. Ob sie wissen wird, dass das Handy von mir kommt? Wahrscheinlich nicht, und das ist auch gut so. Ich konnte sie verletzen, ohne mich ihr auch nur einmal richtig zu nähern. Die Rache, die ich fühlte, konnte ich ausleben, ohne ihr etwas anzutun. Der Rest liegt nun nicht mehr in meiner Hand.

Ich klingle an der Tür und gebe mich bei den Nachbarn als Paketbote aus. Der Summer erklingt und ich betrete das Treppenhaus, das ganz anders riecht, als ich es mir vorgestellt habe. Eine Mischung aus Rauch und Blumenerde. Obwohl ich noch nie in dem Haus war, weiß ich natürlich, welche Wohnungstür ihr gehört. Ich steige die Treppe herauf und versuche, jeden Schritt auszukosten. Ich bin seltsam ruhig, gar nicht aufgeregt. Vor ihrer Tür liegt eine Fußmatte, die mich in ihrer Einfachheit überrascht. Ich hatte mit einem aufgedruckten Spruch gerechnet, oder wenigstens mit einem Home-Schriftzug. Ich lege das Handy auf die braune Matte, sodass sie es auf keinen Fall übersehen kann, wenn sie nach Hause kommt.

Ich stelle mir vor, wie sie das Handy findet. Nach und nach wird sie die Chats entdecken, die in ihrem Namen geführt wurden und so viele Details über ihr Leben verraten. Danach wird sie über die Fotos stolpern, die heimlich von ihr gemacht wurden, als sie sich unbeobachtet fühlte. Ich stelle mir vor, wie sie ihre Tasche fallen lässt und das Treppenhaus absucht, als würde sie mich noch finden können. Anschließend wird sie bestimmt die Vorhänge an den Fenstern zuziehen, weil sie nicht weiß, ob sie auch in diesem Moment beobachtet wird.

Ob sie wohl weinen wird? Ich weiß es nicht. Es ist mir auch egal. Ich drehe mich um und gehe die Stufen hinab. Als ich die Haustür öffne und auf die Straße trete, scheint mir die Nachmittagssonne warm ins Gesicht. Es riecht nach Spätsommer. Zum ersten Mal seit langer Zeit liegt ein Lächeln auf meinen Lippen.

 

3 thoughts on “Katharsis

  1. Ich finds halt richtig cool, weil ich bis zu dem Satz mit dem Bartwuchs dachte es handle sich um eine Frau, die erzählt. Ausserdem mal etwas anderes: aus der Sicht des Täters geschrieben, der gleichzeitig ein Opfer war. Tolle Geschichte und aus dem Leben gegriffen.

  2. Hallo,
    Ich finde deine Geschichte total erfrischend. Der Lesefluss ist sehr angenehm, die Absätze sind gut gesetzt, die Länge ist perfekt und es ist einfach mal was anderes, dass es aus der Sicht des Opfers bzw. Täters geschrieben ist.
    Ich glaube, ich habe nicht ganz verstanden, was er genau mit dem Profil in Ihrem Namen bezwecken will🙈 geht es darum sie zu diskreditieren? Oder ist das nur der erste Schritt?
    Ich finde aber toll, dass das Ende so ist, wie es ist und es gar nicht zu einer Auseinandersetzung der beiden kommt. Lässt einfach super viel Spielraum für mich als Leser und ich bleibe gespannt zurück. Das gefällt mir. Deshalb auch mein like.

    Es ist schade, dass du erst so wenig Feedback bekommen hast. Schau doch mal bei Instagram auf wir_schrieben_zuhause vorbei, da stellen viele sich und ihre Geschichten vor.

    Liebe Grüße,

    Jenny /madame_papilio
    (falls du meine Geschichte lesen magst: Nur ein kleiner Schlüssel)

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