Simone HeiszKaum gekannt

 

Für Ordnung war sie einfach nicht geschaffen. Nach nur drei Tagen im Homeoffice glich Rebeccas provisorischer Schreibtisch im Wohnzimmer einem Schlachtfeld. Papierberge, zum Großteil bestehend aus Zeichnungen und Notizen für Werbeslogans, konkurrierten mit diversen Kaffeebechern, leeren Kekspackungen und Ladekabeln. Für die kleine Münchner Werbeagentur, für die sie seit knapp zwei Jahren arbeitete, hatte sie vor wenigen Wochen einen großen Coup an Land gezogen: eine Kampagne eines namhaften Herstellers für Sportbekleidung. Eine kleine Lokalzeitung hatte sogar einen Artikel über sie gebracht und sie zum „Kreativkopf des Monats“ gekürt. Auf dem Foto schaute sie zwar eher konsterniert aus der Visage, dennoch war Rebecca ein klein bisschen stolz auf ihren Erfolg. Daher hatte der Artikel auch einen Stammplatz in ihrem Papierwust.

 

Fast täglich ging Rebecca als Ausgleich zu ihrem stressigen Arbeitsalltag nach Feierabend joggen, für sie der beste Weg den Kopf freizubekommen und einfach mal abzuschalten. Die Tage wurden zwar langsam aber sicher länger, dennoch war es noch früh im Jahr und Rebecca sollte sich langsam sputen, um nachher nicht im Dunklen ihre Runden im Park drehen zu müssen. Daher schnappte sie sich ihren Wohnungsschlüssel und war schon aus der Tür.

 

Als Rebecca auf den Bürgersteig vor ihrem Wohnhaus trat, fiel ihr auf, dass heute wohl der zweite Dienstagabend des Monats sein musste. Das bedeutete nur eins: Wochenmarkt! Für gewöhnlich schlenderte sie liebend gern durch das bunte Sammelsurium an Geschäften: Obst- und Gemüsehändler, Blumenläden und allerhand Schnickschnack reihten sich in der Hauptstraße ihres Viertels aneinander.

 

Heute allerdings war Rebecca ein wenig zu spät dran, die meisten Händler waren schon dabei ihre Waren in den Transportern für ihren wohlverdienten Feierabend zu verstauen. Aber auch das hatte seine Vorteile: „Maleks Früchteparadies“ verteilte wie so oft bereits aufgeschnittenes Obst an Passanten (einige Erdbeeren können ja nicht schaden) und die freundliche Promoterin eines kleinen Werbestandes ließ sie einen neu auf dem Markt erschienenen Milchshake probieren.

 

Diese Kleinigkeiten machten für Rebecca das Leben in München so lebenswert. Nicht, dass es nicht auch bezaubernde Wochenmärkte in anderen Großstädten wie Hamburg oder Köln geben würde. Es war eher das wohlige Bauchgefühl, dass sie mit dieser Stadt verband. Es war einfach ihre Heimat. Mit einem Lächeln auf den Lippen lief sie los, sie hatte wahrlich schon genug Zeit vertrödelt.

 

Nach einer Viertelstunde erreichte Rebecca den südlichen Ausläufer des Englischen Gartens, ihre absolute Lieblingsstrecke. Der größte Park Münchens war eine wundervolle Abwechslung zwischen ausgedehnten Rasenflächen, kleinen Waldstücken, Sehenswürdigkeiten wie dem Monopterus und aus der Isar gespeisten Bächen, die im Sommer zum Baden einluden. Rebecca passierte die Eisbachwelle, in wärmeren Monaten konnte man hier Unmengen an Surfern an der berühmten, künstlich erzeugten Welle des Eisbaches ihr Können präsentieren sehen.

 

Zu dieser Jahreszeit allerdings war abends nicht mehr viel los, zum Surfen noch zu kalt und zum Spazierengehen genau genommen schon zu dunkel. Rebecca jedoch liebte diese Stille, die nahende Dunkelheit und den sanften Übergang vom Tag in die Nacht. Für sie hatte es nichts Bedrohliches an sich, für sie bedeutete es Ruhe. Etwas, das sie neben ihrem stressigen Job manchmal vermisste.

 

Obwohl sie noch nicht lange unterwegs war, fühlte sie sich bereits etwas außer Puste. Anscheinend hatte der Tag sie doch mehr geschafft als gedacht. Sie hielt an einer Parkbank um zu Verschnaufen, während zwei junge Männer mit beeindruckender Geschwindigkeit vorbeiliefen und sie freundlich grüßten.

 

In Gedanken versunken lief sie wieder los. Sie hörte lediglich das Zwitschern der Vögel, das Knirschen des Kieses unter ihren Sportschuhen sowie ihren stoßweisen Atem. Plötzlich hielt sie an, ohne genau zu wissen warum. Sie drehte sich um und erkannte schnell den Grund ihres abrupten Stopps: mitten auf dem Weg lag ein Handy, unterbewusst musste sie es beim Laufen wahrgenommen haben.

 

Es war ein iPhone der neuesten Generation, also offensichtlich kein billiges Modell. Vielleicht gehörte es den beiden jungen Männern, die sie soeben bei der Parkbank überholt hatten? Allerdings waren sie schon außer Sicht.

 

Sie hob das Handy auf und stellte fest, dass es trotz fehlender Hülle keine Beschädigungen aufwies. Es konnte also kaum aus großer Höhe auf den Kies gefallen sein, zumindest darüber würde der Besitzer sich freuen. Apropos Besitzer, Rebecca hatte wenig Lust, das Telefon nun zur Polizei oder gar einem Fundbüro zu schleppen. Das würde ihr garantiert eine Unmenge an auszufüllenden Formularen aufhalsen. Außerdem war es dafür ohnehin schon reichlich spät am Abend.

 

Aus einem spontanen Impuls heraus drückte sie auf den Home-Button des Telefons und war zugegebenermaßen überrascht, dass sich das Handy problemlos entsperren ließ. Wer richtete denn bei seinem Handy keinen Zahlencode oder Fingerabdruck als Pin ein? Jemand, der offensichtlich billigend in Kauf nahm, dass man ohne großes Federlesen in seiner Privatsphäre herumschnüffeln konnte.

 

Sie durchforstete bereits die Kontaktliste nach hilfreichen Hinweisen („Schatz“, „Mama“ oder „Papa“ konnte man doch sicher anrufen und den Fund des Handys melden), als ihre Neugier siegte und sie die App mit den gespeicherten Fotos öffnete. Nur mal kurz schauen tut ja schließlich keinem weh.

 

Die Enttäuschung hätte nicht größer sein können: auf dem Handy befanden sich Unmengen von vermeintlichen Urlaubsfotos. Diverse berühmte Sehenswürdigkeiten reihten sich aneinander, die Qualität der Fotos war lausig. Als hätte man die Motive von einer Litfaßsäule oder einem Plakat abfotografiert. Personen waren auf keinem der Bilder zu sehen.

 

Mit einem genervten Seufzen wischte Rebecca ein Foto nach dem anderen von rechts nach links bis sie plötzlich erstarrte.

 

Ein gänzlich anderes Foto blickte ihr nun entgegen, es schrie sie fast an. Sie bemerkte wie paralysiert, wie ihr das Handy aus den schlanken Fingern glitt und mit einem hässlichen Knirschen auf dem Boden landete. Auf dem Foto war jemand, den sie nur allzu gut kannte: sie selbst.

 

Mit klopfendem Herzen stand Rebecca da, unfähig das Handy – das mit dem Bildschirm nun Richtung Boden zeigte – wieder aufzuheben. Nach ein paar Sekunden verebbte der anfängliche Adrenalinstoß und ihr Kopf gewann langsam wieder die Oberhand. Sicherlich hatte sie sich getäuscht, kein Grund zur Panik. Mutiger, als sie sich fühlte, griff sie nach dem Telefon, hob es auf und drehte es um.

 

Diesmal war sie darauf vorbereitet, dennoch bekam sie eine Gänsehaut am ganzen Körper: die Frau auf dem Foto war eindeutig sie selbst. Es zeigte sie wartend an einer Kasse, wahrscheinlich beim Supermarkt. Das Foto konnte noch nicht alt sein, sie trug einen Mantel, den sie erst seit kurzem besaß.

 

Rebecca traute sich kaum, sich die kommenden Fotos anzeigen zu lassen, dennoch glitt ihr Zeigefinger fast automatisch über den Bildschirm …wisch… sie mit ihrer Familie bei ihrer Uni-Abschlussfeier …wisch… sie beim Backpacking in Myanmar vor fünf Jahren …wisch… sie bei der Zeugnisverleihung ihrer Schule …wisch… sie mit ihrem Bruder als Kinder beim Suchen nach dem Osternest.

 

Wisch. Ein Babyfoto. Das Betrachten der Fotos hatte sich wie eine Zeitreise rückwärts angefühlt, ihr Magen fuhr Achterbahn, was auch die aufsteigende Übelkeit erklärte. Rebecca kannte jedes dieser Fotos aus ihrem Leben, aber wer war das Baby? Etwa sie selbst? Sie kannte das Foto nicht. Doch…wie konnte das sein? Und noch viel wichtiger: wessen verdammtes Telefon war das?

 

Rebeccas erster Impuls war, das Telefon weit von sich ins Gebüsch zu schleudern, so wie Kinder die Augen schließen in der Hoffnung, man würde sie dann nicht mehr sehen. Im letzten Augenblick allerdings, hielt sie sich zurück. Sollte – wer auch immer – dieses Spielchen noch weiter mit ihr treiben, musste sie morgen dringend zur Polizei gehen, mit dem Handy als Beweisstück. Also wanderte es in die eingenähte Handytasche ihrer Jogginghose.

 

Obwohl Rebecca die Strecke zu dieser Uhrzeit, also auch die herannahende Dunkelheit, wohlbekannt war, spürte sie mittlerweile ein nagendes Gefühl der Angst. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie sollte auf schnellstem Wege zurück nach Hause laufen, die Tür verriegeln und hoffen, dass sie heute Nacht auch nur ein Auge zumachen würde.

 

Sie lief los, schneller als die letzten Kilometer. Es war fast ein Sprint. Von einer Sekunde auf die andere erfasste ein starker Schwindel ihren Kopf, sie fühlte sich wie in Watte gepackt. Anstatt zu stoppen, bewegten sich ihre Beine wie von selbst weiter. Sie musste nach Hause, dringend. Irgendetwas stimmte hier nicht.

 

Ihr Herz begann zu rasen, während sich alles um Rebecca zu verlangsamen schien. Wie aus der Ferne nahm sie wahr, dass ihre Knöchel gegeneinanderschlugen und sie ins Straucheln geriet.

 

Wie in Zeitlupe senkte sich ihr ganzer Körper Richtung Boden. Sie wusste, was jeden Moment passieren würde, dennoch kam der Aufprall hart und unerwartet. Sie konnte kaum die Augen offenhalten. Ein Knacken im nahen Gebüsch war das Letzte, das Rebecca hörte, bevor die bleierne Schwärze sie umfing.

 

Als Rebecca erwachte, fühlte sie sich so hundeelend und kraftlos, dass sie es nicht über sich brachte, die Augen zu öffnen. Ihr Kopf dröhnte, sie hatte einen fahlen Geschmack auf der Zunge und lag bäuchlings auf dem Boden. Was war passiert…richtig…sie war beim Joggen gestürzt. Um sich aufzustützen, legte sie ihre Hände seitlich ihres Oberkörpers auf den groben Kies. Moment…was sie spürte war eindeutig Betonboden. Wo war der Kies aus dem Park?!

 

Mit einem Mal war Rebecca hellwach und schlug die Augen auf. Obwohl sie es schon erwartet hatte, traf die Erkenntnis sie wie ein Schlag: sie war nicht mehr im Park. Sie lag auf dem Boden eines circa zehn Quadratmeter großen Raumes ohne Fenster. Er sah aus wie ein Kellerabteil, nur ohne den obligatorischen Krempel. Der Boden fühlte sich kalt an unter ihren Handflächen und eine an der Decke baumelnde Glühbirne tauchte den Raum in ein diffuses Licht.

 

Sowohl Rebeccas Haut als auch ihre Kleidung waren voller Dreck, aus ihrem zerzausten Haar fischte sie einige Blätter. Ihre linke Wange brannte und als sie diese vorsichtig mit den Fingern berühren wollte, zuckte sie unwillkürlich vor Schmerz zurück.

 

Auch ihr Schädel dröhnte empfindlich. Vielleicht eine Gehirnerschütterung. Sie wollte aufstehen, musste allerdings feststellen, dass ihre Füße mit dicken Seilen umschlungen waren. Wie kam sie hierher? Hatte jemand sie entführt?

 

Plötzlich fiel es ihr wieder ein…das fremde Handy, die Fotos! Wie automatisch griff sie an die eingenähte Tasche ihrer Jogginghose, nur um sie leer vorzufinden. Jemand musste sie durchsucht haben. Der bloße Gedanke daran jagte Rebecca einen Schauer über den Rücken. So ganz ohne Telefon konnte sie nicht einmal die Polizei verständigen. Wahrscheinlich hätte sie in diesem Kellerloch ohnehin keinen Empfang gehabt.

 

Erfolglos mühte sich Rebecca einige Minuten ab, die Seile um ihre Beine zu lockern. Ihre Hände schmerzten und sie hätte schwören können, dass die Knoten jetzt nur noch fester saßen.

 

Ein Geräusch direkt hinter ihr ließ sie herumfahren, eine Tür, die sie bisher nicht bemerkt hatte, wurde langsam geöffnet. Die Scharniere knarzten dabei unheilvoll. Erschrocken robbte Rebecca, so schnell es ihre gefesselten Beine erlaubten, in die andere Ecke des Raumes…

 

…als ob das irgendetwas bringen würde. Rebecca hatte genug Grips um zu wissen, dass sie mit gefesselten Beinen, tierischen Kopfschmerzen und Schürfwunden am ganzen Körper denkbar im Nachteil war und nicht einmal für den Osterhasen eine Bedrohung darstellen würde.

 

Die Tür fiel ins Schloss und als Rebecca aufblickte, war sie, vorsichtig ausgedrückt, überrascht.

 

Hatte sie einen bulligen Schlägertypen erwartet, stand vor ihr nun eine Frau Mitte bis Ende dreißig, mit etwa ihrer Körpergröße und starrte sie einfach an. In Rebeccas Hinterstübchen klingelte es, die Frau kam ihr irgendwie bekannt vor, aber sie kam nicht darauf.

 

„Wer sind Sie? Was wollen sie von mir?!“ Wenn sie sich Krimis im Fernsehen ansah, hatte sie sich immer gewundert, warum Entführungsopfer immer noch die lächerliche Höflichkeit besaßen, ihre Entführer zu siezen. Vermutlich, so dämmerte es ihr nun, war es nur der verzweifelte Versuch, eine möglichst normale, zivilisierte Konversation zu führen. Die Situation wirkte dadurch weniger…surreal.

 

Die Frau starrte sie weiterhin einfach an, ohne ein Wort zu sagen. „Was zum Teufel wollen Sie von mir?!“ Rebeccas Stimme überschlug sich beinahe beim verzweifelten Versuch, nicht zu Weinen anzufangen. War diese Frau schwer von Begriff?! Oder genoss sie es einfach, sie wie ein Häufchen Elend auf dem Boden liegen zu sehen?

 

„Du hast wirklich keine Ahnung wer ich bin, oder?“, meldete sich die Fremde nun endlich zu Wort. Jetzt war es an Rebecca, die Frau unverhohlen anzustarren. „Sollte ich?“, gab sie trotzig zurück. Anstatt auf ihre Frage einzugehen, begann die Frau einfach draufloszureden: „Ich bin wirklich überrascht, dass alles so reibungslos geklappt hat. Weißt du, ich mache sowas auch nicht jeden Tag.“

 

Rebecca antwortete nicht. Sie wusste nicht, ob diese Aussage sie eher beruhigte, oder noch mehr ängstigte.

 

„Dich allein vom Park hierherzuschleppen, war nämlich nicht ganz einfach. Du warst schwer wie ein Sack Kartoffeln. Zum Glück gehst du immer abends joggen, im Dunkeln hat uns sicher keiner gesehen.“ Rebecca konnte sich vorstellen, was für ein Kraftakt es gewesen sein musste, sie bewusstlos durch den Park zu bugsieren. Ihr Gegenüber sah nicht gerade aus wie Christine Theiss.

 

„Ich vermute du wärst mir nicht von allein gefolgt, auch wenn ich ganz nett gefragt hätte.“ sagte die Frau mit süffisantem Grinsen im Gesicht, „Daher musste ich etwas nachhelfen. Milchshakes sollen ja gut für die Knochen sein.“

 

Jetzt fiel es Rebecca wie Schuppen von den Augen: „Sie waren das! Sie waren die Frau auf dem Wochenmarkt! Was haben sie mit mir gemacht? Was war in dem Shake?! Schlaftabletten?!“

 

„Gut kombiniert Watson.“ Deshalb hatte sie sich beim Laufen also schon nach kurzer Zeit so erschöpft gefühlt. Die Wirkung der Medikamente setzte zu diesem Zeitpunkt bereits ein.

 

„Ich hatte gehofft, dass die Wirkung der Tabletten nicht zu hoch dosiert war und du das Handy noch findest, bevor du einen Abgang machst. Dein Gesicht beim Durchforsten der Fotos war unbezahlbar. Und ach ja, danke für deine so aufschlussreichen Social Media Accounts.“ War das Grinsen der Frau vorhin einfach nur süffisant, war es nun kalt und berechnend.

 

„Sie haben das Handy auf dem Weg deponiert? Wie konnten Sie vor mir da sein?“ Rebecca verstand nun gar nichts mehr. „Mit dem Auto natürlich, du Dummerchen. Ich wartete im Gebüsch, schließlich musste ich sicher gehen, dass auch wirklich du das Telefon findest. Für meinen Plan war es zwar nicht unbedingt nötig, aber ich wollte dir einen kleinen Denkanstoß geben.“

 

Denkanstoß!? Wofür? „Wer sind Sie? Warum haben Sie mich hierhergebracht? Ich habe Ihnen doch nichts getan!“, entgegnete Rebecca.

 

„Nichts getan?! NICHTS GETAN!?“ Das plötzliche Geschrei ließ Rebecca noch etwas weiter in Richtung Wand rutschen, was war nur los mit dieser Verrückten? Für einen kurzen Moment wurde der Ausdruck in den Augen der Frau etwas milder, „Du hast verdammt nochmal wirklich keine Ahnung wer ich bin, oder?“

 

„Nein! Sonst würde ich doch nicht ständig danach fragen.“, wimmerte Rebecca verzweifelt.

 

„Schau mich doch einmal genau an: meine Augen, meine Nase, kommt dir daran wirklich nichts bekannt vor?“ Als sie Rebeccas fragenden Blick bemerkte, fuhr sie fort: „Larina, ich bin Iwona, deine Schwester.“

 

Bitte was?! Rebecca war ganz offensichtlich Opfer einer tragischen Verwechslung geworden. „Das kann unmöglich sein! Sie täuschen sich, mein Name ist Rebecca! Außerdem habe ich keine Schwester, lediglich einen Bruder.“

 

„Du enttäuschst mich Larina. Man sagt, Geschwister hätten eine mentale Verbindung zueinander. Die scheint bei dir gänzlich verlorengegangen zu sein. Als ich vor vier Wochen zufällig dieses Käseblatt zwischen die Finger bekommen habe“, sie warf Rebecca mit einer abschätzigen Geste den Artikel über die Werbekampagne vor die Füße, „wusste ich sofort, dass du es warst. Einzig der Name hat mich irritiert. `Rebecca`, also hatten diese Spießer es nicht einmal für nötig befunden, dir auch nur einen Funken deiner Wurzeln zu lassen.“

 

„Von was zum Teufel reden Sie da eigentlich? Das macht doch alles keinen Sinn! Welche Wurzeln?!“ Anstatt zu antworten zog die Frau namens Iwona ein Blatt Papier aus der Hosentasche ihrer Jeans und streckte es Rebecca entgegen.

 

Zögerlich griff sie danach und faltete es auseinander. Es war ihre Geburtsurkunde: Rebecca Schwarz, geboren am 27.04.1985, Eltern Claudia und Andreas Schwarz, wohnhaft Gartenstraße 13, 83022 Rosenheim. „Und was soll mir das jetzt bitte sagen? Dass Sie kriminell sind und es irgendwie geschafft haben, an meine Geburtsurkunde zu kommen? Hier steht schwarz auf weiß, dass mein Name Rebecca Schwarz ist, nicht Larina, oder sonst wie! Also binden Sie mich gefälligst los!“, wetterte Rebecca.

 

„Blätter um und lies vor. Laut.“, befahl ihr Iwona. Im Eifer des Gefechts war Rebecca gar nicht, aufgefallen, dass sich hinter ihrer Geburtsurkunde ein zweites Dokument befand, diesmal war es ein Auszug aus dem Geburtenregister.

 

Mit trockenem Mund begann Rebecca zu lesen: „Geburtenregister Standesamt Rosenheim, Larina Zajac, geboren am 27.04.1985, Beantragung Namensänderung zu Rebecca Schwarz, wohnhaft Gartenstraße 13, 83022 Rosenheim.“

 

Während ein Teil in Rebeccas Kopf versuchte das Unvermeidliche zu leugnen, begann ein anderer Teil einen Funken Wahrheit in Iwonas haarsträubenden Aussagen zu entdecken. Rebecca hatte so viele Fragen, dass ihr der Kopf schwirrte, dennoch schaffte es keine einzige bis zu ihrem Mund.

 

Zum ersten Mal in den letzten Minuten war Rebecca froh, dass Iwona das Wort ergriff: „Unsere leiblichen Eltern starben vor fast fünfunddreißig Jahren bei einem Autounfall nahe der tschechischen Grenze. Wir beide – du warst gerade einmal wenige Monate und ich drei Jahre alt – waren mit im Auto, doch konnten unverletzt geborgen werden.

 

Wir kamen beide in ein Kinderheim. Wenige Wochen nach dem Unfall kam ein Ehepaar vorbei…Claudia und Andreas Schwarz. Ihre Namen hatte ich später aus den Akten erfahren. Als Geschwister hätten wir gemeinsam vermittelt werden sollen. Allerdings war das Paar nur an einem Kind interessiert, sie hatten bereits ein leibliches.

 

Also adoptierten sie bloß dich. Mich ließen sie einfach dort zurück. Dabei warst du alles was mir noch geblieben war Larina! Und sie nahmen dich mir einfach weg!“ Tränen des Zorns standen in Iwonas Augen. Es schien, als wäre sie froh, sich diese Geschichte endlich von der Seele reden zu können.

 

„Ich wanderte von Pflegefamilie zu Pflegefamilie, doch keiner konnte sich zu einer Adoption durchringen. Niemand scherte sich um mich. Manche fallen eben durch das soziale Raster.“, Iwona zuckte mit den Schultern.

 

„Jahrelang stellte ich mir vor, wie es dir wohl erging. Wie du behütet und geliebt wurdest, man dich zu Ballettstunden und Reitunterricht karrte und wie du alles hattest, was ich mir so sehnlichst wünschte. Ich wusste, dass es so war, ich konnte es fühlen.

 

Das Einzige, das mich über die Jahre aufrecht hielt, war der Zorn. Der Zorn auf dich. Ich schwor mir, dich eines Tages zu finden und dafür büßen zu lassen. Warum hattest du so viel mehr Glück als ich?! Warum war mein Leben schon vorbei, bevor es begonnen hatte?! Das ist nicht fair!“ Die Fragen hingen unbeantwortet in der Luft und Rebecca wagte nicht etwas zu erwidern.

 

„Sobald ich 18 war, machte ich mich auf die Suche nach dir. Doch niemand half mir, keine Polizei, kein Jugendamt, kein niemand! Deine neuen Eltern hatten eure Spuren hervorragend verwischt. Ich konnte dich einfach nicht finden, keine Chance.

 

Doch vor Kurzem half mir – endlich – der Zufall auf die Sprünge. Ich war in München eigentlich nur auf der Durchreise, doch dann sah ich diesen Artikel von dir…es kam mir vor wie ein Wink des Schicksals. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Nach so vielen Jahren sollte ich endlich meine Rache bekommen, die Rache dafür, dass du mich im Stich gelassen hast Larina!“

 

Wie vom Donner gerührt starrte Rebecca Iwona an. War sie wirklich ihre Schwester? War diese verhängnisvolle Geschichte tatsächlich wahr und ihre Eltern waren gar nicht ihre Eltern? Falls das stimmte, wieso hatten sie ihr nie die Wahrheit gesagt? Sie hätte damit umgehen können…Tränen liefen über Rebeccas Wangen und tropften auf den dreckigen Betonboden. Es war ihr einfach alles zu viel.

 

„Aber wieso tust du das alles hier? Der Raum, die Entführung?“, versuchte Rebecca sich zu erklären, „Bis eben wusste ich gar nichts von deiner Existenz, ich wusste nicht, dass ich eine Schwester habe! Wie hätte ich mich um dich sorgen, oder sogar nach dir suchen sollen!“

 

„Du hättest es fühlen müssen, die Verbindung zwischen uns, so wie ich es all die Jahre getan habe!“, erwiderte Iwona außer sich, „Mein ganzes Leben habe ich mich gefragt, was ich falsch gemacht habe, warum sie dich adoptiert und mich zurückgelassen haben! Du hast mein Leben zerstört! Ihr alle habt mein Leben zerstört!“

 

„Du bist doch wahnsinnig!“, schleuderte Rebecca ihr entgegen.

 

„Ich, wahnsinnig?! Im Gegenteil, ich war noch nie so klar wie jetzt.“

 

Bei ihren letzten Worten fasste sich Iwona an den Hosenbund ihrer Jeans. Rebecca gefror das Blut in den Adern, als sie erkannte, was ihre Schwester da tat: sie richtete eine Pistole auf sie. Wie in einem schlechten Film blickte sie nun in den Lauf einer echten Pistole.

 

„Iwona, nicht! Was tust du da, das kann doch nicht…“

 

„Oh doch, das ist mein voller Ernst. Du hast keine Ahnung wie lange ich schon auf diesen Moment gewartet habe. Endlich bin ich am Drücker…wortwörtlich.“ Iwona verzog ihren Mund zu einem Grinsen, einer Fratze. In ihrem Gesicht stand Entschlossenheit, Wahnsinn, aber auch pure Freude.

 

„Lass uns neu anfangen Iwona! Wir haben uns doch gerade erst wiedergefunden, es ist noch nicht zu spät.“, flehte Rebecca in ihrer Verzweiflung. „Ich werde es niemandem sagen, versprochen, keiner muss vom heutigen Vorfall erfahren. Du hast immer noch eine Chance! Wir haben immer noch eine Chance!“ Doch in den Augen ihres Gegenübers sah sie, dass sie den Kampf bereits verloren hatte.  Die Sekunden verstrichen und fühlten sich an wie eine Ewigkeit.

 

Iwona entsicherte die Pistole und richtete ein letztes Mal das Wort an Larina: „Wie sagte Nicolás Gómez Dávila so schön? Die Strafe dessen, der sich sucht, ist, daß er sich findet. Tja, und sucht man sich nicht, fällt die Strafe eben noch viel höher aus.“

4 thoughts on “Kaum gekannt

  1. Moin Simone,

    WOW! Der Wortschatz den du benutzt um deine Geschichte zu erzählen gefällt mir richtig gut. Starker Plot, guter Twist. Verständlich und flüssig erzählt. Guter Stil.
    Ein Ende das Fragen offen lässt, so liebe ich Kurzgeschichten.

    Da ist dir was schönes gelungen, sei stolz darauf. Auch deine Geschichte zeigt mal wieder, dass hier so viele, tolle Stories entstanden sind. Phänomenal!

    Ein echt hohes Niveau hier in diesem Wettbewerb!

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für’s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

    1. Hallo Frank,

      vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar und vor allem für deine so positive Bewertung meiner Geschichte, ich habe mich unglaublich darüber gefreut! Für mich sind Kurzgeschichten ein ganz neues Thema, das Schreiben daran hat aber sehr viel Spaß gemacht. Einfach ein tolles Konzept dieser Wettbewerb. 🙂

      LG, Simone

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