metallstiftwundenKein Schritt zurück

Es ist unglaublich, wie ein einzelner Schritt zehn Jahre auslöschen kann. Ein Schritt durch dieses Tor, hinter dem ich vor zehn Jahren gefangen gehalten wurde. Und jetzt kehre ich gewissermaßen freiwillig dorthin zurück.

Nun gut, freiwillig ist das nicht. Sie hat mich dazu gezwungen, als sie mir meinen Sohn genommen hat, das Einzige, was von meinem früheren Ich noch übrig blieb. Und anstatt niemand zu sein, war ich ohne ihn auf einmal wieder die Alte. Ich habe mich nicht verändert. Ich habe nur versucht, eine andere zu sein.

Ich wundere mich, dass ich mich gerade daran erinnere, wo ich doch so viel vergessen habe aus den letzten zwei Wochen. Doch ich weiß noch, der Himmel war ungewöhnlich blau an diesem Tag, an dem es anfing. Ungewöhnlich blau selbst für diese Stadt, die sich fast immer mit einem blauen Himmel schmückt.

Es war ein Tag wie jeder andere gewesen, bis ich am Abend im Ranzen von Tomá nach der Brotdose suchte. Wie immer hatte mein Sohn vergessen, sie auszupacken, aber am nächsten Morgen würde es wieder Streit geben, wenn seine Lieblingsdose nicht sauber wäre. Absurd, wenn ich heute daran denke, dass wir unsere Tage mit solchen Kleinigkeiten füllten. Wir hatten uns offensichtlich schon viel zu sicher gefühlt, auch wenn wir nach Einbruch der Dunkelheit nie das Haus verließen und fast jedes Jahr umzogen. Wir wollten uns einfach sicher fühlen.

Giulia wartete unten in der Küche darauf, den Abwasch machen zu können, und ich musste erst noch die Dose finden, ich war so wütend. Wie immer hatte Tomá alle Schulsachen durcheinander in den Rucksack gestopft, ich stapelte Bücher, Stifte und Mappen auf der durchgesessenen Couch in unserem kleinen Wohnzimmer. Bis ich die Brotdose ganz unten gefunden hatte, fluchte ich schon ordentlich. Ich fluche immer noch auf Deutsch, auch wenn ich ansonsten fast nur Spanisch spreche. Eine Deutsche wollte ich doch nicht mehr sein, seit ich mein altes Leben hinter mir gelassen hatte.

Die Vergangenheit holt einen immer ein. Ich musste noch viel schneller laufen.

Ich öffnete die Dose vorsichtig, als wüsste ich bereits, wie sehr ihr Inhalt mein Leben verändern würde. Doch an diesem Tag war es kein bereits fauliger Obstrest, der mich zurückschrecken ließ.

Im nächsten Moment lachte ich auf. Wie empfindlich ich doch war! Es war nur ein Telefon. Aber wie zum Teufel kam ein Smartphone in die Brotdose meines Sohnes? Er ist zehn. Er besitzt kein Mobiltelefon, seine Freunde auch nicht. Überhaupt sind Smartphones, besonders so aktuelle, selten in unserer momentanen Heimat. Neue Technik braucht immer ein wenig, bis sie Bolivien erreicht. Wem gehörte das Telefon also?

Ich hätte gleich an Aenne denken sollen. Solche Psychospielchen sind genau ihr Ding. Aber ich dachte doch, wir wären ihr entkommen, zehn Jahre hatte ich nichts von ihr gehört. Wenn ich in dem Moment schon geahnt hätte, was das Telefon bedeutete, hätte ich meinen Sohn genommen und wäre geflohen. Wieder einmal. Aber ich fühlte mich ja so sicher, ich dachte, ich wäre so klug.

Ich frage mich, wie ich so gut verdrängen konnte, was sie mit mir getan hatte, wozu sie fähig war. Ich hatte Angst, aber gleichzeitig glaubte ich nicht daran, dass sie mich in Sucre finden würde. Ich wollte nicht daran glauben. Und deshalb lachte ich über das Telefon, anstatt wieder meine Zelte abzubrechen. Ich hielt es für einen Scherz.

Ich legte das Telefon also beiseite, brachte die Brotdose in die Küche und wenig später Tomá zu Bett. Als ich die Decken um ihn herum feststeckte, dachte ich, wie sehr er seinem Vater ähnelte. Aber ich verdrängte diesen Gedanken schnell, genauso wie die Existenz des Telefons. Sein Vater spielte keine Rolle mehr in unseren Leben. Ich dachte tatsächlich kaum noch an ihn.

Bis heute. Auf dem Weg durch den Garten kann ich seine Präsenz fast spüren, auch wenn ich nie mit ihm zusammen hier gewesen bin. Aber in diesem Haus habe ich so viel an ihn gedacht, als ich mein eigenes Leben riskierte, um sein Baby zu retten. Hier hat Aenne versucht, meinen Geist zu brechen. Einen Teil von mir hat sie für immer behalten, einen Schatten an den Wänden, den Geruch meiner Angst. Heute werde ich ihn wiedersehen.

Vor zwei Wochen, als ich das Telefon fand, hatte ich vorgehabt, es gleich am nächsten Tag mit in die Schule zu nehmen, um den Besitzer ausfindig zu machen. Aber natürlich fiel mir das erst wieder ein, als Tomá und ich den steilen Fußweg zur Schule erklommen. Tomá sprang fröhlich die Stufen hinauf, winkte einem Vater zu, der in seinem alten Auto die Straße herabgerollt kam, und lief weit voraus. Genau wie ich fühlte er sich richtig wohl in Sucre. Zum ersten Mal in seinem Leben benahm er sich wie ein normales Kind, vielleicht ist auch das einer der Gründe, warum ich so blind war. Ich wollte mir einfach nicht eingestehen, dass wir auch hier nicht bleiben konnten.

Auf dem Weg zur Schule schnaufte ich. Tomá war als kleines Kind über die Wolken gezogen, aber meine Erythrozytenzahl hatte sich anscheinend auch nach acht Jahren dem Leben in den Anden nicht angepasst. Vielleicht machte ich auch zu wenig Sport. Ich dachte an die YouTube-Videos, zu denen ich in Deutschland immer Yoga gemacht hatte, da fiel mir das gefundene Telefon wieder ein. „Chicito, hast du gestern ein Handy gefunden, so eins wie Mamas?“ Ich benutze immer noch das billige Wegwerftelefon, dass ich mir während unserer Flucht an einer Supermarktkasse gekauft hatte. Das gefundene war deutlich neuer und besser.

Tomá blieb nicht einmal stehen. „No, mamá.“

Bei ihm hat das mit dem kein Deutscher sein weitaus besser funktioniert als bei mir. Aber er ist ja auch zum ersten Mal wieder in Deutschland, seit er ein Säugling war. In den letzten zehn Jahren hat er in zwölf verschiedenen Städten gelebt. Fast alle in spanischsprachigen Ländern.

Seltsamerweise machte ich mir jedoch zu diesem Zeitpunkt immer noch keine Sorgen darüber, wie das Handy ausgerechnet in Tomás Brotdose kommen konnte. Nur die Tatsache, dass die folgenden Tage in meinem Kopf zu einer grauen Masse verschmolzen sind, zeigt, dass ich meine Angst nur verdrängt hatte. Ich fragte die anderen Eltern, die ich an der Schule traf, und hielt nach einem Aushang Ausschau, aber als nichts darauf hinwies, dass jemand sein Telefon vermisste, ging ich zu meiner Arbeit im Supermarkt.

Ich habe früher Fachbücher lektoriert, jetzt räume ich Regale ein. Immer schön unter dem Radar bleiben.

Auch dieser Tag war strahlend schön, doch als Tomá im Bett war und die Sonne unterging, wurde es schlagartig finster und kalt.

Ich saß mit einem Buch auf der Couch, als plötzlich das fremde Handy brummte. Es lag noch dort, wo ich es am Vortag vergessen hatte, auf meinem kleinen Schreibtisch am Fenster. Aber dieses Ich brauchte den Schreibtisch so selten.

Neugierig und auch ein wenig misstrauisch, wie man sich einem wilden Tier nähert, stand ich auf, ging die fünf Schritte quer durch das Wohnzimmer und nahm das Telefon in die Hand. Der Sperrbildschirm zeigte eine Nachricht. „Gotcha!“ Kein Name. Unbekannte Telefonnummer.

Ich habe dich? Wen?

Warum ich mich weiter mit dem Smartphone beschäftigte, obwohl es mir langsam unheimlich wurde, verstehe ich bis heute nicht. Ich bin kein abenteuerlustiger Mensch. Die ganze Geschichte damals hatte gerade darum begonnen, weil ich zu träge und zu vorsichtig war, um eigene Entscheidungen zu treffen. Und ehe ich mich versah, traf Aenne alle Entscheidungen für mich. Sogar die, ob ich ihr Haus irgendwann wieder verlassen wollte.

Noch im Stehen mitten im Raum versuchte ich das Handy zu entsperren – PIN erforderlich. Natürlich. Ohne darüber nachzudenken, gab ich meine eigene PIN ein, Tomás Geburtstag. Es war eigentlich nur ein Spaß. Aber es funktionierte! Das musste ein skurriler Zufall sein. Wie viele Zahlenkombinationen gab es? Sicher, viele. Aber dennoch konnte es doch auch mal mehrere Menschen mit der gleichen PIN geben, rein zufällig.

In meinem Bauch kribbelte es. Der Blumenstrauß, der auf dem Schreibtisch stand, roch auf einmal süß und modrig. Die flackernde Deckenbeleuchtung schien die Dunkelheit der Andennacht nicht fern halten zu können.

Ich wusste nicht recht, was ich mit dem entsperrten Telefon machen sollte. Die Kontakte – vielleicht war so etwas wie „zu Hause“ eingespeichert, dann könnte ich herausfinden, wem es gehörte.

Es gab keinen einzigen Kontakt.

Das machte mich misstrauisch, aber auch noch neugieriger. In meinem Überlebensmodus war ich anscheinend zum Forscher geworden, der auch Gefahren nur noch als interessant betrachtet. Wer war ich geworden? Und wer war dieser Mensch, der anscheinend niemanden kannte, von niemandem gekannt werden wollte, aber dennoch gefunden worden war? Vielleicht war er auf der Flucht wie ich? Südamerika war schon immer beliebt bei Flüchtigen aller Art. Vielleicht musste auch er sich eine neue Identität schaffen und hatte noch keine neuen Kontakte aufgebaut? Die Nummern in meinem Handy stammten hauptsächlich von Tomás Schulfreunden …

Der Gedanke an die Parallelen zwischen mir und dem ominösen Handybesitzer verstärkten das Kribbeln in meinem Bauch, aber ich dachte immer noch nicht an Aenne. Ich hatte mich doch gut versteckt. Ich wollte jetzt endlich irgendwo ankommen.

Gab es Fotos? Ich öffnete die Galerie und ließ das Telefon fallen. Von allen Bildern hatte mich mein eigenes Gesicht angeblickt, mit Tomá als Baby auf dem Arm, der zweijährige Tomá in seinem Bettchen in unserem Zimmer in Miami, Tomá bei der Einschulung in Lima mit fünf … Der Bildschirm wurde schwarz, als das Handy auf dem dünnen Teppichboden aufschlug. Ich hatte Angst, dass es kaputt gegangen war, das durfte nicht sein. Ich musste die Bilder noch einmal sehen, sichergehen, dass ich mich nicht getäuscht hatte, es war doch nur eine Sekunde gewesen. Das konnte doch einfach nicht wahr sein, dass auf diesem Telefon Bilder von mir und meinem Sohn waren.

Als ich mich nach dem Telefon bückte, tapste ein barfüßiger, frierender Tomá ins Zimmer. „Was ist los, mamá? Du hast geschrien.“

Ich beugte mich zu meinem Sohn hinunter und nahm ihn fest in den Arm. „Alles gut, cariño. Alles gut.“ Eigentlich wusste ich da bereits, dass gar nichts gut war. Aber das durfte doch nicht wahr sein, das durfte es einfach nicht.

Ich schlief schlecht in dieser Nacht, in allen Nächten seither. Im Traum war ich wieder in Deutschland, mein eigenes Gesicht blickte mich vorwurfsvoll an, als hätte ich mich selbst vergessen. Aber ich musste es doch, ich hatte doch keine Wahl! Oder hatte ich so viel vergessen, dass ich damit meinen Sohn erst in Gefahr brachte?

Am nächsten Tag beschäftigte ich mich eingehender mit dem Telefon. Tomá war bei einem Freund zum Spielen, ich hatte Zeit. Ich saß auf der Couch, hatte mein eigenes Handy und ein Notizbuch bereitgelegt, daneben eine Kanne Kaffee. Selbst wenn ich ihn vor Schreck verschütten sollte – auf dem abgewetzten braunen Cordstoff der Couch würde es nicht auffallen.

Glücklicherweise passte mein Ladekabel in den Anschluss. So würde es wenigstens nicht an einem leeren Akku scheitern. Ich versuchte, das Handy neu zu starten, und tatsächlich funktionierte es, anscheinend war es nur ein Wackelkontakt gewesen. Die PIN der SIM-Karte war die gleiche wie bei meinem – wie für den Sperrbildschirm. Aber jetzt glaubte ich nicht mehr an einen Zufall. Wie konnte sie das wissen? Bin ich so durchschaubar?

Ich hielt mich an meiner Kaffeetasse fest, als ich die Mediathek durchscrollte – einmal schnell und dann Bild für Bild. Es waren Hunderte, vom Tag von Tomás Geburt bis heute. Nur ein Bild erkannte ich, die Schwestern hatten es direkt nach der Geburt im Krankenhaus gemacht. Wie war sie nur darangekommen? Ich hatte es nicht einmal meiner Mutter geschickt.

Ich öffnete die Tür zur Dachterrasse weit und blätterte im Stehen weiter. Ich ertrug den Verwesungsgeruch der Blumen nicht mehr.

Es war ganz still, der Himmel blau und leer. Wo waren die Vögel, der Verkehr, andere Menschen? Ach ja, ich war ja in Bolivien.

Die meisten Bilder waren Schnappschüsse, manche anscheinend mit einem guten Objektiv aus der Ferne aufgenommen, manche in einem seltsamen Winkel, als hätte sie es im Vorbeigehen mit dem Handy gemacht. Sie war uns so oft so nah gewesen, ohne dass ich es gemerkt hatte. Dabei habe ich mich doch immer wieder umgeblickt, habe die Welt nie aus den Augen gelassen. Wie konnte mir meine größte Feindin entgehen?

Die Zeitstempel zeigten höchstens mal eine Pause von einem halben Jahr zwischen den Bildern, oft waren es nur Tage. Sie zeigten die ganze Odyssee mit Baby, aus Magdeburg nach Berlin, dann Madrid, dann Miami. In keiner Megacity hatte ich mich sicher gefühlt. Dann kamen die Anden, die großen Weiten. Ich fühlte mich beobachtet. Erst hier, im beschaulichen Sucre, wollte ich zur Ruhe kommen, nach acht anstrengenden Wanderjahren.

Und sie hatte auch das dokumentiert. Das schäbige Zimmer zur Untermiete, die Jobsuche, das weiße Haus ganz unten an der Straße. Tomás Einschulung in noch einer neuen Schule, ein Sportfest, ein strahlender Junge zwischen all den anderen Migrantenkindern. Es gibt so viele Deutsche in dieser Stadt, dass es sogar eine deutsche Schule gibt.

Nur uns gibt es in dieser Stadt nicht mehr. Wir werden weiterziehen müssen.

Wieder spielte sie mit meinen Gedanken. Wieder wusste ich nicht, wie ich mich zur Wehr setzen sollte. Wohl platzierte Bilder hatte sie schon einmal genutzt, um mich durcheinander zu bringen. Und trotzdem hatte ich so lange gebraucht, um dieses neue Spiel zu durchschauen.

Giulia fand mich weinend und zitternd auf der Couch, als sie an jenem Samstag vom Einkaufen zurückkam. Ich erzählte ihr alles, in schlechterem Spanisch als ich seit Jahren gesprochen hatte.

Der Weg von Aennes Tor zur leicht geöffneten Haustür erscheint mir länger zu sein als früher. Der einst so gepflegte Garten ist verwildert. Zwischen den Pflastersteinen wächst Unkraut, es ist so still. Es gibt immer noch keine Vögel in diesem ummauerten Paradies.

Vor zehn Jahren hat sie eine Katze getötet, weil ich mich mit ihr angefreundet habe. Vielleicht tötet sie auch die Vögel? Oder kommen Tiere nicht zu ihr, weil sie merken, wie böse sie ist?

Giulia hielt mich fest und hörte mir zu. Dann rief sie einen von ihren Brüdern an, Joje. Er war ohnehin mal wieder arbeitslos und ein Mann im Haus wäre jetzt gut, meinte Giulia. Joje war nur zwei oder drei Jahre zur Schule gegangen, aber er war stark. Und er hatte cojones.

Joje holte Tomá von seinem Freund ab und nachdem ich den Kleinen ins Bett gebracht hatte, hielten wir drei im Wohnzimmer Kriegsrat ab.

Joje würde vorerst bei uns bleiben und uns auf jedem Weg begleiten. Ich solle aber niemandem etwas sagen, die Polizei würde mir nicht helfen, die seien eh korrupt. Dass Joje bei seiner Vorgeschichte nicht gerade gut auf die Polizei zu sprechen war, wunderte mich nicht. Aber ich kannte nur die deutsche Polizei und auch die hatte mir vor zehn Jahren nicht geholfen. Ich vertraute Joje.

Außerdem hatte Aenne – oder wer auch immer dahintersteckte, Joje ermahnte mich, offen zu bleiben – uns all die Zeit über beobachtet und nichts getan. Warum sollte sie gerade jetzt weiter gehen?

Warum hat sie uns gerade jetzt das Handy geschickt? Aber die Frage stellte ich mir vor zwei Wochen nicht.

Und tatsächlich passierte erstmal nicht viel. Ich bekam in regelmäßigen Abständen Bilder auf das Handy, auf denen jetzt auch Joje zu sehen war. Vielleicht schreckte das ab. Einmal fragte Tomá abends nach seinem Vater. Eine fremde Frau hätte ihn auf Deutsch angesprochen und gefragt, ob Joje sein papá wäre. Er hatte nicht mit der Frau gesprochen, Joje hatte sie abwimmeln müssen.

Ich redete mir ein, das würde nichts bedeuten. Aenne wusste doch, wer Tomás Vater war. Es durfte doch nichts bedeuten. Ich hatte doch nicht umsonst alles aufgeben, was mich einmal ausgemacht hatte.

Vor drei Tagen – an einem Mittwoch – gab es ein großes Fest in Tomás Schule. Giulia hielt es für keine gute Idee, aber Tomá hatte sich so darauf gefreut und er verdiente ein bisschen Normalität, also gingen wir hin. Tomá fing erst damit an, irgendwo hingehen zu wollen, meist blieb er an meiner Seite. Und er sollte doch eine normale Kindheit haben. Es war doch die ganze Zeit über nicht wirklich etwas passiert. Auf dem sonnenbeschienenen Innenhof der Schule waren zahlreiche Stände aufgebaut, an denen Eltern, Lehrer und Schüler zusammen Lebensmittel und Bastelwaren verkauften, um ein Stipendium für einen Schüler zu finanzieren, dessen Vater kürzlich verstorben war. Es war voll, alle waren fröhlich, ein buntes Treiben, ich ließ Tomá keinen Moment aus den Augen.

Dahinten, an dem Stand mit den Quesadillas, stand da nicht Aenne? Sie sah mir ähnlicher denn je. Ich blieb stehen und griff nach Tomás Hand, aber da war sie schon weg. Vielleicht war es auch nur ein flüchtiges Spiegelbild von mir selbst gewesen, das ich in irgendeiner Fensterscheibe gesehen hatte?

Tomá spürte meinen Schreck und war den Tränen nah. Ich durfte ihn doch nicht so paranoid werden lassen, wie ich es scheinbar war. Aenne war nicht hier, Schluss, aus. Tomá beruhigte sich wieder, trotzdem ließ ich ihn den Rest des Nachmittags nicht mehr los, und wir gingen früh nach Hause. Als ich Tomá am nächsten Tag von der Schule abholen wollte, fand ich nur seinen Schulranzen auf den Stufen des Fußwegs.

Es zog in meinem Bauch, aber ich redete mir ein, er hätte etwas vergessen und wäre noch einmal hineingegangen. Ich traute es meinem Sohn zu, seinen Ranzen einfach auf der Straße stehen zu lassen. Er war zwischenzeitlich ganz schön gedankenlos. Aber er sollte doch gar nicht allein das Schulgelände verlassen, er kannte doch meine Angst. Er hatte meine Angst doch längst übernommen und ging nie allein irgendwo hin.

Im Klassenraum fand ich nur seine Lehrerin. Ob Tomá etwas vergessen habe, ich hätte ihn doch schließlich schon mittags von meiner Schwester abholen lassen, wegen eines familiären Notfalls. Sie dachte, mir wäre etwas zugestoßen.

Ich habe keine Schwester.

Ich muss schneeweiß geworden sein. Señora Cortez rief sofort die Schulkrankenschwester und die Polizei.

Aber Joje hatte nicht ganz Unrecht gehabt mit seiner Einschätzung der bolivianischen Ordnungshüter. Weil wir schließlich Deutsche seien, sollte ich mich vielleicht besser an die Botschaft wenden. Mit denen könne ich wenigstens in meiner Sprache sprechen.

Die Botschaft war keine große Hilfe.

„Wie lange ist ihr Sohn denn schon verschwunden?“

„Etwa drei Stunden. Er wurde aus der Schule abgeholt von -“

„Sie sind deutsche Staatsbürger? Wie lange leben sie schon hier?“

„Anderthalb Jahre. Und ja, wir haben keinen bolivianischen Pass. Aber ich weiß, wer -“

„Wurden schon Forderungen gestellt?“

Ich wurde eine gefühlte Ewigkeit befragt, ohne dass der Botschaftsmitarbeiter mich überhaupt zu Wort kommen ließ. Dabei wusste ich doch, wer meinen Sohn entführt hatte!

„Wie Sie vermutlich wissen, gibt es einige Kritik am Präsidenten. Manche Gruppierungen schrecken auch vor der Entführung ausländischer Minderjähriger nicht zurück, um ihre Forderungen durchzusetzen. Wir müssen abwarten, bis sich jemand zu der Tat bekennt.“

„So ist das nicht!“ Ich war aufgesprungen und endlich sah der Mann mich wirklich an. „Aenne hat ihn entführt! Ich weiß seit kurzem, dass sie uns schon lange beobachtet!“

„Wer ist Aenne? Und warum sind Sie dann nicht schon vorher gekommen? Konkretere Hinweise haben Sie aber nicht? Wenn sie Sie schon lange beobachtet, warum dann jetzt die Vorgehensweise ändern? Was ist das Motiv?“

„Woher soll ich das wissen? Aber es ist -“

„Okay, wir behalten das im Hinterkopf. Wir werden die Flughäfen überwachen. Aber unterdessen warten wir ab, ob uns eine Forderung erreicht. Ich glaube nach wie vor, dass es einen politischen Hintergrund gibt, deshalb sind diese Länder ja so gefährlich für Ausländer. Sicher ist doch bekannt, dass Sie Deutsche sind.“

Ich verlor die Geduld. Mittlerweile hatte Aenne doch sicher längst das Land verlassen. Vielleicht sogar den Kontinent. Ich stürmte aus dem Raum, ließ mir aber noch in der Botschaft die schnellste Verbindung nach Deutschland raussuchen.

Das ist jetzt achtundvierzig Stunden her. Direktflüge gibt es nicht, dann noch die Fahrt mit der Bahn.

Aber sie wird ihm nichts getan haben. Sie will ihn doch für sich. Obwohl – sie hat ihn schon einmal fast getötet. Sie hatte mich nicht ernst genommen, als ich über Schmerzen und Blutungen klagte, sie dachte, ich wolle fliehen. Dabei war ich doch freiwillig bei ihr eingezogen.

Ich war auch beim ersten Mal freiwillig durch diese Tür gegangen. Bevor ich wusste, wozu meine Schwägerin fähig ist. Jetzt gibt die Haustür nach, als ich leicht dagegen drücke. Ich werde erwartet.

„Mamá?“ Ein zaghaftes Stimmchen kommt aus der Küche. Vorsichtig gehe ich über die dunklen Dielen des Eingangsbereichs.

„Na, was habe ich dir gesagt? Deine Mama kommt angeflogen, wenn ich pfeife. Sie hat immer gemacht, was ich ihr gesagt habe. Aber du brauchst sie nicht mehr, Tante Aenne ist jetzt für dich da. Deine Mutter ist nur hier, damit du dich von ihr verabschieden kannst.“ Aenne lehnt lässig an ihrer Kücheninsel und grinst mich kalt an, die Küche ist steril und sauber wie eh und je. „Hast du etwa gedacht, du könntest mich so einfach loswerden?“

Der Blick auf meinen verängstigten Sohn, der hinter Aenne auf einem Stuhl sitzt, lässt mich in der Küchentür einfrieren. Immerhin ist er nicht gefesselt. Trotzdem springt er nicht auf, um auf mich zuzulaufen, er blickt mich nur verwirrt an. Was hat Aenne nur mit ihm gemacht? Was hat sie ihm gesagt? Er wirkt so gelähmt in dieser Küche, in der ich mal entspannt gefrühstückt habe, mal paranoid zusammengebrochen bin, als ich dachte, mein verstorbener Mann würde mich verfolgen. Und alles war nur so gekommen, weil Aenne es wollte. Alles hatte sie geplant, von meinem damaligen Zusammenbruch bis zu unserem Wiedersehen heute.

„Was willst du, Aenne? Er ist dein Neffe! Toms’ Sohn! Wie kannst du ihm das antun?“

„Hast du gewusst, dass Tom und ich zehn Jahre alt waren, als unsere Eltern gestorben sind? Nein, hast du bestimmt nicht. Du hast ihn ja nie wirklich kennen gelernt. Wir haben unsere Eltern nicht mehr gebraucht. Und genauso wenig braucht Tomá dich noch. Er wird jetzt bei mir leben.“

Tomá beginnt leise zu weinen, ich schüttele nur ungläubig den Kopf. Wie kommt sie auf die Idee, ich würde das zulassen?

Ich würde am liebsten zu meinem Sohn laufen, aber hinter Aenne auf der Arbeitsfläche aus blankem Stahl liegt ein großes Küchenmesser. Griffbereit. Aenne ist immer vorbereitet.

Ich atme tief durch, um ruhig zu bleiben. Ich kann Tomás Angst riechen, Aennes Wahnsinn. Und ihr Zitronenreinigungsmittel. Immer schön ökologisch.

„Er will auch gar nicht mehr bei dir leben, nicht wahr? Du hast seinen Vater getötet! Warum sollte er noch bei dir leben wollen?“

„Es war ein Unfall, Aenne!“

Aenne lacht manisch. „Ein Unfall, klar. Ein Unfall, in den du ihn getrieben hast, weil du sein Kind nicht haben wolltest. Und jetzt musst du dich auch nicht mehr um ihn kümmern.“

Aenne hat vollständig den Verstand verloren, sie verdreht alles. Warum hätte ich vor ihr davonlaufen sollen, wenn ich Tomá nicht gewollt hätte?

„Wir haben uns vor dem Unfall gestritten, weil Tom noch keine Kinder wollte. Ich habe nicht einmal von meiner Schwangerschaft gewusst, bevor du mich hier eingesperrt hast.“ Aenne zieht spöttisch die Augenbrauen hoch, reagiert aber sonst kaum. Meine Stimme ist zu zittrig. Wie soll ich sie überzeugen, wenn ich mich nicht einmal selbst überzeugen kann? „Du hast schon einmal versucht, mir meinen Sohn zu nehmen, du hast ihn fast getötet bei diesem Versuch. Wie kommst du auf die Idee, du könntest dieses Mal Erfolg haben?“

Aenne wendet sich Tomá zu. Ihr freundliches Lächeln jagt mir einen Schauder über den Rücken. „Lassen wir doch den Jungen entscheiden. Du willst doch sicher nicht mehr mit dieser Lügnerin um die Welt gondeln, die dir noch nie von deinem Vater erzählt hat? Ich habe ein großes Haus, ich kann dir alles bieten. Bei deiner Mutter wirst du früher oder später sterben, genauso wie mein Bruder. Willst du nicht lieber bei mir bleiben?“

„Nein!“, schreit Tomá und läuft jetzt doch auf mich zu. Er weint und zittert am ganzen Körper.

„Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr“, flüstere ich in seine Haare. Von weitem höre ich Martinshörner. Auch ich bin dieses Mal vorbereitet.

„Ich bin nicht schuld an Toms Tod. Und natürlich wollte ich Tomá, immer schon.“ Meine Stimme ist fest und sicher. Ich habe mein Kind. Ich habe keine Angst mehr.

 

13 thoughts on “Kein Schritt zurück

  1. Hey,nur ein kleines Feedback am Rande.
    Zu beginn sagst du das dass Kind wütend sei, wenn die Brotdose nicht sauber wäre. Wieso sollte ein Kind das sein? Insbesondere, wenn sie in Bolivien leben einer eher ärmeren gegend. wieso sollte es ein Kind kümmern? Dann sagst du, dass sie wütend ist weil die Bücher im Ranzen durcheinander sind. Wütend finde ich das falsche Wort, vlt genervt. Weil ich als Leser dann denke:was hat denn das Kind falsch gemacht? Es ist doch klar, dass es unordentlich ist. Auch sagst du zu beginn, dass sie in Bolivien sind und später erwähnst du, dass er in Deutschland ist als das Auto herabrollen kommt? Wieso sollte die Frau die das Handy gefunden hat es nicht gleich anstellen um den Besitzer heraus zu finden? Das wäre doch naheliegender als wenn man es zwei Wochen unbeachtet lässt.
    Hoffe mein Feedback bringt dir was😊

  2. Hi, hier mein Feedback.
    Ich finde die Geschichte grundsätzlich gut, allerdings gefiel mir das Ende nicht wirklich, es war mir am Schluss zu hastig und etwas zu konstruiert. Vielleicht wäre auch eine überraschende Wende noch ganz gut gewesen. Ich glaube, mit etwas Arbeit könnte da aber ein guter Thriller-Roman daraus werden. Die Geschichte hat auf jeden Fall das Potential dazu, finde ich.

    1. Danke für deine Rückmeldung. Ich will die Geschichte prinzipiell schon als Roman ausarbeiten, es ist die Fortsetzung einer Geschichte, die ich bereits halb fertig habe. Vielleicht fällt mir ja noch ein anderes Ende ein. Es war ja nicht viel Zeit, die Ideen reifen zu lassen 😉
      Liebe Grüße!

  3. Ich liebe deinen Schreibstil! Lies sich mega gut lesen und gab kaum Stellen, an denen ich gestolpert bin. Ich finde die Geschichte auch Mega interessant und sie hat Potential, nur das Ende hat mir zu stark nachgelassen. Es war mir alles zu offen und mir hat ein Twist gefehlt. Die Spannung wurde aufgebaut, aber es gab keinen Höhepunkt irgendwie. Hoffe, das hilft dir weiter.

    1. Ich habe einen Schreibstil? 😲😂 Danke für deine Rückmeldung. Für einen Twist fehlte mir irgendwie der Platz, außerdem habe ich tatsächlich oft ein Problem mit überraschenden Twists, die sind mir oft zu unrealistisch. Da muss ich noch drüber nachdenken.
      Liebe Grüße!

  4. Toller Schreibstil … ich mochte die Geschichte in einem Rutsch lesen.
    Am Anfang hast Du einmal vorweg genommen, dass der Junge nicht mehr in D war, seit er ein Säugling war, das stand da irgendwie noch in keinem Zusammenhang, aber schreib bitte unbedingt weiter …
    Alles Liebe ❤

  5. Ich finde es super erfrischend mal eine Geschichte aus einer ganz anderen Ecke der Welt zu lesen. So oft spielen die Geschichten in Deutschland. Das ist mal etwas ganz anderes und somit wirklich erfrischend. Dran bleiben!:)

  6. Hey,
    Interessanter Stoff. Ich habe mich immerbgefragt wie Aenne ausgesprochen wird, beim lesen. 🙂
    Ich würde mir diengeschichte auch nich ein bisschen ausgearbeiteter wünschen. Sie dürfte für mich noch etwas breiter werden.
    Ich hab sie gern gelesen.

    Alles Liebe Dir
    -thefishthatlivedinatree – wer du bist-

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