Anja75Lauf fort bis ich finde

Langsam ließ das Zittern in ihren Händen nach, nur das Herz pochte noch wild in ihrer Brust und sie wurde das Gefühl nicht los, die Menschen um sie herum konnten es schlagen sehen. Konnten ihre Angst sehen. Sie zwang sich, ruhig zu atmen, konzentrierte sich auf jeden einzelnen Atemzug. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. So hatte sie es gelernt, vor so vielen Jahren. Wenn die Panik dich überrollt, dann atme. Tief ein und lange aus.

 

Es funktionierte nicht. In ihren Ohren rauschte es, die Geräusche des Cafés, in das die fremde Stimme am Telefon sie bestellt hatte, gingen darin unter. Ihre Lippen bebten und sie spürte den kalten Wind, der über ihre Wangen und die einzelne Träne wehte, die sich aus ihrem Auge gelöst hatte. Sie hatte nicht gewusst, nicht mal geahnt, wie sehr das alles sie noch immer verletzte. Hatte sie wirklich geglaubt, ihrer Vergangenheit entfliehen zu können? Langsam, fast unmerklich drehte sie ihren Kopf. Die Hoffnung, dass sie sich in einem schlechten Traum befand und gleich schweißgebadet in ihrem Bett aufwachen würde, wurde jäh zerstört. Das Handy lag noch immer auf dem kleinen Tisch neben ihr. Das schwarze Display reflektierte die Lichter der Neonreklame über ihrem Kopf, nichts deutete darauf hin, was sich darunter verbarg. Noch bevor sie weiter darüber nachdachte, griff sie danach und steckte es in ihre Tasche. Nachdem sie das Geld für ihren Kaffee abgezählt neben die leere Tasse gelegt hatte, stand sie auf und ging. Entfernte sich von dem Café, entfernte sich von dem Ort, an dem ihre Vergangenheit sie eingeholt hatte.

 

Die Dämmerung war bereits stark fortgeschritten, die vielen Menschen nur noch als Silhouetten erkennbar. Konturen erkannte man nur, wenn sie an den hell erleuchteten Schaufenstern vorbeigingen. Mae ging wie in Trance, wie ferngesteuert. Das Handy lag schwer wie Blei in ihrer schmalen Handtasche, die sie eng am Körper hielt. Durch das Leder konnte sie die Kanten des kleinen Gerätes spüren. Sie wollte das nicht. Doch ihr blieb keine Wahl, sie musste jetzt handeln. Die dunkle Gestalt, die ihr folgte, hielt einige Meter Abstand und blieb unentdeckt von ihr.

 

Sie bemerkte den Mann nicht, der ihr entgegenkam. Er hatte seinen Kopf gesenkt, wahrscheinlich um sein Gesicht vor dem einsetzenden Nieselregen zu schützen und rannte frontal in die junge Frau hinein. Mae erschrak sich über den plötzlichen Zusammenstoß und stolperte nach hinten. Augenblicklich verlor sie den Halt. Ihre Füße rutschten auf dem glitschigen Kopfsteinpflaster weg und sie konnte sich nicht mehr halten, kippte nach hinten um. Doch bevor sie auf dem nassen Boden aufschlagen konnte, schlossen sich zwei Arme um ihren Körper und fingen sie mitten im Sturz auf. Verwirrt über die unerwartete Rettung drehte Mae sich um und sah direkt hinter sich einen großen Mann in einem dunklen Trenchcoat.

 

Sein Gesicht war verdeckt, die Mütze war tief runtergezogen. Doch es war auch nicht nötig, dass Mae sein Gesicht sah. Sie hätte ihn unter Tausenden erkannt. Wie ein Faustschlag direkt in ihren Magen traf sie die Erkenntnis, wer vor ihr stand. Doch das konnte nicht sein. Er war tot. Maes Kopf schien zu explodieren, Bilder tauchten vor ihren Augen auf. Bilder von ihm. Bilder von seinem Tod.

 

Maes Lippen öffneten sich, sie wusste nicht, ob sie schreien oder seinen Namen aussprechen wollte. Aber sie kam nicht mehr dazu. In diesem Moment sprach der Mann, der in sie reingelaufen war, Mae an und sie drehte sich automatisch in seine Richtung. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?” Große Augen blickten sie an, noch immer erschrocken aufgerissen. Der Mann hielt sich den Arm. Hatte er sich verletzt? Mae sah sich verwirrt um. Der junge Mann rüttelte sie leicht. „Hallo?” Von der Seite hörte Mae, wie eine Frau sagte, sie rufe den Notdienst, vielleicht habe sie was am Kopf abbekommen. „Nein, nein, ich brauche keinen Notdienst.” stammelte Mae und rieb sie unwillkürlich ihren Kopf. Tatsächlich tat ihr die Stirn weh, wahrscheinlich war sie direkt mit der Schulter des Mannes ihr gegenüber kollidiert. Mae drehte sich wieder um. Doch er war weg. Da waren nun andere Menschen, die alle besorgt um sie schienen. Mae reckte ihren Kopf, um ihn doch noch zu entdecken. Aber hinter der ganzen Masse an Menschen war nur die dunkle Fußgängerzone mit ihren Reklamen zu sehen. Kein Mann in dunklem Trenchcoat stand abseits, der das Geschehen beobachtete. Mae rieb sich erneut die schmerzende Stelle am Kopf. Hinter ihr stand noch immer der junge Mann, der sich seinen Arm hielt und sie sichtlich verwirrt über ihr Verhalten, ansah. Irgendwas an ihm kam ihr bekannt vor.

 

„Machen Sie sich keine Sorgen, es geht mir gut.” Mae setzte ihr hoffentlich schönstes Lächeln auf und ging auf ihn zu. „Ich hoffe, Ihr Arm tut nicht zu sehr weh, ich kann einen ganz schönen Dickschädel haben.” Die Gaffer verzogen sich lachend und so löste sich die Situation schnell auf. Mae tat es ihnen gleich und ging mit zügigen Schritten an dem unbekannten Mann vorbei. Sie musste hier weg. Erst das Handy und nun er. Mae stand kurz davor, einen Nervenzusammenbruch zu bekommen und das wollte sie unter keinen Umständen vor diesen Menschen. So schnell ihre kleinen Füße sie trugen und die nasse Straße es zuließen, ging sie weiter, fast lief sie davon. Noch immer fragte sie sich, woher der junge Mann ihr so bekannt vorgekommen war. Aber noch mehr fragte sie sich, wie in aller Welt Tom vor ihr hatte stehen können.

 

Zwei Tage später saß Mae in ihrer Wohnung und verfolgte die Nachrichten. Es war sieben Uhr in der Früh, sie saß auf ihrem kleinen Sofa und umklammerte mit den Händen eine Tasse wohlig warmen Kaffees. Der Duft kribbelte in ihrer Nase und nur widerwillig kratzte Mae das Gefühl weg. Zur Arbeit musste sie heute nicht, vor ihr lagen drei Wochen herrlichen Nichtstuns, ihr Jahresurlaub. Mae lebte allein in einer 2-Zimmer-Wohnung mitten in Berlin. Die Stadt um sie herum pulsierte, auch nachts stand hier nie alles still. Bars und Kneipen hatten immer bis in die frühen Morgenstunden geöffnet und wenn sie schlossen, startete der Berufsalltag. Mae liebte es, das Leben zu spüren und konnte sich nicht vorstellen, jemals in einem verschlafenen Dorf zu wohnen, wo sich Hase und Fuchs Gute Nacht sagten. Wenn sie nicht schlafen konnte, was nur äußerst selten vorkam seit damals, ging sie in eine der vielen Bars und ließ sich von Männern ihre Drinks ausgeben. Mae hatte keinen großen Freundeskreis. Seit sie damals auf so schmerzhafte Weise hatte lernen müssen, dass Freunde nicht gleich Freunde waren, hielt sie Abstand von anderen Menschen. Nur eine Person hatte es geschafft, diese Mauer zu durchbrechen. Julie hatte sich nicht abschrecken lassen von Maes Argwohn und Ablehnung und am Ende war eine tiefe Freundschaft entstanden. Julie war auch die einzige, die von Maes Vergangenheit wusste, die sie durch Höhen und Tiefen in der Zeit danach begleitet hatte. Sie hatten sich zwar erst viele Jahre nach Maes Martyrium kennengelernt, aber auch zu dieser Zeit hatte Mae noch Rückschläge erlitten, hatte Albträume gehabt und war in schlimme depressive Phasen gerutscht.

 

Das alles war schon gut ein Jahrzehnt her und seitdem ging es Mae gut. Heute stand sie in ihrer Wohnung im achten Stock eines Hochhauses mitten in der City und genoss den Anblick der erwachenden Stadt. Mae streckte sich und lächelte ihr Spiegelbild an. Ihre Haare waren noch ungekämmt und sie trug noch immer ihre kurze Schlafhose und ein knappes Shirt. In der Hand die Tasse mit dem mittlerweile ausgekühlten Kaffee. Sie öffnete ihre Balkontür und wich zurück, die morgendliche Kälte traf sie mit voller Wucht an ihren nackten Armen und Beinen. Aber Mae ließ sich nicht davon abschrecken. Mit ihren nackten Füßen betrat sie ihren Balkon und sog die frische Morgenluft in sich hinein.

 

 

Auf der anderen Seite der Stadt

 

Tom ärgerte sich. Seit zwei Tagen wagte er nicht, seine 1-Zimmer-Wohnung zu verlassen, die in einem so schäbigen Teil der Stadt lag, dass die Bezeichnung Wohnung noch viel zu hochwertig war. Die vier Wände mit Blick in einen grauen Hinterhof, in dem andere Bewohner des Hauses ihre mehr oder weniger saubere Wäsche zum Trocknen aufhängten, trugen auch nicht grade maßgeblich zur Besserung seiner Laune bei. Warum hatte er sich so in Gefahr begeben, als er ihr unbedingt hatte folgen müssen? Er hatte zu diesem Zeitpunkt doch schon gewusst, wo sie wohnte und hatte sie eigentlich nicht verfolgen müssen. Doch er war neugierig geworden, als er sie in dem Café hatte sitzen sehen. Dass sie da war, hatte er natürlich gewusst. Ihr Handy trackte er schon seit Wochen und wusste immer, wo sie sich befand oder was sie grade machte. Ihre Reaktion aber hatte ihn erstaunt. Was sie in der Hand gehalten hatte, hatte er erst nicht erkennen können. Also hatte er sich getraut und war in das Café gegangen, an ihr vorbei. Sein Magen hatte sich fast umgedreht, so nervös war er gewesen. Doch sie hatte nur gebannt auf das Handy in ihrer Hand gesehen, das Entsetzen hatte ihr ins Gesicht geschrieben gestanden. Was hatte sie gesehen?

 

Doch das hatte Tom nicht dazu veranlasst, sich die letzten zwei Tage nicht aus einem Loch heraus zu bewegen. Er war ihr gefolgt, ihr Gesichtsausdruck und ihre Bewegungen hatten ihn in Alarmbereitschaft versetzt. Irgendwas hatte sie erschreckt. Er hatte den Zusammenprall mit dem anderen Mann vorausgeahnt und war schnell hinter sie getreten. Warum hatte er sie nicht einfach fallen lassen? Weil er das noch nie gekonnt hatte, schalt er sich selber. Laura einfach fallen lassen. Wenn das mal so einfach wäre.

 

Wütend stapfte er durch sein kleines Wohn- und Schlafzimmer. Um seinen Radius noch etwas zu vergrößern, nahm er seit kurzem den Flur und die kleine Küche dazu. Wenn er so weitermachte, würde er wahrscheinlich bald tiefe Rillen in seinen Boden gelaufen haben. Sie hatte ihn erkannt. Wie dumm war er nur gewesen, sie aufzufangen. Er konnte sich noch so gut verstellen und verkleiden, sie würde ihn immer erkennen. Was ihm aber viel mehr Angst als ihr Erkennen gemacht hatte, war der Mann gewesen, der Laura scheinbar so zufällig angerempelt hatte. Dass Laura ihn nicht erkannt hatte, wunderte Tom. So stark hatte er sich doch gar nicht verändert.

 

Tom setzte sich auf sein schäbiges Sofa, tief sank er in die grauen Polster ein. Seine langen Beine ragten weit unter den kleinen Tisch, der genau vor ihm stand. Sich auf diesem kleinen Sofa gemütlich hinzulegen war für ihn unmöglich. Wenn er sich quer hinlegte, lagen seine Knie auf der Seitenkante, was nach wenigen Minuten sehr schmerzhaft für ihn war. Aber Tom wollte nicht für viel Geld ein größeres Möbelstück kaufen, dazu sollte die Dauer seines Aufenthaltes hier nicht lang genug sein. Schnell raus aus dieser schäbigen Bude, das war sein Ziel. Doch er saß hier schon seit zwei Monaten fest.

 

Laura hatte ihre Wohnung, wenn er den Anzeigen in seinem Handy trauen konnte, in den letzten zwei Tagen nicht verlassen. Was hatte sie mit dem Handy gemacht und was hatte sie darauf gesehen? Tom seufzte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu ihr zu fahren und es herauszufinden. Aber erst mal würde er eine Runde schlafen. Tagsüber konnte und wollte er sich nicht auf den Straßen blicken lassen.

 

 

In Maes Wohnung

 

Mae tanzte durch ihre Wohnung, die Musik hatte sie laut aufgedreht. Ihre Nachbarn waren nicht in ihren Wohnungen, sie brauchte keine wütenden Klopfer an den Wänden oder vor der Tür befürchten. Die Sonne schien durch die großen Fenster in ihr Wohnzimmer, das Licht flimmerte über ihre Möbel und tauchte alles in ein helles, gleißendes Licht. Maes Lebensgeister waren geweckt und sie hatte sich vorgenommen, heute besonders viel sauber zu machen. Das helle Licht offenbarte so einige Staubspuren auf ihren Möbeln.

 

„Rythm is a Dancer, it´s a soul companion, you can feel it everywhere…”

 

 

Maes Stimme konnte man wohl bestenfalls als quietschig bezeichnen, aber das war ihr in diesem Moment egal. Sie sang aus voller Kehle mit und bewegte das Staubtuch dabei über die Oberflächen ihrer Möbel. Sie nahm die Bilder hoch, wischte und stellte wieder alles an seinen Platz. Sie war fast durch mit allem und genoss das Gefühl, endlich mal wieder alles sauber zu haben.

 

Am späten Nachmittag, es wurde bereits wieder dunkler vor ihrem Fenster, holte sich Mae einen ihrer großen Pizzateller aus dem Schrank und ging damit in die Küche. Dort öffnete sie den Gefrierschrank und packte ihre Lieblingspizza auf den Küchenschrank. Als sie den Backofen auf die nötigen 180 Grad einstellen wollte, fiel ihr ein, dass sie vorab noch die überflüssigen Bleche rausholen musste. Sie öffnete die Backofentür und wich augenblicklich zurück. Sie knallte mit ihrer Hüfte gegen den Schrank hinter sich, der explosive Schmerz ließ sie aufschreien und trieb ihr Tränen in die Augen. Ihre Hand tastete nach der schmerzenden Stelle, doch ihr Blick blieb auf dem liegen, was sich hinter der Backofentür verborgen hatte.

 

Mae hatte nicht mehr daran gedacht. Doch da lag es, in ihrem Backofen, auf den Blechen. Schwarz, klein und völlig harmlos sah es aus und brachte dabei so viel Furcht mit sich.

 

 

Auf dem Weg

 

Tom bewegte sich flink auf leisen Sohlen durch die Seitenstraßen. Er wollte immer noch nicht entdeckt werden, auch nicht durch Zufall. Den Kopf gesenkt und die Mütze tief in sein Gesicht gezogen schlängelte er sich an den Häusern entlang. Vor ihm ging die Tür zu einer Sushi-Bar auf und vier Jugendliche kamen fröhlich heraus gestolpert. Fast wäre er in eine der jungen Frauen hineingerannt, doch er konnte noch rechtzeitig stoppen.

 

„Hey, pass doch auf Du Lutscher!” machte ihr ebenfalls junger Begleiter Tom an und schubste ihn an der Schulter. Tom riss sich zusammen, ihn nicht auf der Stelle windelweich zu prügeln. Er murmelte nur ein „Tschuldigung.” und eilte weiter. Es waren noch gute drei Kilometer bis zu Lauras Wohnung. Die Bewegung an der frischen Luft beruhigte Tom.

 

Er dachte zurück und an das, was ihn mit Laura verband. Er hatte sie geliebt, liebte sie noch heute. Obwohl sie ihn erschossen hatte. Zumindest lebte sie seitdem in diesem Glauben. Er konnte sich noch gut daran erinnern, als Werner zu ihm gekommen war. Die Erpressung war simpel gewesen. Sein Leben für das von Laura. Er musste gehen, dann würde Werner sie verschonen. Für Tom stand außer Frage, dass er alles getan hätte, um die Liebe seines Lebens zu retten. Doch Werner hatte nicht mit Toms Willen zu überleben gerechnet. Lauras Schuss hatte sein Herz verfehlt, doch das viele Blut und das er bewusstlos dagelegen hatte, waren überzeugend genug gewesen. Tom wusste, dass Laura von Werner genauso hintergangen worden war. Das Laura zwischen ihm und ihrem Sohn hatte wählen müssen. Er hatte überlebt, doch seine Identität war ihm genommen worden. Wie Werner dem herbei geholten Arzt damals erklärt hatte, dass er Opfer einer Schusswunde geworden war, wusste Tom nicht. Sein verzweifelter Wunsch zu leben, hatte es ihm aber ermöglicht, dem jungen Doktor ein Zeichen zu geben. Ihre Blicke hatten sich nur kurz getroffen, doch es lag genug Flehen in seinen Augen, dass der Arzt mitspielte. Er hatte niemals die Möglichkeit gehabt, sich zu bedanken. Doch ihm war bewusst, dass dieser Mann sein Leben gerettet hatte.

 

Die Erinnerung an diese Zeit schmerzte noch immer. Als ob sein Körper diesen seelischen Schmerz spürte, tat ihm jedes Mal, wenn er daran dachte, seine Narbe und seine Rippe weh, die den Schuss abgefangen hatte.

 

Lange hatte er sich versteckt, immer in der Angst, dass Werner ihn finden könnte. Gelebt von der Hand in den Mund hatte er sich in sich selbst und seiner Angst verloren. Eines Tages war er wach geworden und hatte beschlossen, dass dies nicht für den Rest seines Lebens so weitergehen konnte. So hatte er wieder zurück ins Leben gefunden, war in eine andere Stadt gezogen und hatte sich selbst wiedergefunden.

 

Doch als er im letzten Jahr Laura gesehen hatte, hatte es ihn wie ein Schlag in den Magen getroffen. Er hatte sie fast nicht erkannt mit ihren braunen kurzen Haaren. Sie ihn zum Glück auch nicht. Seitdem war er auf der Suche nach ihr gewesen und nun befand er sich auf dem Weg zu ihr.

 

 

In Maes Wohnung

 

Die Pizza lag vergessen in der Küche, der Backofen stand noch immer offen und die Bleche waren auch noch an ihrem Platz. Mae saß in ihrem Wohnzimmer, sie hatte es geschafft, eine Flasche Wein zu öffnen und hielt diese in der Hand. Auf das Glas hatte sie verzichtet. Sie hatte die Flasche bereits zur Hälfte geleert und noch immer starrte sie auf das Objekt vor sich auf dem Tisch. Das schwarze Display des Handys schien sie auszulachen, wusste es doch ganz genau, was Mae sehen würde, wenn sie darauf tippen würde. Vor Maes Fenster war es mittlerweile dunkel geworden und auch in ihrer kleinen Wohnung leuchtete keine einzige Lampe. Nur die Lichter der Stadt unter ihr sorgten für etwas Beleuchtung. Ansonsten saß Mae in völliger Dunkelheit da, klammerte sich an ihre Flasche. Tränen liefen über ihre Wangen. Sie hatte so hart daran gearbeitet, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen. Sie hatte sich ein neues Leben aufgebaut, sich eine neue Identität geschaffen. So sehr hatte sie vor diesen langen Jahren gewollt, ein neues Leben anzufangen, dass sie mittlerweile gar nicht mehr sagen konnte, wer sie wirklich war. Ihr Leben war nun ein anderes, ein besseres, ein ehrlicheres. Mae lachte auf, wieder schossen ihr Tränen in die Augen. Wütend wischte sie sich mit dem Ärmel ihrer dünnen Jacke die laufende Nase ab. Ehrlicher? Sie log sich und allen anderen in ihrem Leben doch jeden Tag was vor. Sie war nicht Mae. Mae gab es nicht. Sie nahm einen tiefen Schluck von dem bitter-süßen Wein, der in ihrem Kopf schon für reichlich Watte sorgte. Ihre Augen wurden schwer, doch die Tränen hörten nicht auf zu laufen. Wenn sie ihre Augen schloss, kamen die Erinnerungen. Erinnerungen, vor denen sie seit mehr als zehn Jahren schon floh.

 

„Scheiße!” Mae schrie das Wort heraus und warf die Flasche durch den halben Raum. Scheppernd kam sie auf dem Laminatboden auf und zersprang dort in tausend Splitter, der restliche Wein ergoss sich auf das empfindliche Holz. Mae war alles egal, sie saß weiter schluchzend auf ihrem Sofa und kniff ihre Augen zu. Ihr ganzer Körper bebte, wurde von den Weinkrämpfen geschüttelt. Vor ihren Augen sah sie ihn. Tot, sie hatte ihn sterben sehen.

 

Als Mae vor zwei Tagen am Abend nach Hause gekommen war, hatte sie das Handy, welches ihr der Unbekannte in das Café gebracht hatte, nur noch loswerden wollen. Sie wusste aber nicht, wie und vor allem war ihr klar gewesen, dass er sie einmal gefunden hatte und das jederzeit wieder konnte. In ihrer Panik hatte sie das Handy in den Backofen gelegt und sich gleich danach mit einer Flasche Wein, einem Glas und ihrem Tablet ins Bett gelegt. Ihr Kopf hatte fürchterlich wehgetan. Sie hatte eine nichtssagende Serie angestellt und sich betrunken. Als sie am nächsten Morgen verkatert aufgewacht war, hatte sie das Ganze nur noch als bösen Albtraum abgetan. In den Backofen hatte sie nicht gesehen.

 

Doch jetzt lag das Handy auf dem Wohnzimmertisch und Mae überkam das Gefühl, es grinst sie an. Wie konnte das alles möglich sein? Tom war vor ihren Augen gestorben, durch die Kugel, die sie selber abgeschossen hatte. Werner hatte ihr keine Wahl gelassen. Denn sonst wäre ihr Kind gestorben, nicht ihr Geliebter. Sie hätte alles getan um das Leben ihres Kindes zu retten. Doch selbst ihr eigener Tod hätte nicht verhindert, dass der Anführer der Sekte, in die sie damals geraten war, ihr Kind getötet hätte. Tom hatte die Sekte und das ganze obskure Leben hinter sich lassen wollen. Er hatte sie damals überredet, mit ihm zu fliehen und mit ihnen zusammen auch ihr Sohn. Neun Jahre war Joshua alt gewesen und sie hatte ihn so sehr geliebt. Sie liebte ihn noch heute. Mae rieb ihre Augen fest, als ob sie hoffte, diesen Albtraum damit los zu werden.

 

Sie wusste, in ihrem Schlafzimmer befand sich alles, was sie dazu benötigte. Doch wollte sie das?

 

 

Vor ihrem Haus

 

Die dunkel gekleidete Person bewegte sich rasch über die breite Straße. Er nahm sich nicht die Zeit, extra zum erlaubten Übergang zu laufen. Er wollte nur schnell in das Haus vor ihm. Die Straßen waren noch voll, der Feierabendverkehr hatte nachgelassen, doch die Leute wollten nicht zu Hause sitzen, verabredeten sich in Bars und Kneipen. Sein Vorteil, denn so fiel er nicht auf. Sein Ziel war direkt vor ihm, hell erleuchtet von den Wohnungen, die sich darin befanden. Er hatte schon oft davor gestanden und sich jedes Mal vorgestellt, wie es wäre, endlich rein zu gehen. In ihre Wohnung. Sie wieder zu sehen. Doch er hatte auf den richtigen Zeitpunkt gewartet und dieser schien jetzt gekommen zu sein.

 

Vor der Tür stand eine junge Frau, er bewegte sich zielstrebig auf sie zu. Mit der einen Hand nestelte sie in ihrer Handtasche, an der anderen Hand hielt sie ein ungefähr vierjähriges Kleinkind, was unaufhörlich quengelte. Er zwang sich, nicht angewidert zu gucken. Wie er quengelnde Kinder hasste.

 

„Soll ich Ihnen helfen?” Er setzte stattdessen sein charmantestes Lächeln auf und sah der jungen Mutter mit offenen Augen direkt ins Gesicht.

 

„Oh, das wäre sehr nett. Können Sie kurz auf meine Tochter aufpassen? Ich finde die Schlüssel-Card nicht in meiner Tasche.” Sichtlich erleichtert über die unerwartete Hilfe strahlte sie ihn an. Sie hatte schöne Augen, so tiefblau. „Oder haben Sie Ihre grade griffbereit?”

 

Ein Zucken umspielte seinen Mund. Er griff nach der Hand des mittlerweile stillen Mädchens und biss die Zähne aufeinander. Dann riss er sich zusammen und antwortete der in seinen Augen viel zu aufmerksamen Bewohnerin des Hauses „Ach, ich war so froh, dass Sie auch ins Haus wollen. Ich habe meine bei meiner Freundin liegen lassen.” Nahm sie ihm die Lüge ab?

 

„Oh, das ist mir auch schon passiert.” Zu seiner Erleichterung lachte sie auf und suchte weiter in ihrer Tasche. „Da ist sie ja!” Triumphierend hob sie die Hand und hielt die ersehnte Karte hoch. Dann schnatterte sie unentwegt weiter. „Eigentlich darf ich Sie ja gar nicht ins Haus lassen.” Wieder dieses Lachen, was ihn inzwischen nur noch nervte. „In welcher Etage wohnen Sie denn? Ich habe Sie noch gar nicht hier gesehen.” Sie drehte sich um und lächelte ihn an, doch nicht mehr ganz so offen. Sie misstraute ihm, das spürte er. „Ich bin neu eingezogen, 8. Etage. Neben Mae.” Er war stolz auf sich, dass ihm diese List einfiel. Wenn diese übermäßig aufmerksame Bewohnerin Mae kannte, hatte er grade seine Haut gerettet. Oder sich erst recht in Schwierigkeiten gebracht. Aufmerksam beobachtete er die Reaktion der Unbekannten. „Ach, neben Mae? Sie hat mir gar nicht erzählt, dass die Wohnung neben ihr frei ist. Wie lange wohnen Sie schon dort?” sagte diese in diesem Moment und griff nach der Hand ihrer kleinen Tochter. Innerlich atmete er erleichtert auf. Es hatte geklappt. Nur Minuten später stand er bereits in der achten Etage vor Maes Wohnung. Es war still, kein Laut drang heraus. Aber sie war da, das wusste er genau.

 

 

In Maes Wohnung

 

Maes Kopf schwirrte, sie hatte die zweite Flasche Wein aufgemacht und saß betrunken auf ihrem Sofa. Das Licht hatte sie noch immer nicht angemacht. In der Dunkelheit würde niemand sehen können, was sie sich grade ansah. Niemand würde den Schrecken sehen und vielleicht bliebe er dann in diesen vier Wänden.

 

Nachdem sie die zweite Flasche Wein geöffnet hatte, hatte sie das Handy in die Hand genommen und sich ihrer Vergangenheit gestellt. Sie hatte die Galerie mit den Bildern geöffnet. Dort gab es nur Bilder, auf denen sie zu sehen war. Um viele Jahre jünger und einige Erfahrungen weniger. Da waren Bilder, auf den sie lachte, auf denen sie nachdenklich in die Ferne blickte und bei der Hausarbeit. In einem Haus, was sie hoffte, längst vergessen zu haben. Eines der schönsten Bilder zeigte sie bei ihrer Heirat mit Tom. Sie war eine hübsche Braut gewesen. Blonde lange Haare, offen mit eingeflochtenen Blüten und Perlen. Tom sah sie verliebt an. Sein Anblick auf den Bildern versetzte ihr einen Stich, so tief, dass ihr fast übel wurde. Das war ein anderes Leben gewesen. Ein Leben, in dem sie sich verloren hatte.

 

Mae erinnerte sich an ihre Jugend und wie sie in diese Verbindung geraten war. Ein willensstarkes pubertierendes Mädchen von 15 war sie gewesen, als sie Werner kennengelernt hatte. Ein Mann, den sie sich so sehr als Vater gewünscht hatte, dass sie ihrer eigenen Familie den Rücken kehrte. Er hatte sie in einer Situation in ihrem Leben kennengelernt, in dem sie Halt gebraucht hatte. Ein Halt, den sie dringend nötig gehabt hätte, doch leider nicht von ihrer Familie bekommen hatte. Sie hatte ausbrechen wollen und genau das hatte sie auch getan. Sie war mitten in der Nacht über das Fenster ihres Zimmers einfach weggelaufen, nur das Nötigste in ihrem kleinen Gepäck dabei. Werner hatte ihr so viel versprochen. Ein Leben ohne Zwänge und ohne Vorwürfe. Vor allem in der Situation, in der sie sich befunden hatte. Schwanger, nicht wissend, von wem. Mae erinnerte sich, als sie es ihrer Mutter gesagt hatte. Flüsternd hatten sie im Bad gestanden als Mae ihr den Test gezeigt hatte. Ihre Mutter war schwach gewesen, hatte augenblicklich angefangen zu weinen. „Wir dürfen es Deinem Vater nicht sagen.” Nur schluchzend waren die Worte gekommen. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt bereits gewusst, dass diese Menschen nicht ihre Eltern waren. Sie schüttelte ihre kurzen braunen Haare.

 

 

 

Mae lachte bitter auf und nahm einen tiefen Schluck von dem süßen Wein. Ohne Zwänge. Sie erinnerte sich an die vielen Regeln, die Werner nach kurzer Zeit aufgestellt hatte. Seine Weltanschauungen waren seltsam gewesen, doch er hatte gewusst, mit Worten umzugehen. Sehr geschickt hatte er ihr und den vielen anderen in seinem großen Haus von seinen Plänen erzählt. Sie hatten ihn nicht verehren oder anbeten müssen. Aber er erzählte ihnen täglich anhand von vielen Beispielen, dass die Welt, wie sie sie kannten, am Ende angelangt wäre. Er machte ihnen Angst. Eine Angst, die sie lange davon abgehalten hatte, aus dieser Verbindung zu fliehen. Verlorene Seelen nannte er sie. Seelen ohne eigene Identität, ohne eigenes Leben. Genauso hatte sie sich damals gefühlt. Wie ein Mensch ohne Identität.

 

Doch dann war Tom erschienen. Eine Lichtgestalt in ihren Augen, er hatte sie sofort fasziniert. Werner hatte es gemerkt und nicht für gut geheißen. Doch er hatte es nicht verhindern können, dass sie sich ineinander verliebten. Also hatte er mitgespielt und das Paar sogar heiraten lassen.

 

Nur um sie in Sicherheit zu wiegen, das war Mae heute klar. Sie kehrte zurück aus ihren Erinnerungen und sah sich die Bilder weiter an. Tom hatte fliehen wollen, hatte zurück in das normale Leben gewollt. Er hatte sie überredet, mit ihm zu gehen und auch ihren kleinen Sohn mitzunehmen. Ohne ihn hatte Mae nirgendwo hingehen wollen. Doch dann war alles anders gekommen.

 

Ein Geräusch hinter ihr an der Tür ließ Mae aufschauen. Hatte sie sich das eingebildet oder war da wirklich jemand? Ihr Kopf drehte sich, der viele Wein hatte seine Wirkung voll entfaltet. Sie hörte nichts mehr, es war bestimmt nichts gewesen. Mae scrollte die Bilder weiter und entdeckte das, was ihr am meisten Angst machte. Die Erinnerung an Toms Tod. Maes Hände zitterten, aber sie zwang sich, die Bilder weiter anzusehen. Ihre Augen wurden größer, sie sog jedes Detail der Bilder in sich ein. Sie hatte nicht gewusst, dass Werner sie fotografiert hatte. Mae schluchzte, ihr Blick verschleierte sich, als sie sich mit Tränen füllten. Sie wimmerte, aber das spürte sie nicht. Auf den Bildern konnte sie Toms Angst sehen, als sie mit der Pistole vor ihm stand. Mae spürte wieder das Gewicht in ihren Händen, spürte das Zittern und wie tonnenschwer der riesige Stein in ihrem Magen sich angefühlt hatte. Sie hörte den Schuss. Es knallte unglaublich laut in ihren Ohren. Mae schrie auf.

 

Helles Licht durchströmte ihr Wohnzimmer bis in die kleinste Ecke hinein. Mae war nicht klar, warum sie vorher schon geschrien hatte. Hatte sie überhaupt vorher schon einen Laut von sich gegeben? In diesem Moment schrie sie auf jeden Fall laut auf. Gegen das gleißende Licht hob sie ihre Hand vor ihre Augen. Ein großer Mann betrat den Raum. Es konnte nur ein Mann sein, seine Gestalt war aus Maes Position riesig. Ihr blieb jedes weitere Geräusch im Hals stecken.

 

„Wie ich sehe, hast Du mein kleines Geschenk erhalten.” Die Stimme, sie kannte die Stimme. Gegen das helle Licht sah sie nur einen dunklen Schatten. Mae rieb sich die letzten Tränen aus den Augen und stand auf. Sie blinzelte, vor ihren Augen wurden die Umrisse klarer, ein junger Mann stand mitten in ihrem Wohnzimmer. Bevor sie ihn ansprach, räusperte sie den Kloß in ihrem Hals weg. „Was meinst Du?” Der Mann vor ihr deutete auf den Tisch, wo das Handy lag. Verwirrt blickte Mae auf. „Das kam von Dir? Kennen wir uns?” Sie sah ihn an und plötzlich fiel es ihr ein. Der Mann war in sie hinein gerannt vor zwei Tagen. Doch da war noch etwas anderes, dieser Mann kam ihr mit jeder Sekunde bekannter vor. Ihre Augen versuchten, etwas in seinem Gesicht zu erkennen. Die kantigen Züge, der verbissene Zug um seinen Mund und die schmalen Lippen. Aber nichts wollte ihr so richtig sagen, wer der Mann in ihrem Wohnzimmer war. Dann blickte sie ihm in die Augen und es traf sie wie ein Schlag. Diese grau-grünen Augen kannte sie, Sie hatte diese Augen viele Jahre jeden Abend intensiv beobachtet und wenn sie müde wurden, hatte sie die Lider geküsst und dann war ihr kleiner Junge eingeschlafen. Mae spürte, wie ihr der Boden unter den Füßen weg glitt und sie einfach umkippte. Dieses Mal hielt sie niemand. Sie fiel einfach nach hinten, ihr Kopf landete auf der weichen Sofalehne. Der letzte Gedanke war, dass ihr Sohn Joshua vor ihr stand.

 

 

Tom

 

Er sah die offene Wohnungstür und lief schneller. Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen. Er hatte sich beeilt, durch die Stadt zu kommen, doch seine blöde Angst, entdeckt zu werden, hatte ihn ja daran gehindert, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Nun schien es, kam er zu spät. Er hatte den Knall, mit dem die Tür scheinbar geöffnet worden war, im Treppenhaus gehört und hatte sich beeilt, voran zu kommen. Die Treppenstufen übersprang er fast, immer zwei bis drei Stufen auf einmal. Nun stand er vor Lauras Wohnungstür und hörte ihren Schrei. Seine Hand schnellte nach vorn, doch er hielt mitten in der Bewegung inne. Aus der Wohnung kamen Stimmen. Er erkannte Lauras zittrige Stimme, doch die andere kannte er nicht. Nun, wenn er es war, dann hatte er ihn ja auch lange nicht gehört. Er gehörte der Organisation schon viele Jahre nicht mehr an und hatte demnach Joshua seit einer gefühlten Ewigkeit nicht gesehen.

 

Vorsichtig schob er die angelehnte Wohnungstür auf und lugte in den dunklen Flur. Nur aus dem angrenzenden Wohnzimmer fiel Licht in den schmalen Raum vor ihm. Langsam schob Tom sich in die Wohnung, darauf bedacht, nichts zu berühren oder umzustoßen.

 

Gegenüber dem Eingang zum Wohnzimmer hing ein Spiegel an der Wand. Leise, wie eine Katze, hüpfte Tom auf die andere Seite um in den Spiegel einsehen zu können. Ihm blieb die Luft weg. Er sah direkt auf Joshua, wie er groß aufgebaut mitten im Raum stand. Der Körper des jungen Mannes verdeckte den seiner Mutter. Toms Versuche, an dem schlanken Mann vorbei zu schauen, schlugen fehl. Er seufzte.

 

Seine Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, er sah den Schirmständer und etwas darin, was wie ein Stock aussah. Er griff vorsichtig danach, um keine Geräusche zu verursachen. Es war nur ein Schirm. Egal, alles konnte als Waffe dienen.

 

 

 

Joshua

 

Er hatte so lange auf diesen Moment gewartet. Sie hatte ihn vor mehr als zehn Jahren einfach zurückgelassen, hatte sich keinen Deut um ihn, um ihren Sohn geschert. Er wollte wissen, warum. Doch vor allem wollte er ihr sagen und zeigen, was sie ihm damit angetan hatte. War ihr wirklich nicht bewusst gewesen, in was für ein Leben sie ihn damit gedrängt hatte? Was Werner mit ihm machen würde?

 

Er sah sich in der Wohnung um. Sie war ganz anders eingerichtet, als er es sich vorgestellt hatte. Werner hatte ein Bild von seiner Mutter gezeichnet, was dem, was er hier sah, nicht im geringsten entsprach.

 

Da waren Fotos an den Wänden, die Mae zeigten. Sein Blick fiel kurz auf seine noch immer ohnmächtige Mutter. Mae. Sie hatte sich einen schönen Namen ausgesucht. Ihr wirklicher Name lautete Laura. Joshua spürte, wie sich in seinem Hals ein Kloß bildete. Nein, er wollte nicht weinen, das hatte er in den vergangenen Jahren zu oft getan. Um seine verlorene Kindheit, um seine Mutter, die ihn augenscheinlich nie geliebt hatte und um all das, was Werner ihm angetan hatte. Er hob seine Hand und seine Finger glitten über die Narbe auf seiner Brust. Auch durch den Stoff seines Pullovers spürte er das Zeichen, was Werner ihm eingebrannt hatte. Joshuas Blick verfinsterte sich wieder. War ihr bewusst gewesen, was er hatte durchleiden müssen? Hatte sie das Mal auch? Sein Blick fiel wieder auf die Bilder an der Wand. Das war nicht die Mutter, die er in Erinnerung hatte. Diese hatte blonde lange Haare gehabt, Sommersprossen hatten ihr Gesicht übersäht und sie hatte immer bunte Kleider getragen. Er schaute auf die Bilder und dann zu der Frau auf dem Sofa. Sie war jetzt deutlich schlanker, ihre Sommersprossen waren nicht mehr so stark und sie trug ihre Haare nur noch bis knapp über die Ohren in dunklem Braun. Sie war wirklich eine ganz andere Person geworden. Joshua widmete sich wieder den Bildern, versuchte seine Mutter darin zu erkennen. Vor seinen Füßen lagen Scherben, die er vorsichtig zur Seite schob. Der Boden unter ihm klebte.

 

 

Mae

 

Mae blinzelte. Ihr Kopf dröhnte vom Alkohol. Das helle Licht biss ihr in die Augen, sie stöhnte auf und kniff ihre Augen schnell wieder zu. Wo war sie und wieso war es so hell? Sie rieb ihre Augen. Dann stützte sie sich auf und setzte sich langsam auf. Mit einem Schlag waren die Erinnerungen wieder da. Sie öffnete ihre Augen und sah auf den Rücken des Mannes. Joshua. Er war es, dass spürte sie. Aber war das wirklich möglich?

 

Noch bevor sie ihn ansprechen konnte, sah sie eine Bewegung im angrenzenden Flur. Angestrengt versuchte Mae zu erkennen, was sie im Spiegel sah. Sie schlug sich die Hand auf den Mund, um nicht laut aufzuschreien. Eindeutig blickten dort Toms Augen im Spiegel direkt auf sie. Er sah viel älter aus als das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte. Vor allem aber sah er deutlich lebendiger aus als vor zehn Jahren. Augenblicklich begann Maes Herz schneller und gefühlt viel lauter zu schlagen. Ihre Augen weiteten sich. Doch noch bevor sie wirklich überlegen konnte, was jetzt zu tun war, drehte sich Joshua zu ihr um.

 

 

Ende

 

Tom sah, wie Joshua sich zu Mae drehte und wusste, ihm blieb keine Zeit mehr. Schnell betrat er das Wohnzimmer.

 

Joshua wich zurück, als er den Schatten erkannte, der in diesem Moment hinter ihm aus der Dunkelheit kam.

 

Mae schrie zum wiederholten Male an diesem Abend auf, aber ihr Schrei ging in dem Gebrüll der Männer unter. Das Zimmer war erfüllt von den tiefen Männerstimmen.

 

„Bleib wo du bist!”

 

„Was willst du hier?”

 

„Du bist tot, was machst Du hier?”

 

„Rühr dich nicht von der Stelle. Was willst Du von Laura?”

 

„Sie heißt nicht mehr Laura!”

 

„Ich hab gesagt, du sollst stehen bleiben!”

 

„Noch mal, wie kommst du hier her und wieso bist Du nicht tot?”

 

Die beiden Männer konzentrierten sich nur noch auf sich und Mae blickte von einem zum anderem. Sie hatte das alles schon mal erlebt. Lautes Geschrei, Streit und angstmachende tiefe Stimmen. In ihrer Kindheit hatte ihr Adoptiv-Vater sie angeschrien. Als sie sich von Werner hatte lösen wollen, hatte er bedrohlich vor ihr aufgeragt und sie vor diese schreckliche Entscheidung gestellt mit seiner tiefen, plötzlich so bösartigen Stimme. Sie wollte das nie wieder erleben, hatte sich ihr neues Leben so eingerichtet, dass niemand sie je bedrohen oder anschreien würde. In diesem Moment kam all das wieder hoch in ihr. Sie fühlte sich zurück versetzt in eine Zeit, von der sie gehofft hatte, auf ewig entkommen zu sein. Mae schüttelte langsam ihren Kopf. Sie hatte gehofft, den Notfallplan niemals in die Tat umsetzen zu müssen, aber nun war es doch soweit. Es gab keine andere Lösung. Um das Leben führen zu können, von dem sie träumte, brauchte sie erneut eine Veränderung, erneut eine neue Identität. Langsam stand sie auf. Die Männer bemerkten es nicht.

 

„Wie hast du sie gefunden?”

 

„Was bildest Du dir ein?”

 

„Warum willst Du sie verteidigen? Sie wollte Dich umbringen!”

 

„Das geht dich nichts an!”

 

Im Nebenraum brauchte Mae nicht lange suchen, sie hatte ihre Notfalltasche immer parat. Schnell kontrollierte sie, ob der Pass noch da war, wo sie ihn hingesteckt hatte, auch das Geld war vorhanden. 10.000,00 EUR sollten für den Anfang reichen. Sie wusste, auf was sie zu achten hatte und was wichtig war, um sich eine neue Identität zu schaffen.

 

Wie Joshua und Tom sie hatten finden können, war ihr nicht klar. Noch verwirrender war, dass Tom noch lebte. Aber das war jetzt nicht wichtig. Nur sie selbst war wichtig. Mae blickte hinab auf ihre Hände, der neue Pass lag ungewöhnlich schwer darin. Sie öffnete das Dokument und sah ihren neuen Namen. Rabea. Ein schöner Name. Wie viele Namen hatte sie schon gehabt im Laufe ihres Lebens? Sie war nicht als Laura geboren worden. Erst war sie ein namenloses Kind gewesen, was ihre Mutter vor dem Krankenhaus abgelegt hatte. Das Personal hatte sie June getauft, da sie im Juni geboren war. Ihre Adoptiveltern hatten ihr den Namen Laura verliehen und sie selbst hatte sich nach ihrer Flucht von Werner Mae genannt.

 

Ab diesem Zeitpunkt war sie Rabea.

 

Nachdem sie ihre Schuhe und ihren Mantel genommen hatte, ging sie aus ihrem Schlafzimmer durch den dunklen Flur raus aus ihrer Wohnung. Im Wohnzimmer stritten die Männer noch immer. Sie waren so in ihrer Wut gefangen, dass sie nicht merkten, dass das Objekt ihres Streites schon längst nicht mehr da war.

 

Julie stand in ihrer Wohnungstür und sah sie an. Sie nickten sich zu, denn so war es abgesprochen. Keine Sentimentalitäten, kein Abschied. Ein neues Leben begann nicht, indem man Freunde aus dem alten Leben mitnahm oder vermisste.

 

Mae, nein, Rabea atmete noch mal tief ein, dann ging sie mit schnellen Schritten zum Treppenhaus. Ein neues Leben wartete auf sie. Wohin ihr Weg sie führen und wie lange sie dieses Mal brauchen würde, um sich ein neues Leben aufzubauen, wusste sie nicht. Nur eines wusste sie genau – sie musste sich selbst erneut neu erfinden.

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