M.L.Lebensangst

„Guten Morgen mein Schatz“ flüstere ich und stelle Sophie eine dampfende Tasse schwarzen Kaffee auf den Esstisch, während ich ihr einen Kuss auf den Hinterkopf drücke.  „Guten Morgen“ erwidert sie und lächelt mich an. Ihre wunderschönen blauen Augen funkeln, als sie die schwarze Brühe erblickt. Auch heute noch setzt mein Herz für eine Sekunde aus, wenn sie mich auf diese Weise anschaut. Sie hat noch ganz zerzauste Haare von der Nacht. Einige Strähnen stehen kreuz und quer in alle Richtungen von ihrem Kopf ab, andere fallen auf ihre Stirn und ihre Wangen, und lassen nur vage erkennen, wie wundervoll und einzigartig ihre Gesichtszüge sind. Und trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, sieht sie auch heute wieder wie gemalt aus. Als wäre ein Team aus Malern und Designern vor ihr gestanden, hätte ihre Strähnen mal nach links, mal nach rechts gehalten, um zu schauen, wie sie am besten fallen würden. Als wären sie dann nach reichlicher Überlegung einen Schritt zurückgetreten, hätten noch einmal aufmerksam alles inspiziert und wären dann, zufrieden mit ihrem vollbrachten Werk, davongezogen. Zurück blieb diese wunderschöne Frau mit den blauen Augen und den Sommersprossen auf den Backen, bei der selbst direkt nach dem Aufstehen alle Haare perfekt zu fallen scheinen, und welche ich voller Stolz und voller Liebe meine Frau nennen darf.

 

„Weißt du was für ein Tag heute ist?“ fragt sie mich und nimmt einen großen Schluck aus ihrer Tasse. „Natürlich“, erwidere ich grinsend, ganz aus meinen Gedanken gerissen „es ist Donnerstag“.
„Nein, du Blödmann. Welches Datum heute ist.“ „Ich weiß doch.“ Sie lacht. „Es ist der 5. Mai. Heute genau vor acht Jahren haben wir uns das allererste Mal gesehen. Ich wusste gleich, dass du die Frau sein wirst, die ich heiraten und mit der ich Kinder bekommen werde.“ Ich schiebe mich zurück zur Küchenschublade und ziehe daraus eine Schatulle mit einer eleganten Kette hervor. Nachdem ich sie meiner Frau überreicht habe und dafür mit einem zärtlichen Kuss belohnt werde, mache ich mich auf den Weg zur Arbeit. Ich freue mich jetzt schon, sie heute Abend wieder in meine Arme schließen zu dürfen.

 

Wie jeden Tag nehme ich die S1 in Richtung Stuttgart und ergatterte sogar noch einen Sitzplatz zwischen gestressten Männern und Frauen in Anzügen und Kostümen, zwischen Jugendlichen mit Kopfhörern im Ohr, welche wahrscheinlich auf den Weg zur Schule sind, und ein paar von der Nacht gezeichneten Kreaturen, welche sichtlich Mühe haben, ihre Augen offen und ihren Körper aufrecht zu halten. Auch mir ist eine gewisse Müdigkeit noch ins Gesicht geschrieben, als plötzlich ein Handy anfängt zu klingeln. Klingelnde Handys, besonders mit einem so schrillen Klingelton, sind in Bus und Bahn nicht gern gesehen, schon gleich gar nicht zu so früher Stunde. Als sich dann auch noch niemand angesprochen zu fühlen scheint und das Ringen ca. zum fünften oder sechsten Mal ertönt, wandern genervte Augen durch das Bahnabteil, um den Übeltäter, der so schamlos sein Handy in solcher Lautstärke klingeln lässt, ausfindig zu machen und ihn mit einem strengen Blick zu bestrafen. Doch niemand, auch ich selbst nicht, der sich der Masse der suchenden Augen angeschlossen hat, kann ausfindig ausmachen, wer für diese frühe Störung verantwortlich ist. Nach einer gefühlten Ewigkeit verstummt das Geräusch von alleine, und alle Passagiere fallen wieder zurück in einen Halbschlaf, tanken noch etwas Energie, um später, mit etwas Motivation, den Arbeitstag zu überstehen.

In meinem Büro angekommen, nehme ich wie jeden Tag die Arbeit auf. Wie jeden Tag wandern meine Augen ab 12 Uhr wie von selber immer öfter zur Uhr auf meinem Schreibtisch, bis ich um Eins endlich die stickigen Büroräume verlassen kann und das Loch in meinem Bauch, welches mit jeder fortschreitenden Minute größer zu werden scheint, zu stopfen. Wie jeden Mittag hole ich die von meiner Frau vorbereiteten Sandwiches und den Salat aus meiner Tasche und mache mich auf zu meinem Stammplatz, einem Brunnen, zu dem eine Treppe führt. Wie immer setze ich mich auf die Vierte, die vorletzte Stufe. Von hier aus kann man alles wunderbar sehen, das Plätschern des Wassers im Brunnen hören, und eine kleine Zierkirsche spendet sowohl ein wenig Schatten als auch ein schönes Ambiente. Seit Jahren sieht meine Routine genauso aus – warum sollte man auch etwas ändern, was sich als offensichtlich gut bewährt hat. Wer sich einmal gefunden hat, denke ich mir, der sollte sich auch nicht mehr groß verändern. Weder ein Autor, der endlich mit seiner Geschichte fertig ist, noch ein Maler, welcher sein Bild zu Ende gemalt hat, oder auch ein Architekt, der mit seinen Bauplänen zufrieden ist, sollte ständig neue Ideen und Ergänzungen zu seinen Werken hinzufügen, denn so besteht auch die Gefahr, alles wieder zu verhunzen. Ähnlich sieht es mit unserer Lebensplanung und unseren alltäglichen Erledigungen aus. Und genau deshalb sitze ich seit Jahren auf demselben Plätzchen, mit dem gleichen Essen in der Hand.

Gerade als ich genüsslich in mein Sandwich beißen will, ertönt wieder das schon vom Morgen bekannte Geräusch. Wie eine Kreissäge ein Stück Holz, so zerschneidet das Klingeln eines Telefons die Stille, welche ich an diesem Ort so schätze. Wieder sehe ich keine Person, der das klingelnde Handy zuzuordnen wäre. Doch dann sehe ich, wie neben mir, unter der Zierkirsche, ein kleines grünes Lichtlein immer wieder aufleuchtet. Vorsichtig greife ich danach und ziehe ein Handy hervor, auf dessen Display tatsächlich ein eingehender Anruf angezeigt wird. Anonyme Nummer. Ich überlege eine Weile, ob ich den Anruf entgegennehmen soll, um der Person am anderen Ende der Leitung mitzuteilen, dass ich dieses Handy gefunden habe, komme aber zu keinem Ergebnis, bis das Klingeln wieder erlischt. Doch was ich dann auf dem Bildschirm erblicke, wirkt wie ein Schlag in die Magengrube, so plötzlich, so unerwartet und so stark, dass der Schock dieses plötzlichen Eindrucks sich blitzartig über meinen ganzen Körper verteilt und ihn fest umklammert hält, wie die etwas zu feste Umarmung der ungeliebten Tante beim Weihnachtsessen, aus der man sich als Kind kaum befreien kann.

Was ich jetzt auf dem Bildschirm sehe, ist ein Mann mittleren Alters, in einem Anzug, mit braunen zurückgegelten Haaren, welcher in seinen trainierten Armen eine Frau hält und sie verliebt anlächelt. Eine Frau mit braunen Haaren, einem wunderschönen Lächeln und Sommersprossen auf den Backen. Was ich auf diesem Bild sehe, bin ich selbst, mit meiner Frau Sophie in meinen Armen. Das Bild dürfte erst vor ein paar Wochen entstanden sein, als wir beide, an unserem kinderfreien Tag, einen Ausflug in die Stadt machten und wie zwei frischverliebte Teenager zusammen Eis aßen und anschließend etwas spazieren gingen. Ich will schlucken und merke, wie trocken meine Kehle auf einen Schlag geworden ist. Wie bei einem schon seit Jahren nicht mehr geölten Tor verweigert plötzlich mein Schluckmechanismus, der sonst so einfach und ohne einen Gedanken daran verschwenden zu müssen funktioniert, seinen Dienst. Mein Hals fühlt sich an, als wäre ich soeben mehrere Stunden ohne Wasser durch die Wüste gerannt. Regungslos starre ich auf dieses Foto.

Langsam spüre ich, wie wieder Leben in meinen Geist und schließlich auch in meinen Körper zurückkehrt. Warum halte ich gerade mitten im Park ein fremdes Handy in der Hand, auf welchem ein Bild von mir und meiner Frau in einem so privaten Moment zu sehen ist? Unschlüssig über meine weitere Vorgehensweise wische ich mit meinem Daumen nach rechts – und sehe wieder mich: wie ich gerade mein Haus verlasse, dann wie ich zur S-Bahn laufe, wie ich durch den Einkaufsladen streife, wie ich mit meinen Kindern einen Spielplatz besuche, und wie ich in einem Restaurant sitze. Wie wild wische ich durch die Bildergalerie. Meine Augen scheinen immer größer zu werden und meine Schweißdrüsen plötzlich auf Hochtouren zu arbeiten. Schließlich endet dieser  Wischmarathon mit einem Bild, auf dem ich mich in der Küche über meine Frau beuge und ihr einen Kuss auf die zerzausten Haare des Hinterkopfs gebe. Das war erst heute Morgen denke ich, und wie von Sinnen schreie ich plötzlich lauthals: „Heute Morgen!“ Eine Frau dreht sich erschrocken um, ihr Hund bellt in meine Richtung, als würde er schimpfen, weil ich gerade die wunderschöne Stille so plötzlich und schrill zerstört habe, so wie es das Handyklingeln bei mir tat. Ich bin nicht mal in der Lage, mich zu entschuldigen und starre nur auf das Handy, auf das Foto von mir und meiner Frau. „Was hat das zu bedeuten, was verdammt noch mal hat das nur zu bedeuten?“ flüstere ich und merke, dass mir Tränen in die Augen steigen. Eine gefühlte Ewigkeit sitze ich so da, wische erneut durch die Bilder und bin nicht in der Lage, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.

Plötzlich vibriert das Handy. Als wäre es eine riesige Spinne, welche ohne Vorwarnung auf meine Hand springt, schüttle ich das Handy aus meinen Händen und starre weiter fassungslos auf das Display vor meinen Füßen. Eine Nachricht erscheint. Ich fühle mich nicht in der Lage, mich zu bewegen, das Handy wieder aufzuheben und diese Nachricht zu lesen. Wie angefroren sitze ich auf meinem Stammplatz und Tränen rinnen über mein Gesicht. Das kann doch nicht sein, das kann und wird nichts Gutes bedeuten. Auch wenn ich mir noch nicht erklären kann, was das alles zu bedeuten hat, spüre ich, dass das Klingeln dieses Handys nichts Gutes ankündigt.

Die letzten Jahre habe ich täglich versucht, mir ein glückliches Leben, Stück für Stück wie ein Kartenhaus, aufzubauen. Und ich bin mir sicher, dass das Klingeln dieses Handys dieses Leben für immer verändern wird. Wie ein Unglücksbote wird dieses Handy Nachrichten und Geschehnisse in mein Leben tragen, die mein gesamtes, so mühsam aufgebautes Kartenhaus zum Einsturz bringen können. All die Jahre, in denen ich Sicherheit, Liebe und Geborgenheit spürte, haben dazu geführt, dass ich vergaß, wie instabil ein Kartenhaus in Wirklichkeit ist. Dass schon ein kleiner Windstoß, ein kleines Ruckeln ausreichen kann, alles einstürzen zu lassen. Und ein solcher Windstoß trifft heute in Form dieses Handys auf mein Kartenhaus. Und die oberste Reihe des Kartenhauses, die Spitze der Pyramide, das Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und Gelassenheit, ist sogleich zusammengebrochen, nachdem ein Unbekannter so unerwartet in meine Intimsphäre eindringen konnte.

Ich muss diese Nachricht lesen, ich muss wissen, was das alles zu bedeuten hat, und ich muss versuchen zu verhindern, dass auch noch die anderen vier Stockwerke meines Kartenhauses einstürzen. Wenigstens die unterste Reihe, die Liebe, das Fundament meines Kartenhauses, muss halten bleiben. Auf alles andere kann ich verzichten. Alles andere ist, wie in der Überlebenspyramide, verzichtbar. Nicht aber die Liebe zu meiner Frau. Aus der einen großen Liebe wurden mit der Geburt meiner Tochter zwei große Lieben, und zum krönenden Abschluss mit der Geburt meines Sohnes drei große Lieben. Diese gilt es zu beschützen. Also muss ich stark sein! Für meine Frau, für meine Kinder – und für mich. Ich muss stark sein, und den Anfang kann ich machen, indem ich diese Nachricht lese. Ich muss mich allem stellen und mich schützend vor mein mühsam aufgebautes Kartenhaus stellen, das soeben schon sein oberstes Stockwerk durch diesen kurzen Anruf verloren hat.

Also rappele ich mich auf, hebe das Handy vom Boden auf und öffne mit zitternden Fingern die Nachricht. „M. L.“ steht dort geschrieben. Nicht mehr und nicht weniger. Maria Leupold schießt es mir sofort durch den Kopf. Und wenn ich dachte, dass das Gefühl schrecklich beklemmend war, dass mich überkam, als ich die Bilder zum ersten Mal sah, so sehe ich mich nun getäuscht. Denn im Gegensatz zu dem, was ich jetzt spüre, war dieses erste Gefühl eher wie eine wohlige Umarmung meiner Mutter. Ich wusste nicht, dass sich ein Mensch so schlecht, so verängstigt und so alleine fühlen kann, wie ich in diesem Moment. Und das Schlimmste: ich bin selbst schuld! Schuld an allem. Über die Jahre, in denen ich so akribisch an meinem Kartenhaus arbeitete, hatte ich immer weniger an die längst vergangenen Tage gedacht. Mit jeder neuen Karte, die ich meinem Kartenhaus erfolgreich hinzufügte, verblassten zunehmend die alten Bilder aus der Zeit, bevor ich meine Frau getroffen hatte. Mit jedem neuen Stockwerk meines Kartenhauses verschwanden ganze Sequenzen dieser alten Zeit und waren nur noch ein blasser Schimmer, wie Szenen aus einem Film, den man irgendwann gesehen hatte und welcher einem immer noch das ein oder andere Mal im Geist herumschwirrt, der aber nicht zum eigenen Leben dazuzugehört. Und irgendwann, als mein Kartenhaus fertig aufgebaut war, als mir alles in meiner kleinen Welt paradiesisch erschien, dachte ich schließlich überhaupt nicht mehr an das Leid und den Schmerz, für die ich verantwortlich war. Doch nun, scheint mir, soll ich an das alles erinnert werden, sollen der Schmerz und das Leid mich selbst heimsuchen.

Auch am Abend noch fühle ich mich wie paralysiert beim Abendessen, kaum in der Lage, ein vernünftiges Gespräch zu führen. Wie von den Erinnerungen besessen, durchdringen diese zu jeder Zeit und wahrlich ungewollt mein Gedächtnis. Jeden Moment spüre ich deutlich die kleine Wölbung in meiner Hosentasche, in der ich nach reichlicher Überlegung mein neues Handy verstaut habe. Ich habe keine Ahnung, wie das alles weiterverlaufen wird und was genau Maria mit mir vor hat. Ich weiß nur eins, und das mit voller Klarheit: Ich muss meine Familie schützen, um jeden Preis! Also fasse ich einen Plan und teile meiner Frau mit, ich müsse für einige Tage auf Geschäftsreise. Schnell packe ich einige Sachen und buche ein Hotel am anderen Ende der Stadt für die kommenden Tage. Dann, nehme ich mir vor, werde ich mich heute nur noch um meine Familie und ab morgen nur noch um mein Problem kümmern.

In der Nacht bekomme ich kein Auge zu. Ständig rasen diese Bilder durch meinen Kopf. So schnell, so wirr und doch so deutlich, als wären alle Jahre, die nun schon zwischen den Ereignissen und dem heutigen Tage liegen, plötzlich wie ausgelöscht. Am Ende bleibt immer eine Sequenz übrig: ein Baseballschläger schlägt genauso schnell und genauso kraftvoll auf ihren Kopf – dann ist alles schwarz. Mein Herz hämmert seit Stunden, mein Puls rast, ich schwitze ununterbrochen. Neben mir liegt meine Frau, gleichmäßig und ruhig atmend, ganz friedlich an mich gekuschelt. So gegensätzlich, wie wir schon immer in unserem Inneren waren, liegen wir jetzt hier auch ganz offensichtlich in unserem Bett. Am Ende bekommt eben doch jeder das was er verdient, denke ich mir und spüre Tränen auf meiner Wange.

 

Am nächsten Tag sitze ich völlig übermüdet und, wie es in den letzten Stunden dauerhaft der Fall ist, vollgeschwitzt auf dem Bett meines Hotelzimmers. Unschlüssig, was ich nun unternehmen soll, sitze ich seit Stunden nur da und drehe das Handy in meinen Händen wie ein Marshmallow über dem Feuer. Keine weiteren Anrufe mehr, keine Nachrichten. Die plötzliche Ruhe, die nun von meinem neuen Handy ausgeht, ist aber mindestens genauso beunruhigend wie der ohrenbetäubende Lärm des Klingeltons. Manchmal ist eben das, was man nicht sieht oder nicht hört, genauso bedrohlich oder gar bedrohlicher als das, was direkt mit den Sinnen wahrnehmbar ist. Maria müsste damit reichlich Erfahrung haben denke ich. Ob das schon alles war? Ob sie nur dieses kleine Psychospielchen mit mir treiben wollte, um zu zeigen, dass sie mich nicht vergessen hat? Um mich an all das Leid und das Unrecht zu erinnern, das ich ihr angetan habe? Das kann ich mir nicht vorstellen. Zu tief muss der Schmerz liegen, den sie durch mich erfahren musste. Zu schlimm und zu genau sind die Erinnerungen daran.

Wäre doch damals nicht alles aus so dem Ruder gelaufen. Hätte ich mich damals doch nicht dazu entschieden, derjenige zu sein, der ich damals war. In den letzten Jahren dachte ich, diesen Teil meiner Persönlichkeit ausradiert zu haben, der mich in dieser Zeit ausmachte. Doch vielleicht ist das gar nicht möglich. Vielleicht bleibt ein Mensch immer die Summe der Erfahrungen und Entscheidungen, die ihn seit Lebensstart prägten. Vielleicht ist es gar nicht möglich, sich wirklich zu verändern. Vielleicht ist es schlicht nur ein Leugnen der dunkelsten Züge, welche aber immer in einem schlummern und nie wirklich ganz verschwinden können. Vielleicht war mein ganzes Leben in den letzten acht Jahren ein reines Theaterspiel, so überzeugend, dass sogar ich selbst, Akteur und Zuschauer in einem, von seiner Echtheit überzeugt war. Vielleicht ist es im wahren Leben nicht möglich, noch einmal von vorne anzufangen – noch einmal über Los zu gehen. Dieser eine Anruf auf einem fremden Handy hat es geschafft, dass ich mich und mein ganzes Leben in Frage stelle. Wie soll es mir möglich sein, zu meiner Familie zurückzukehren und so zu tun, als sei ich immer noch der Mann, der ich acht Jahre lang zu sein vorgab? Wie soll ich in die ehrlichen, reinen Augen meiner Kinder schauen und dabei meine schwarzen, bestialischen vor ihnen verbergen? All diese Gedanken schwirren wie ein immer wiederkehrendes Karussell durch meinen Kopf. Um mich endlich zu beruhigen, nehme ich schließlich die Flasche Whiskey aus der Minibar und betäube mich und diese Gedanken.

Am nächsten Morgen erwache ich mit den schlimmsten Kopfschmerzen seit langem. Meine Glieder und mein Körper fühlen sich so schwer an, als hätte ich über Nacht 100 Kilo zugenommen. Voller Schwindelgefühl tapse ich wie ein junges Reh, nur deutlich weniger grazil, in das Badezimmer und nehme eine heiße Dusche. Als meine Gedanken etwas klarer werden, bereue ich meine Entscheidung sofort, denn wie auf Kommando beginnt sich mein Gedankenkarussell von Neuem zu drehen. Durch die letzten drei Tage fühle ich mich jetzt schon um 20 Jahre gealtert, und das nicht wirklich in Würde. Um wenigstens das Gefühl zu bekommen, irgendetwas zu machen, ringe ich mich dazu durch, mein neues Handy aus der Nachttischschublade zu holen, in welche ich es gestern Abend gepfeffert hatte, um alle Gedanken und Erinnerungen mitsamt diesem Handy darin einzusperren. Geholfen hat das allerdings wenig. Als ich auf das Display tippe, passiert erstmal nichts. So ein Mist denke ich mir, warum geht dieses verdammte Handy nicht an? Immer wieder drücke ich auf den On-Knopf, doch nichts passiert. Akku leer! Nachdem ich also endlich den Mut dazu hätte, den Absender, und damit wahrscheinlich zugleich den Ersteller der Fotos, zu kontaktieren, ist also der Akku leer. Mein Leben fühlt sich gerade an wie eine verdammte Satiresendung.

Ich nehme all meine Kraft zusammen und stolpere erneut ins Bad. Nachdem ich mich mit großer Mühe etwas frisch gemacht habe und das wenig befriedigende Ergebnis im Spiegel betrachte, fasse ich den Entschluss, noch ein oder zwei Schluck Whiskey zu mir zu nehmen, bevor ich mich aufmache, ein Ladegerät für das Handy zu besorgen. Aus den ein bis zwei Schluck wird dann doch ein ganzes Glas, aber dann fühle ich mich endlich bereit, los zu ziehen. Auf dem Weg zu einem Elektronikgeschäft führt mich Google Maps an einem Friedhof vorbei. Sofort kommt wieder Übelkeit in mir hoch. Das kann doch nicht Ernst sein! Ich hätte in alle möglichen Straßen und Richtungen gehen können, doch ich werde ausgerechnet an diesem Friedhof vorbeigeleitet. Entschlossen laufe ich dennoch einfach daran vorbei. Nicht mit mir, denke ich. Ich werde diese verdammte Nachricht schreiben und dann zu meiner Familie zurück gehen, und ich werde wirklich alles dafür tun, um dies alles so schnell wie möglich zu beenden. Ich spüre Wut in mir aufsteigen. Den Gedanken, ob gerade ich wirklich berechtigt bin, Wut auf diese Frau zu verspüren schiebe ich kurzerhand einfach aus meinen Gedanken – der Whiskey machts möglich. Da ich vergessen habe, um welches Modell es sich bei meinem neuen Handy handelt, kaufe ich mehrere Ladegeräte verschiedener Marken, um auf Nummer sicher zu gehen.

Als ich wieder im Hotelzimmer ankomme, bin ich mir plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob ich an die Nummer wirklich zurückschreiben will. Allmählich drängen sich die Zweifel an mir und meiner Person wieder an vorderste Front meines sich ständig wiederholenden Gedankenkarussells. Nachdem ich während meines Spaziergangs auf der Suche nach einem Handyladekabel so eine Stärke, ja sogar Wut über den Einschnitt in mein Leben verspürte, liege ich nun wieder zusammengekauert auf meinem Hotelzimmerbett und lasse Tränen und Gedanken freien Lauf. Obwohl ich dieser Frau alles nahm, bin ich sauer auf sie, verspüre sogar Wut. Bin ich nicht wirklich das Allerletzte? Vielleicht ist ein Mensch ja nicht mal die Summe aus allen Entscheidungen und allen zurückgelegten Wegen. Vielleicht ist der Weg des Menschen einfach vorgezeichnet, oder zumindest bedingt vorgezeichnet? Vielleicht gibt es am Anfang unseres Lebensweges eine Gabelung: links böse und rechts gut. Wer sich einmal für den linken Weg entschieden hat, der kann vielleicht durch Windungen und Schleifen den rechten Weg manchmal streifen und mit Glück sogar eine Weile darauf laufen, vielleicht aber kommt er schließlich trotzdem immer wieder auf den selbst gewählten linken Weg zurück. Und ich hatte den linken Weg gewählt. Zwar hatte ich eine Überschneidung von ganzen acht wundervollen Jahren mit dem rechten Weg, begleitet von Sonne, Blumen und Schmetterlingen. Doch jetzt gelangte ich doch wieder auf den anderen Weg zurück: ins Finstere. Die Sonne, die Blumen und die Schmetterlinge wurden abgelöst von dunklen Wolken und schwarzen Käfern.

Ich spüre, wie sich die Schwärze immer weiter, immer fester und immer stärker um mich legt, wie ein Nebel, der mich langsam aber sicher zu ersticken droht. Und dass sich mein Weg erneut mit dem auf der rechten, sonnigen Seite überschneiden wird, halte ich in diesem Moment für unmöglich. Bei allem, was ich getan habe, bei all dem Leid, das ich über die Menschen gebracht habe, verdiene ich es überhaupt nicht, so zu leben wie in den letzten acht Jahren, verdiene ich es vielleicht gar nicht, überhaupt zu leben …

Diese Gedanken bohren sich immer weiter, immer tiefer, wie eine klaffende Wunde in mein bisher so unverletztes Herz, und nach jedem Gedanken, nach jeder Erinnerung und jeder Träne spüre ich förmlich, wie eine tiefe Narbe bleibt. Nur drei Tage, einen Anruf und eine Nachricht hat es gedauert, um mich völlig hilflos und mit Narben überzogen so zurück zu lassen, dass nicht mal ich selbst mich noch leiden kann und ich mich ständig frage, welche der zwei Persönlichkeiten ich in Wahrheit bin: Bin ich gut oder böse? Ein Mittelweg, ein grau mit verschiedenen Nuancen, ein Mensch, der zwar Fehler begeht, diese aber irgendwie wieder bereinigen kann, dass scheint mir, jedenfalls für mich, nach meinen Taten unmöglich. Seit Stunden quält mich nur noch die eine Frage: Wer bin ich? Bin ich auf dem linken oder dem rechten Weg unterwegs? Bin ich gut oder böse? Bin ich schwarz oder weiß?

Immer öfter komme ich zu dem Ergebnis, dass ich wirklich der bin, der ich war, bevor ich Sophie traf. Sie war wie eine Erleuchtung, um mir zu zeigen, was ich hätte haben können, wenn ich mich damals nicht für den linken Weg entschieden hätte, dass ich zu 100 Prozent von Kopf bis Fuß nur dieser Mensch bin. Und die letzten Jahre waren eine Art Illusion, eine Mahnung und eine Bestrafung zugleich, während ich wie ein Zuschauer von außen mich selbst dabei beobachtete, wie ich mein Kartenhaus Stück für Stück, Karte für Karte aufrichtete, um zu sehen was möglich wäre. Und dass nun die Zeit gekommen ist, zu welcher jedes, wirklich jedes Kartenhaus zusammenbrechen muss. Denn ein solches hält nie ewig. Je mehr sich diese Gedanken in mir festsetzen, desto mehr komme ich zum Ergebnis, dass auch Sophie nur eine Illusion war. Dass ich ihre Liebe und die Liebe unserer Kinder überhaupt nicht verdient habe. Und dass alle Drei ohne Frage besser dran wären, wenn ich nicht mehr in ihrem Leben präsent wäre und meine schwarzen Regenwolken über ihren Leben platzieren würde. Unmerklich bröckelt nun also wie von selbst auch das Fundament meines Kartenhauses, auf welchem sich alles aufbaut.

 

Gegen Abend finde ich mich auf dem Friedhof wieder. Zielgerichtet laufe ich drei Wege entlang durch den Park und bleibe am fünften Grab links stehen: „Luisa Leupold. 13.06.1980 – 05.05.2012“. Sofort laufen unaufhaltsame Tränen über mein Gesicht. Ich möchte etwas sagen, doch ich merke, dass es nicht geht. Als gäbe es eine riesige, unüberwindbare Hürde in meinem Hals, welche meine Stimme nicht passieren kann. Ein Schauer überkommt meinen Körper, und die Tränen pressen sich aus meinen Augen. Dennoch: mein Plan steht. Nach einiger Zeit fasse ich mich, nehme mein neues Handy in die Hand und tippe eine Nachricht an die unbekannte Nummer. Ich tippe die Worte und merke, dass ich plötzlich ruhiger werde. „Es tut mir leid. Es tut mir alles so schrecklich leid! Ich werde das alles wieder gut machen.“ Die Reue und meine Entschlossenheit, sowie die plötzliche Ruhe, die sich in mir ausbreitet, haben die Hürde in meinem Hals entweder schrumpfen lassen oder sogar ganz abgebaut, und so schaffe ich es, die ersten Worte an Luisa zu richten: „Es tut mir leid. Ich weiß, dass ich das alles nicht mehr rückgängig machen kann. Aber ich will, dass du weißt, dass es mir leid tut und dass ich nicht ungestraft davonkommen werde. Dafür hat deine Mutter gesorgt. Sie hat den Stein ins Rollen gebracht – und ich werde es beenden.“ Diese Worte kommen nur schwer aus meinem Mund, und ich habe sogar das Gefühl, sie regelrecht aus meinem Hals herauspressen zu müssen.

 

Nochmals hole ich mein neues Handy aus der Tasche. Da ich Angst habe, meine Frau wecken zu können, wenn ich sie anrufe, nehme ich eine Sprachnotiz auf: „Hallo Mein Schatz. Ich hatte dir erzählt ich würde auf Geschäftsreise gehen … doch das stimmt nicht.“ Meine Worte kommen nur zögerlich aus meinem Mund. Die Hürde muss erneut gewachsen sein. Ich räuspere mich. „Jedenfalls möchte ich dir hier und heute alles gestehen. Ich möchte dir beichten, was für ein Mensch ich in Wahrheit bin, und bitte dich, mich dafür nicht zu hassen. Ich weiß, meine Taten waren abscheulich und ich weiß, dass du mich ohnehin verlassen wollen wirst, doch diese Entscheidung möchte ich dir hiermit abnehmen. Aber nun von Anfang an.“

 
Meine Worte, die anfangs so zögerlich aus mir kamen, scheinen jetzt gar kein Halten mehr zu finden. Nun endlich scheint die Hürde abgebaut zu sein, so dass meine Worte die Hürde nicht mehr mühsam und stockend überwinden müssen. Alles fühlt sich plötzlich so klar an: „Vielleicht habe ich dir das ein oder andere Mal erzählt, dass ich als junger Mann im Sozialen Dienst tätig war. Nach einiger Zeit habe ich damit angefangen, immer wieder das ein oder andere wertvolle Stück von den Kranken oder den Senioren mitgehen zu lassen. Ich fand das damals nicht wirklich schlimm … ich meine, sie brauchten es ja auf eine gewisse Art nicht mehr. Ich wurde so wenig bezahlt, obwohl ich so viel Zeit und Mühe in die Arbeit mit meinen Patienten steckte, dass ich mir einredete, mir stünde das zu. Aber darum soll es jetzt nicht gehen. Das alles erreichte jedenfalls seinen Höhepunkt, als ich Maria traf. Maria Leupold.“

 
Erneutes Schluchzen steigt meine Kehle empor. Unaufhaltsam laufen die Tränen aus meinen Augen, doch gleichzeitig wollen die Worte und die Bilder aus der Vergangenheit endlich ans Licht kommen, aus dem Käfig meiner Erinnerung ausbrechen, durch meinen Mund in die Freiheit entkommen und neue Sätze, neue Erinnerungen und neue Bilder kreieren: „Maria war eine ältere Dame, aber schon vollkommen blind. Auf Anhieb hatten wir beide ein gutes Verhältnis und erzählten uns Geschichten aus unseren Leben. Sie war, als wir uns kennenlernten, vor sechs Jahren Oma geworden. Damit hatte ihre Tochter Luisa ihr ihren größten Traum erfüllt. Obwohl sie ihre kleine Enkelin noch nie in Wirklichkeit gesehen hatte, da sie ja blind war, hatte sie immer eine genaue Vorstellung davon, wie ihre kleine Enkelin wohl aussehen würde, und schwärmte fast dauerhaft von ihr. Ja, sie liebte die Kleine abgöttisch. Aber trotz unserer besonderen Bindung konnte ich es mir auch bei ihr nicht verkneifen, das ein oder andere wertvolle Stück, oder den ein oder anderen Geldschein mitzunehmen. Ich weiß, das war schrecklich, aber irgendwie konnte ich das mit mir vereinbaren.“

Meine Stimme stockt erneut, plötzlich habe ich kaum noch Kraft, auch nur ein einziges weiteres Wort über meine Lippen zu kriegen. Nun fühle ich mich wieder so kraftlos, erschöpf und ausgebrannt, dass ich mich entschließe, die Sprachnachricht mit meinem Geständnis vorerst zu beenden. Wie von Sinnen laufe ich zurück in mein Hotel, ich brauche eine Stärkung. Und diese liegt, wie in den letzten Tagen so häufig, in einem Glas Whiskey. Oder auch in vier Gläsern. Nachdem ich mir die Drinks gegönnt habe, laufe ich zum Fahrstuhl. Doch ich steige nicht wie sonst  im fünften Stock aus, um in mein Zimmer zu gehen, sondern fahre bis ganz nach oben. Aus einem Bericht in einer Zeitung weiß ich, dass das Hotel eine schöne Dachterrasse hat, die zwar im Mai noch geschlossen ist, aber wegen der Vorbereitungen zur Eröffnung schon zugänglich ist. Ich torkle zum Ende des Daches und sehe vorsichtig hinab. Alles ist still. Einige Fenster sind zwar noch beleuchtet, doch der Großteil der Menschen scheint zu schlafen und sich durch ihre Träume in anderen Welten zu befinden. Ich muss damit jedoch noch warten.

Ich nehme erneut mein Handy in die Hand. Inzwischen ist es sechs Uhr morgens. Bald wird Sophie aufwachen. Ich muss mich also etwas beeilen, so dass sie mein volles Geständnis auf einmal hören kann. Und so gebe ich erneut alle meine Erinnerung wieder und kämpfe mich mit letzter Kraft durch all die schrecklichen Bilder: „Einmal fragte mich Maria, ob ich wisse, ob auch bei anderen Patienten unseres Pflegedienstes Sachen verschwinden würden, ihre Tochter hätte da ein paar Andeutungen gemacht. Da sie ja blind war, konnte sie die Entgleisung meines Gesichtes nicht sehen und glaubte mir schließlich, als ich alles verneinte. Sie hatte ohnehin nicht mich in Verdacht. Sie vertraute mir. Verstehst du, sie vertraute mir so, dass sie in diesem Punkt nicht mal ihrer eigenen Tochter glaubte. Doch selbst an diesem Tag, und nach diesem Vertrauensbeweis, nahm ich einen Geldschein aus ihrem Portemonnaie. Es war zu einfach, zu verlockend, da sie es ohnehin nicht sehen konnte. Einige Tage darauf kam ich zu Maria, als auch ihre Tochter Luisa und ihre Enkelin sie besuchten. Ich hatte Maria noch nie so strahlen sehen. Sie liebte ihre kleine Familie. Sie liebte sie über alles. So wie ich euch.“

 
Erneut brauche ich eine kleine Pause, um trotz meiner Tränen genug Luft zum Weitererzählen meiner Geschichte zu bekommen. Im Haus gegenüber geht das erste Licht an. Ein Auto hält vor meinem Hotel, und ich sehe, wie zwei offensichtlich angeheiterte Gestalten aussteigen und in Richtung des Eingangs schwanken. Ich setze fort: „Luisa erzählte mir jedenfalls im Laufe des Abends, dass sie heute Geld mitgebracht hatte, um morgen vom Verkaufserlös des Hauses ihrer Mutter ein neues Auto zu kaufen. Ich wurde natürlich hellhörig. Ich wollte ja auch nicht alles mitnehmen, aber ein kleiner Teil, der würde ihr nicht schaden, da war ich sicher. Hätte ich nur gewusst, dass das alles eine Falle war. Sie erwähnte das so beiläufig und so passend, als Maria gerade nicht im Zimmer war, dass mir nicht einmal in den Sinn kam, sie könnte mir eine Falle stellen wollen. Also wartete ich an diesem Abend ab, bis ich sicher war, dass Maria schlafen würde, und verschaffte mir dann Zutritt zu ihrem Haus. Als ich mich durch ihre Schubladen wühlte, erstarrte ich plötzlich. Das Licht ging an. Langsam drehte ich mich um, und ich sah, dass Luisa in der Zimmertür stand. ‚Ich wusste es,‘ flüsterte sie erst und schrie dann ‚ich wusste es, du mieser Dreckssack.‘ Wie von Sinnen schrie ich zurück, mir stünde das zu und Maria brauche das Geld ohnehin nicht mehr. Irgendwann schrien wir uns beide einfach gleichzeitig nur noch an.“

Einmal noch brauche ich eine kurze Pause. Tief im Inneren suche ich nach der Kraft für die kommenden Worte. Einmal noch muss ich tief Luft holen, um zu ertragen, was ich gleich erzählen werde. Wieder laufen mir Tränen über mein Gesicht. „Es tut mir leid. Es tut mir so leid“ flüstere ich, wie schon so oft in den letzten Tagen. Dann fahre ich fort: „Plötzlich stand ihre kleine Tochter im Raum, die durch das Geschrei geweckt wurde, und fing bitterlich an zu weinen. Auch hörte ich, wie sich die Zimmertür Marias öffnete. Ich fühlte mich so in die Enge getrieben, ich musste irgendwie meine Haut retten. Das Geschrei der Mutter, das Geheule der Tochter und die Schritte Marias drangen auf mich ein und ließen eine unendliche Angst in mir aufsteigen. Ich konnte kaum noch atmen, kaum noch klar sehen. Ich schaute im Zimmer umher, schaute ob ich irgendwie schnell diesen Raum verlassen konnte, doch Luisa stand in der Türe. Ich hatte keine Chance, an ihr vorbei zu kommen, und bis ich an den Fenstern gewesen wäre, hätte sie mich schon lange gepackt und aufgehalten. Marias Schritte kamen immer näher und ich hörte, wie sie mit zittriger Stimme rief, was denn los sei. Ich flehte Luisa mit letzter Kraft an, endlich leise zu sein, mich einfach gehen zu lassen, doch sowohl sie als auch ihre Tochter schrien immer fort. Das Geschrei der Mutter, das Geheule der Tochter, die Schritte Marias, mein Puls raste, die Schweißperlen liefen über mein Gesicht und ich spürte, wie sich meine Kehle immer mehr zuschnürte. Es fühlte sich an, als läge eine 100 Kilo schwere Eisenkette über meinem Körper, die ihn immer kräftiger und immer bestimmter zu Boden drückte und es mir unmöglich machte, mich zu bewegen. Ich wusste, dass ich dem Druck nicht mehr lange standhalten konnte. Ich musste da raus. In meinem Kopf wiederholte sich immer nur der eine Satz: ich muss hier verdammt nochmal raus. Irgendwann sah ich keinen anderen Ausweg mehr. Verstehst du, das Geschrei der Mutter, das Geheule der Tochter, die Schritte Marias – wie von Geisterhand gesteuert, nahm ich einen Baseballschläger in meine Hände, den Maria aus Sicherheitsgründen in jedem Zimmer stehen hatte, und schlug mit voller Kraft auf den Kopf Luisas. Mit einem Mal wurde alles ganz leise. Fürchterlich leise. Das kannst du dir nicht vorstellen Sophie. Es war schrecklich! Das Schreien von Luisa verstummte gleichzeitig mit den Schreien ihrer Tochter. Mir direkt gegenüber stand dieses kleine Mädchen, dem jegliche Farbe aus ihrem Gesicht entwich. Das pure Entsetzen stand in ihren Augen. Heute bilde ich mir ein, dass sie plötzlich ganz dunkel wurden. Als wäre all das Schwarz, dass mich umgab, mit einem Mal in ihre Augen gedrungen. Sie stand einfach da, mit offenem Mund, und musste zusehen, wie das dicke, rote Blut aus dem Kopf ihrer Mutter sich über den Parkettboden verteilte. Nach einigen Sekunden, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, hörte ich Marias zittrige Stimme. Sie rief was hier los sei, ob jemand hier sein, sie rief nach Luisa und ihrer Enkelin, doch niemand antwortete. Ich kletterte aus dem Fenster und rannte davon. Ohne einen Cent mitzunehmen, weshalb ich eigentlich gekommen war. An diesem Tag traf ich dann dich und nahm mir vor, nie wieder etwas Böses in meinem Leben zu tun. Einige Tage später las ich die Zeitung und sah die Todesanzeige von Luisa. Sie hinterließ ihre Mutter und ihre noch so junge Tochter. Ihren Vater hatte die Kleine nie kennengelernt, dass wusste ich von Maria. Etwa zur selben Zeit, als die Todesanzeige in der Zeitung erschien, erhielt ich eine Nachricht von Maria. ‚Ich weiß, dass du das warst. Ich habe dein Rasierwasser gerochen. Ich regierte aber nie darauf. So feige wie ich war, ließ ich sie einfach allein mit ihrem Schmerz, fand nicht mal den Mut mich zu entschuldigen und fing stattdessen an, mir mein neues Leben aufzubauen. Aber verstehst du? Das alles, was wir hatten, das war nicht ich. Das war alles eine Illusion dessen, was aus mir hätte werden können. Sophie, verstehst du, ich bin kein guter Mensch. Ich bin kein guter Ehemann und kein guter Vater. Ich bin ein innerlich von Schmerz und Lügen zerfressener Mann, der einer ganzen Familie so viel Schmerz zufügte, nur um sich selber zu retten. Die vergangenen Jahre, das war nicht mein wirkliches Ich. Das war eine Funktion, um den Schmerz und die Schuldgefühle zu überdecken. Ich bin ein Mensch, der einen anderen Menschen umbringt, um sich selbst die Haut zu retten. Ich bin den linken Weg gegangen, und auf diesem werde ich bleiben. Es tut mir alles so schrecklich leid Sophie. Das musst du mir glauben!“

Ich beende die Sprachnachricht und stehe auf. Zum ersten Mal in den letzten 72 Stunden – oder den letzten acht Jahren, da bin ich mir nicht so sicher –, kommt ein wirklich ehrliches Lächeln über meine Lippen. Ich habe all das Schlechte, alle Erfahrungen und Geschehnisse all die Jahre in mir aufgesaugt wie ein riesiger Luftballon, der jetzt zu zerplatzen droht. Aber vielleicht ist dieses Zerplatzen auch der einzige und unumgehbare Weg. Die ganze Spannung, die sich ergibt, wenn ein Luftballon bis kurz vor dem Zerplatzen aufgeblasen wird, ist irgendwann nicht mehr zu ertragen. Dann ist es einfach zu viel. Die letzten Stunden haben mein vernarbtes Herz und meine dunkle Seele nun endlich zum Vorschein gebracht, viel zu lang schon bin ich mit allem davon gekommen. Meine Illusionen und mein Kartenhaus sind vollständig eingestürzt. Der einzelne Anruf von Maria hat mir gezeigt, was für eine Person ich wirklich bin. Ich habe mich selber entschieden, zu dieser Person zu werden, und entscheide nun selber, die Welt vor dieser Person zu schützen. Ich nehme mein neues Handy in die linke, das alte in die rechte Hand, atme noch einmal die herrliche Luft ein und trete dann einen einzelnen, kleinen Schritt nach vorne, der mich und die Welt für immer von all dem Schmerz und all dem Übel, welches von mir ausgeht, befreit.

Kurze Zeit später vibriert mein neues Handy. „Ich wollte dich nur erinnern, an was ich seit jeher denken muss. Ich hoffe, du spürst jeden einzelnen Tag denselben Schmerz, den ich spüre. Obwohl ich dich nie wirklich sah, sehe ich dich jeden Abend, bevor ich einschlafe und jeden Morgen, nachdem ich aufwache. Ich wollte dir zeigen, dass ich dich sehe, immer und egal, was du machst. Bevor meine Zeit sich langsam dem Ende zuneigt, wollte ich dich erinnern. An alles. Ich hoffe das reicht, denn ich bin keine Person, die eine andere verletzt. Ich bin nicht die Böse. Das bist Du. Und deswegen werde ich dich auch nicht mehr kontaktieren und meine Enkelin bitten aufzuhören, weitere Bilder von dir zu machen. M. L.“

Zeitgleich geht ein Anruf auf meinem alten Handy ein. Nachdem niemand abnimmt, ertönt das Geräusch einer eingehenden Nachricht. „Indem du diese Gedanken hast, mein Schatz, kannst du überhaupt nicht die Person sein, vor der du solche Angst hast, dass du sie in Wahrheit bist. Komm zurück! Dann können wir über alles reden und hinter uns lassen.“ 

Schreibe einen Kommentar