Sandra KLauter Ruhepuls

Einen Milchkaffee bitte.“ Nora sitzt in ihrem Lieblingscafé und klappt den Laptop vor sich auf. Der Fensterplatz auf einer rustikalen Holzbank, zwischen farbenfrohen Kissen, ist für sie heute der ideale Platz zum Arbeiten. Draußen ist es regnerisch und die graue Umgebung spiegelt sich in den Pfützen wider, die sich auf den Pflastersteinen der Fußgängerzone ansammeln. Normalerweise beobachtet sie die vorbeilaufenden Menschen bei ihren Alltagserledigungen, aber heute ist kaum etwas los. Röstfrischer Kaffeeduft erfüllt kleinen Raum des Cafés. Nora lässt ihren Blick nach draußen, über die leere Straße, und die eintönige Stadtmauer gegenüber schweifen. Nora fühlt sich ausgelaugt und verliert sich ihn ihren Gedanken, bis eine gut gelaunte Emma zu ihrem Tisch marschiert und sie grinsend begrüßt: „Hey Morgenmuffel, einen guten Morgen wünsch ich dir.“ Nora grummelt ihr entgegen: „Hallo Emma, wieso bist du schon so gut drauf? Ich bin todmüde und brauche jetzt erst mal eine Tasse Kaffee.“ Sie unterstreicht ihr niedergeschlagenes Dasein mit einem grimmig dreinblickenden Gesichtsausdruck. Emma setzt sich unbeeindruckt, winkt lachend ab und greift in ihre große Tasche, um die fein säuberlich sortierten Arbeitsunterlagen herauszuholen. Die beiden schreiben schon seit einiger Zeit gemeinsam für die Regionalzeitung. Daher ist es Emma gewohnt, dass Nora als Nachtmensch morgens immer etwas länger braucht, bis sie in die Gänge kommt. Aber dieses Mal war es anders. Einfache Müdigkeit fühlt sich doch anders an? Nora nimmt ein pochendes Gefühl in ihrer Brust wahr und atmet viel schneller als gewohnt. Darüber hinaus plagen sie Kopfschmerzen, seitdem sie heute Morgen ihr Bett mühevoll verlassen hat. Sie fokussiert die kleine Rosmarin-Pflanze, die in der Mitte des Tisches als Dekoration steht, um so ihre leichten Schwindelgefühle zu unterdrücken.

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Eine ruckartige Bewegung unterbricht ihr Wett-Starr-Duell mit dem Rosmarin-Pflänzchen. Aus dem Augenwinkel kann Nora erkennen, wie ein Mann vom Nebentisch aufsteht und mit schnellen Schritten aus dem Café verschwindet. Nur das Klingeln der kleinen Glocke, die über die Tür angebracht ist, kann sie gerade noch wahrnehmen. Er hat sich so flink verdrückt, dass sie nicht mal mehr sagen kann, wie er ausgesehen hat. Ihr Blick wandert gedankenverloren von der Türglocke zu dem Platz, an dem er gesessen hatte. Eine leere Kaffeetasse und ein Mobiltelefon liegen verlassen auf dem runden Holztisch. „Oh nein, er hat sein Smartphone vergessen“, bemerkt Nora. Die Frau hinter der Theke ist vertieft in die Zubereitung des Kaffees und hat das vergessene Smartphone noch nicht bemerkt. Also rutscht Nora von der Holzbank, geht zum Nebentisch und greift nach dem vergessenen Handy, um es anschließend vorne an der Ladenzeile abzugeben. Diese kurze Bewegung lässt ihren Kreislauf wieder erwachen. Nachdem sie das Smartphone von oben bis unten gemustert hat, drück sie aus Gewohnheit mit dem Daumen auf den Homebutton, wie sie es von ihrem Gerät gewohnt ist. Verdutzt blickt sie auf das Display, dann zu Emma und gestikuliert wirr und wild mit ihren Händen hin und her. Das kann doch nicht sein?, denkt sie sich. „Was ist denn los?“, fragt Emma von ihrem Sitzplatz aus. Sie beobachtet das Ganze argwöhnisch. Schnell kommt Nora mit dem Smartphone an den Tisch zurück und hält Emma das Display unter die Nase. „Sieh dir das an! Dieser Typ hat ein Bild von mir als Sperrbildschirm-Hintergrund. Ein Bild, auf dem ich schlafe“, fiept Nora. Woher hat dieser Mann so ein Foto?, wundert sie sich. Emma starrt sie erschrocken an, nimmt ihr das Handy aus der Hand, und versucht der Sache als Journalistin erst einmal auf den Grund zu gehen: „Hat der nicht mehr alle Tassen im Schrank? Kennst du den Mann? Ist das wirklich ein Foto von dir? Vielleicht sieht dir die Frau nur ähnlich?“ Ihre Fragen überschlagen sich und Nora beginnt zu zittern. Sie legt das Smartphone vor sich auf den Tisch und versucht erneut sich zu beruhigen. „Das bin ich. Da bin ich mir sicher. Aber wie…?“, stammelt Nora und lässt sich zurück auf die Bank fallen.

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Auf der hölzernen Sitzbank verharrt sie erst einmal einige Minuten bewegungslos. Als die Kellnerin die schaumigen Getränke an den Tisch bringt, ist Nora noch in ihrer Schockstarre gefangen und nicht in der Lage das Smartphone an die Kellnerin zu übergeben. Sie muss erst herausfinden, was es damit auf sich hat. Nora nimmt einen Schluck des zartbitter schmeckenden Milchkaffees: „Ich konnte den Mann nicht sehen. Als er hier saß, habe ich nicht auf ihn geachtet und dann ist er auf einmal aufgesprungen und hat das Café verlassen.“ Das Gerät liegt vor ihr auf dem Tisch. Sie beugt sich nach vorne, berührt nochmals den Homebutton, und sieht sich das Bild im Detail an. „An das Foto kann ich mich nicht erinnern“, sagt Nora, während sie immer noch ununterbrochen darauf starrt. Es sind keine weiteren Anhaltspunkte erkennbar. Sie wendet den Blick ab und taucht den Löffel in ihren Kaffee. Das Foto beunruhigt sie, vor allem nach den ganzen merkwürdigen Begebenheiten der letzten Tage. Werde ich beobachtet?, fragt sie sich. Nervös sieht sie aus dem Fenster und beobachtet ein kleines Kind, das gerade in eine Pfütze springt. Misstrauisch sieht sie sich die durcheinanderlaufenden Menschen an, auf der Suche nach jemand Verdächtigen. Die Sonne bahnt sich langsam einen Weg zwischen den Wolken hervor und so herrscht etwas mehr Bewegung in der Fußgängerzone. „Was ist los?“, fragt Emma besorgt und mustert Nora. Sie senkt ihren Blick in die Tasse und antwortet: „In den letzten Tagen sind mir ein paar komische Sachen passiert. Ich kann sie mir nicht erklären und verspürte seitdem eine ungewöhnliche Unruhe in mir.“ Ihre erste befremdliche Begegnung erlebte sie diese Woche: „Ich war zuhause, in meiner neuen Wohnung, im Erdgeschoss. Plötzlich habe ich draußen einen ohrenbetäubenden Lärm gehört und bin deswegen zu meiner Haustür gegangen. Und was sehe ich da? Ein LKW ist rückwärts direkt auf meine Tür zu gefahren und hat damit begonnen, einen verdammt großen Erdhaufen abzuladen. Einen Erdhaufen so groß wie ein ganzes Haus. Ich bin zum Führerhaus des LKWs gelaufen und habe den Fahrer aufgehalten.“ Emma sitzt ihr mit offenem Mund gegenüber: „Er wollte vor deiner Tür Erde abladen?“ Nora nickt. „Ja, jede Menge. Natürlich habe ich ihn gefragt, wieso er das macht, und er zeigte mir eine Anordnung, die von meiner E-Mail-Adresse aus beauftragt wurde. Darin stand, dass die Erde geradewegs vor meiner Tür abgeladen werden soll. Warum sollte ich denn bitte meine eigene Haustüre zuschaufeln lassen?“, fragte Nora. „Wow, das ist sehr eigenartig“, bestätigt Emma. „Wenn ich das nicht verhindert hätte, dann würde ich mir wohl heute noch einen Weg aus meiner Wohnung graben“, ergänzt Nora und zwingt sich zu einem verzweifelten Lächeln. Nervös spielt sie mit dem Päckchen Zucker, dass neben ihrer Tasse liegt.

In einer Kurzfassung erzählt sie Emma, was ihr passiert ist. Denn das war aber noch nicht alles. Zusätzlich wurde ihr E-Mailkonto mit hasserfüllten Mails geflutet. Angeblich verschickte sie Beleidigungen und Drohungen per E-Mail. Außerdem musste sie unzählige Online-Bestellungen stornieren. Jemand muss sich einen Zugang zu ihrer E-Mail-Adresse verschafft haben. Zu allem Übel wurde sie auch noch grundlos auf allen Social Media Portalen angefeindet, auf denen sie einen Zugang besitzt. „Oh Nora, hast du dich an die Polizei gewandt? Bestimmt wurdest du gehackt,“ stellt Emma fest. Auf einmal vibriert das fremde Smartphone vor ihnen und die beiden blicken sich beunruhigt an. Nora greift danach und legt den Finger etwas länger auf den Homebutton. Es entsperrt sich. Emma fächelt sich Luft zu, aber Nora ignoriert ihr nervöses Verhalten und widmet sich der Pushnachricht, die auf dem Display blinkt:
KEINE POLIZEI!

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Noras Gesicht wird kreidebleich. Auch Emma kann jetzt nicht mehr ruhig sitzen bleiben. „Er oder sie … kann uns hören“, stottert Emma. Sie hat sich mittlerweile von Noras Unruhe anstecken lassen. Im Café ist es still geworden. Im Hintergrund hört man leise, wie Kaffeebohnen gemahlen werden. Nora versucht, ihre Gedanken zu ordnen. Schweigend sitzen sie sich gegenüber. „Ich muss dir noch etwas erzählen.“, unterbricht Nora flüsternd die Stille. Sie leidet sehr unter der Situation der letzten Tage. „Ich kann nicht mehr schlafen, nichts mehr Essen und mein Puls rast nur noch vor sich hin. Mir wird alles zu viel. Vor ein paar Tagen bin ich sogar vorne in der Fußgängerzone zusammengebrochen. Die Hass-Nachrichten, die Erde vor meiner Tür und was sonst noch alles. Ich glaube, ich bin an meinem Tiefpunkt angekommen“, schluchzt Nora und wischt sich ihre Tränen aus dem Gesicht. „Es tut mir so leid. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, bringt Emma gerade noch so hervor. Das Handy vibriert erneut. Nora öffnete die Nachricht und wischt sich mehrmals über ihre Augen, um die Buchstaben auf dem Display klar erkennen zu können:
ICH WEISS!

Na super, jetzt hat er dich wohl auch noch beobachtet. Wahrscheinlich hat es ihm auch noch gefallen, dass du leidest. Ich nehme einfach mal an, es ist ein Mann. Hast du vielleicht jemanden das Herz gebrochen? Dieser kranke Mistkerl!“, regt sich Emma auf. Brrr Brrr. Das Smartphone vibriert erneut und Nora beginnt die Nachricht zu lesen:
DU BIST EINFACH ABGEHAUEN.

Nora? Wie meint er das? Du kennst diesen Mann oder?“, fragt Emma mit lauter Stimme und hält sich vor Anspannung an der Tischkante fest.

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Das Bild!“, wird es Nora schlagartig klar und sieht sich noch einmal den Bildschirmhintergrund an, wegen dem sie das Handy mit an den Tisch gebracht hat. Ein Bild, auf dem sie schläft. Anfänglich ist ihr nicht eingefallen, wann es aufgenommen wurde. Aber jetzt ist ihr alles klar. „Ich wohne erst seit Kurzem in meiner eigenen Wohnung. Die Wohnung, die fast eingegraben und als Maulwurfshügel geendet wäre. Davor habe ich fast zwei Jahre mit meinem Studienkollegen Malte in einer WG gelebt. Das Foto muss der Anfangszeit stammen, als wir gerade eingezogen waren. Wir haben uns zu dieser Zeit immer gegenseitig aufgezogen und Bilder gemacht, wenn jemand von uns auf der Couch eingeschlafen ist“, erinnert sich Nora zurück. Hat Malte etwas damit zu tun? Sie erzählt Emma, dass sie sich sehr gut verstanden haben und sogar einmal miteinander Essen waren. Aber mehr ist daraus nie geworden.

Irgendwann entwickelte Malte komische Gewohnheiten. Er kam und ging zu seltsamen Zeiten und schloss sich viel in seinem Zimmer ein. Die meiste Zeit verbrachte er wohl vor seinem Computer. Anfänglich war das nicht weiter seltsam, da er sich viel mit Programmierung beschäftigte. Er redete kaum noch. Wir hatten nur noch sehr wenig Kontakt zueinander, obwohl wir uns eine Wohnung teilten. Er wurde sehr reserviert“, fährt Nora fort. Emma sitzt regungslos auf ihrem Stuhl und hört Nora zu. „Eines Nachts hab ich ihn beobachtet. Ich stand am Fenster und sah zur Straße. Er hat sich mit einem Mann gestritten, ihn verprügelt und am Boden liegen lassen“, erzählt Nora von der gewaltsamen Tat. Sie ergänzt: „Ich hatte so richtig Bammel vor ihm. Das hatte ich schon eine Weile. Er hat sich so verändert, also hab ich meine Sachen gepackt und bin bei Nacht und Nebel abgehauen und bei einer Freundin untergetaucht, bis ich wieder eine eigene Wohnung hatte.“ Fassungslos starrte Emma auf Nora und ihre zitternden Hände. Sie scheint das Ganze immer noch nicht ganz verarbeitet zu haben. „Wie ging es weiter?“, fragt Emma vorsichtig nach. „In meiner Wohnung fand ich endlich wieder Normalität. Bis auf einmal Lieferungen und Nachrichten bei mir ankamen. „Ich will doch einfach nur wieder Normalität“, schluchzt Nora.

Emma packt sich das Smartphone und wickelt es in ihre Jacke ein und steckt es in ihre Tasche. In der Hoffnung, dass er ihnen nicht mehr zuhören kann. Eine Idee, die ihr viel früher hätte einfallen sollen. „Wir müssen herausfinden, was er von dir will. Das habe ich nämlich immer noch nicht verstanden. Will er sich an dir rächen? Weil du abgehauen bist? Das ist doch kein Grund“, analysiert Emma. Entschlossen der Sache auf den Grund zu gehen, schiebt die Laptops zur Seite. Sie holt einen großen Schreibblock und kleinere Notizzettel aus ihren Unterlagen. „Irgendetwas haben wir übersehen. Hat Malte einen Grund dir nachzustellen? Was will er von dir? Sag mir einfach alle komischen Dinge, die dir in letzter Zeit aufgefallen sind. Egal wie klein und unwichtig sie dir erscheinen. Jede Einzelheit kann wichtig sein“, sagt Emma und nimmt sich einen Stapel Notizzettel und ihren Kugelschreiber und blickt Nora erwartungsvoll an.

Notizzettel eins:
Erde vor Noras Haustüre.
Abkippen gerade noch verhindert.

Notizzettel zwei:
Online-Bestellungen, Hass-Emails und
Hass-Nachrichten in Social Media.

Notizzettel drei:
Noras Lieblingsplaylist wurde verändert.
Neue Lieder wurden hinzugefügt.
Ihre Lieblingslieder neu angeordnet.

Notizzettel vier:
Die mysteriöse Pizza.
Pizza für die Hausnummer drei
konnte nicht zugestellt werden.
Hausnummer 3 ist nicht bewohnt.
Nora bekam diese Pizza geschenkt.

Emma legt die vier Zettel nebeneinander in die Mitte des Tisches. „Was hast du sonst noch so gemacht, in letzter Zeit?“, fragt Emma, „Hast du etwas gekauft? Warst du an ungewöhnlichen Orten?“ Nora überlegt und ihr fällt tatsächlich etwas ein: „Ja, ich habe eine Werbeanzeige angeklickt und mir eine Fitness-Uhr bestellt. Damit war ich seitdem fast täglich im Stadtpark laufen. Woher die Werbeanzeige kam weiß ich aber nicht, denn ich habe eigentlich nicht nach so etwas gesucht.“ Emma greift erneut zum Stift und beschreibt ein weiteres Stück Papier.

Notizzettel fünf:
Nora kaufte sich eine Fitness-Uhr.
Regelmäßiger Aufenthalt im Stadtpark.
Ist eigentlich keine Sportskanone.

Wow, danke für die Feststellung Emma“, antwortet Nora eingeschnappt auf den Zettel. „Diese Fitness-Uhr ist aber total praktisch. Damit habe ich auch festgestellt, dass mein Ruhepuls viel zu hoch ist. Man kann auch noch vieles Weitere damit speichern. Wie man schläft, was man isst und wie viele Schritt man am Tag macht“, erklärt Nora die verschiedenen Funktionen. Sie kann minutengenau nachvollziehen, wie viel Prozent in einer Nacht sie schläft und wie lange sie wach liegt. Ihre Essgewohnheiten zeigen ihr, dass sie meist unter ihrem Kalorienziel isst.

Emma wird kreidebleich. „Emma?“, fragt Nora irritiert. Sie nimmt ein großes Blatt Papier und schreibt etwas in Großbuchstaben darauf und legt ihn über die fünf kleinen Zettel:

Ziel: ÜBERWACHUNG DER DIGITALEN IDENTITÄT
Maßeinheit: Puls

Nora dreht den Zettel zu sich und schaut entsetzt zu Emma: „Also jetzt übertreibst du es aber. Das klingt wie aus einem Sciencefiction Film.“ Sie überlegt kurz und greift sich dann aber doch an ihr Handgelenk und versucht, das Armband, so schnell wie möglich abzunehmen. Dabei reist sie fast das Band durch. Ihr Herzschlag beschleunigt sich noch mehr. „Er versucht dich zu steuern“, vermutet Emma, „und durch das Armband kann er ganz genau sehen, ob seine Maßnahmen Wirkung zeigen.“ Nora lehnt sich zurück und fixiert ihren Blick auf die Armbanduhr. Würde Malte so etwas machen? Emma schnappte sich einen weiteren Zettel:

Noras ehemaliger Mitbewohner Malte.
Hat sein Verhalten geändert.
Hat einen Mann verprügelt
und regungslos liegen lassen.
Überwacht möglicherweise Nora.

Kanntest du den anderen Mann eigentlich, der verprügelt wurde?“, fragt Emma und schiebt Nora den Zettel zu. Sie denkt an das Erlebnis zurück. „Der Mann war kein Freund von uns. Ich glaube, er hatte geschäftlich mit Malte zu tun. Einmal habe ich ihn in unserer Wohnung gesehen und gehört, dass er sich bei Malte beschwert hat, dass 112 nicht erreicht wurde. Er wollte sein Geld zurück“, erinnert sie sich. Emmas Gesichtszüge erstarren zu Stein: „Ob er da von einer Pulsfrequenz sprach? Ob er Aufträge entgegennimmt und für seine Klienten andere Menschen steuert? Ob die 112 für einen Notruf steht?“, fragt sie panisch. Nora wird schwindelig und bekommt ein flaues Gefühl im Magen. Sie versucht, sich an ihrer Kaffeetasse festzuhalten.

Okay, wir wissen also jetzt, dass Malte in der Lage ist sich in Leben einzuhacken und diese zu beeinflussen. Wie ein digitaler Racheengel. Und wir wissen, dass er das bei dir auch gemacht hat. Aus welchem Grund auch immer. Aber das erklärt noch lange nicht dieses Smartphone.“, fasst Emma zusammen und zeigt auf ihre Tasche, in der sie das Gerät vorhin verstaut hat. „Gehört es Malte? Wollte er mir damit etwas sagen? War er hier?“, fragt Nora und sieht zu dem leeren Tisch hinüber.

Ein lauter Schlag durchbricht die Stille. Die Tür des Cafés schlägt mit einer Wucht auf, dass die Türklingel fast heruntergefallen wäre. Nora und Emma schrecken auf und wenden beide zeitgleich ihren Blick zur Tür. Auch die Frau hinter der Theke dreht sich erschrocken zur Eingangstür. Ein Mann steht im Türrahmen und sieht Nora durchdringend an. Es ist Malte.

Er trägt einen kakifarbenen Regenmantel und seine Haare sind zerzaust. „Ich kann dir alles erklären“, sagt er ganz außer Atem. Er tritt in das Café ein und Emma stellt sich schützend vor Nora. „Bleib, wo du bist“, sagt sie mit drohender Stimme. Seine Beine hören schlagartig auf sich zu bewegen und er hebt seine Hände, um Emma zu zeigen, dass er nichts Böses möchte. „Nora, ich habe mich mit den falschen Leuten eingelassen. Ich wollte mit meinen Programmierkenntnissen doch nie jemanden schaden. Aber diese digitalen Identitäten sind so viel näher mit unserem echten Leben verbunden, als wir glauben. Sie wirken wie einfache Zahlen, die man steuert, aber in Wirklichkeit sind es Menschen.“ Er lies seinen Kopf hängen und blickte zu Boden. „Du erinnerst dich bestimmt an den Mann vor unserer Wohnung? Ich konnte ihm nicht geben, was er wollte. Das hätte zu viele Grenzen überschritten. Er wollte sich deshalb bei mir rächen und dich dafür benutzen. Also war er hinter dir her. Auch er ist in der Lage, die digitale Identität gegen einen zu verwenden“, sagt er und atmet kurz durch. „Als er dich bei uns in der Wohnung sah, hat er sich auf dich fixiert. Du warst das einzige Druckmittel, das er gegen mich aufbringen konnte. Es war gut, dass du abgehauen bist. Ich konnte nur dann keinen Kontakt mehr zu dir aufnehmen, das hätte er sofort mitbekommen“, fährt er fort. Heimlich hat Malte trotzdem nach ihr gesucht, als sie die Wohnung verlassen hatte und nicht mehr zurückgekehrt ist. Als er sie weinend in der Stadt sah, war ihm alles klar. Der Mann hat sie gefunden und übt sein Spiel mit ihr aus. „Ich habe dich in der Stadt gesehen und wie schlecht es dir. Du hast eine Fitness-Uhr getragen, welche ich noch nie bei dir gesehen habe. Da erkannte ich eine Art Signatur von ihm,“ sagt Malte traurig. Noras blick fällt auf die Uhr, die immer noch auf dem Tisch liegt. Malte erklärt ihr, wie er die Uhr über Umwege nutzen konnte, um für sie da zu sein. „Du hast nichts mehr gegessen, also habe ich dir indirekt eine Pizza geschickt und dir positive Lieder in deine Playlist hinzugefügt. Ich wollte dich nur beschützen und für dich da sein“, erzählt er. Nora muss das Ganze erst einmal verdauen und Emma steht immer noch mit ausgestreckten Armen schützend vor ihr. „Du musst dir keine Sorgen mehr machen, er wird dir nichts mehr tun. Wir konnten uns doch einigen. Ich habe seinen gewünschten Auftrag doch in einer abgewandelten Weise ausgeführt. Sodass ich es mit mir vereinbaren kann“, beendet Malte seinen langen Erklärungsversuch. Sie ist früher so gut mit Malte befreundet gewesen und hat ihm vertraut wie sonst keinem Menschen. Aber kann sie ihm noch glauben? Schließlich wusste sie nicht genau, was hinter seiner verschlossenen Tür vor sich ging. War er noch der Gleiche? Sie fragt sich, wie lange ihr Puls das wohl noch mitmachen wird. Lügt er sie an?

Was sollte das Smartphone Malte?“, ist ihre erste Frage. War es ein Hinweis, dass sie sich an die gute Zeit zurückerinnert? Oder gehört es diesem Mann? War dieser andere Mann wirklich hinter ihr her? „Du bist immer in diesem Café. Ich wollte einfach nur herausfinden, wie es dir geht und bin deshalb hierhergekommen. Mir kamen dann aber Zweifel und ich bin abgehauen und hab das Smartphone hier vergessen. Das Bild habe ich schon ewig als Hintergrund eingestellt. Damit haben wir uns doch regelmäßig aufgezogen, erinnerst du dich? Deinen Fingerabdruck habe ich noch immer gespeichert, deswegen konntest du es entsperren“ sagt er, „Aber ich habe nicht damit gerechnet, dass du die Polizei rufen willst. Also musste ich dir schreiben und das verhindern. Hättest du dir das Smartphone genauer angesehen, dann hättest du bestimmt bemerkt, dass es mir gehört.“

Malte blickt Nora hoffnungsvoll an:
Glaubst du mir?“

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