LouisaW15Letztes Mal

 

Die Lichter der Autoscheinwerfer machten die einzelnen Regentropfen sichtbar. Obwohl es gerade einmal 10 Uhr war, schien die Stadt schon dunkel, ermüdet und erschöpft, wie zu Abendstunden. Genauso fühlte sich auch Nele. Nicht nur weil die tiefhängende Wolkendecke die Stadt verdunkelte und der Sonne den Weg versperrte, die hübsche Blondine lief nämlich auch komplett ungeschützt, ohne Regenmantel und ohne Regenschirm durch die Straßen und spürte wie ihre Kleidung mit jedem Schritt nasser wurde und ihr Körper mit jedem Atemzug herunterkühlte.

 

Unter normalen Umständen wäre sie bei diesem Wetter nie zu Fuß zur Arbeit gelaufen, doch das Unwetter hatte sie unterwegs überrascht. Wäre sie nochmal zurück gegangen um etwas angemessenes anzuziehen, dann wäre sie viel zu spät gekommen. Sie war jetzt schon sehr knapp dran. Früher wäre sie einfach zu Hause geblieben, hätte sich im Bett verkrochen und wäre erst wieder aufgestanden, wenn die Sonne sich erneut zeigte. Doch sie war jetzt ein neuer Mensch und die neue Nele machte so etwas nicht mehr. Sie ging arbeiten, immer und ohne Ausnahme. Leistete sich keine Fehlstunden, sondern übernahm eher noch mehr Überstunden. Seitdem sie beschlossen hatte ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, wollte sie alles perfekt machen.

 

Der Kaffee-to-go Pappbecher in ihrer Hand fühlte sich an, als würde er jeden Moment zerfallen. Doch auf ihren geliebten Kaffee konnte selbst die neue Nele nicht verzichten. Jeden Tag, auf dem Weg zur Bushaltestelle machte sie an der kleinen Bäckerei Halt, um bei Hans und Rosie vorbeizuschauen und ihren Spezialkaffee zu kaufen. Spezial deshalb, weil sie immer den großen Becher zum Preis von dem kleinen bekam und immer mit einem extra Schuss Sahne. Hans und Rosie waren ein älteres Ehepaar, das sehr gut mit Neles Großmutter befreundet war, bevor diese vor zwei Jahren verstarb. Früher hatte ihre Oma sie immer dorthin gebracht und während sie mit Hans und Rosie geredet hatte, hat die 10-jährige Nele sich mit Donuts vollgestopft. Die kleine Bäckerei ist außerdem der Ort gewesen, an dem sie ihre Liebe für Kaffee entdeckt hatte, also akzeptierte sie ihren morgendlichen Energieschub auch nur von dort. Das war das einzige was die neue und alte Nele noch gemeinsam hatten. An Tagen wie heute brauchte sie das besonders. Tage wie heute machten es ihr sehr schwer.

 

Wenn zum Beispiel ein unvorsichtiger Mann, der es sehr eilig hatte, sie mal wieder vom Weg ab drängelte und sie wie jetzt in eine Pfütze trat, wünschte sie sich oft die alte Nele zurück. Aber nur für einen kurzen Augenblick. Denn mit diesem Gedanken kamen auch alle schlechten Erinnerungen zurück, die sie auf keinen Fall mehr an sich heran lassen wollte.

 

Wenn sie also eigentlich aus dem tiefsten inneren schreien wollte, dem Mann zeigen wollte wie man sich benimmt, wie man sich entschuldigt und ihn dafür bezahlen lassen wollte ihre Schuhe ruiniert zu haben, dann sperrte sie dieses Verlangen weg. Sie lächelte und ging weiter. Sie schaute nicht einmal mehr zurück, wollte das Gesicht des Mannes nicht im Kopf behalten. Der arme unbekannte sollte nicht den Fantasien erleiden, die sie im Traum weiterhin heimsuchten. Es war krank. Viel zu krank. Und es machte ihren Kopf krank, noch weiter darüber nachzudenken.

 

Auf der anderen Straßenseite war nun das kleine Sparkassengebäude zu erkennen, in dem Nele arbeitete. Endlich ein Ort mit Dach, wo sie sich wieder aufwärmen und trocknen konnte.

 

Die meisten Menschen erfreuten sich nicht so sehr an der Arbeit, wie sie es tat. Es fiel ihnen einfacher sich darüber zu beschweren, doch Nele war sehr dankbar für ihre Arbeit und startete jeden Tag mit Freude. Sie wusste, es war nicht selbstverständlich einen so guten Job zu haben und außerdem nahm es all ihre Zeit voll und ganz in Anspruch, weshalb sie nicht einmal auf die Idee kommen konnte, sich mit falschen Dingen abzulenken. Und von diesem vertrauten Ort, der ihr diese Kraft gab, trennte sie nun nur noch eine Straße und eine Ampel.

 

Als diese endlich grün wurde, machte sich ein Lächeln auf Neles Gesicht breit. Nicht mehr lange und sie war nicht weiter diesem scheußlichen Wetter ausgesetzt. Mit schnellem Schritt überquerte sie die Straße und machte sich eilig auf den Weg zur Tür der Bankfiliale, damit sie diese hinter sich schließen und die Erinnerungen an die wahrscheinlich schlimmste Nacht ihres Lebens aussperren konnte.

 

Drinnen erwartete sie ein Duft von Desinfektionsmittel, den die Putzfrau hinterlassen hatte, sowie eine kühle Brise der Klimaanlage. Nele steuerte direkt auf ihren Schreibtisch zu und setzte sich als erste Aktion an die Heizung. Ein angenehm warmes kribbeln bahnte sich einen Weg durch ihren Körper und sie spürte, wie ihre Hände langsam wieder auftauten.

 

Ein wenig spät dran Frau Neumann“, ertönte die Stimme ihres Chefs, der nun vor ihrem Schreibtisch stand. Er blickte auf sie herab, wie sie am Boden an der Heizung saß und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Entschuldigen Sie Herr Walter…“, murmelte Nele, als sie sich bemühte so elegant wie nur möglich aufzustehen. Eleganz war jedoch noch nie ihre Stärke gewesen. Ihr Chef lächelte sie noch einmal belustigt an und ging dann weiter. Immer noch nicht wirklich trocken, setzte sich Nele nun auf ihren Stuhl und versuchte zu arbeiten. Doch irgendwie wollte es ihr nicht gelingen. Ihr Blick schwenkte immer und immer wieder zum Fenster und sie beobachtete das Wetter, was draußen tobte. Ihre Gedanken wanderten immer und immer wieder zu dieser einen Nacht. Normalerweise hatte sie es gut im Griff. Sie hatte sich damit abgefunden und dachte immer seltener an diesen schlimmen Moment. Doch dieses Wetter brachte genau das selbe Gefühl in ihr wieder auf, dass sie damals hatte. Und egal was sie versuchte, sie schaffte es nicht sich abzulenken.

 

Nach einigen Stunden unruhiger Arbeit, konnte Nele endlich Feierabend machen. Sie war seelisch total erschöpft und alles was sie wollte, war nach Hause gehen und schlafen. Schon ewig hatte sie ihre Arbeit nicht mehr so schnell verlassen, wie sie es heute tat. Doch auch der ganze Stress konnte sie nicht davon abhalten zum Friedhof zu gehen und dem Grab ihrer Großmutter einen Besuch abzustatten. Wie jeden Tag.

 

Nele hatte ihrer Großmutter so viel zu verdanken. Eigentlich alles. Und sie wusste sie hatte sie bitter enttäuscht. Manchmal war sich Nele nicht sicher ob es weniger die Liebe zu ihrer Großmutter war, die sie jeden Tag zum Friedhof zerrte, als die Schuldgefühle, die sie quälten.

 

Das Wetter hatte sich kein Stück verbessert, seitdem Nele heute morgen ihr Haus verlassen hatte. Ganz im Gegenteil, mit jeder Minute die verging, schien der Weltuntergang näher zu rücken.

 

Außer ihr war kein Mensch in der Nähe. Verständlich., aber als Nele den Friedhof wieder verlassen wollte, entdeckte sie etwas seltsames. Genau in der Mitte des Weges und unter dem Friedhofstor lag etwas, auf dem sich die Blitze am Himmel spiegelten. Von der Neugier getrieben, verschnellerte sie ihren Schritt, doch sobald sie am Tor ankam, machte sich ein ungutes Gefühl in ihr breit. Im ersten Moment konnte sie es sich nicht erklären. Dort, mitten auf dem Weg, lag ein Handy. Da das Friedhofstor einen großen, breiten, steinernen Torbogen besaß, hatte es bisher nur wenige Tropfen abbekommen. Doch wo zur Hölle kam es her?

 

Es war absolut nicht möglich, dass sie es übersehen hatte, als sie ankam. So blind konnte keiner sein. Es lag viel zu offensichtlich dort mitten auf dem Weg. Aber es war doch auch niemand hier gewesen, während sie an dem Grab ihrer Großmutter war. Der Friedhof war zwar recht groß, doch dass Grab nicht allzu weit vom Eingang entfernt. Hätte also jemand das Gelände betreten, wäre es ihr aufgefallen. Aber das war es nicht. Vielleicht auch nur ein Spaziergänger. Bei dem Wetter? Die logischste Erklärung war, dass Nele es einfach nicht mitbekommen hatte. Jemand musste es verloren haben. Das Handy sah neu aus und besaß nicht den kleinsten Kratzer. Man würde doch merken wenn man sein Handy hier auf dem Steinboden fallen lässt. Und das würde man dem Handy wohl in irgendeiner Art auch ansehen können. Naja, so etwas passierte nun manchmal. Ab und zu war es unerklärlich, dass ein Handy vom obersten Stock in den Keller fallen konnte, aber keinen Schaden hatte. Und manchmal hatte man seine Gedanken ganz wo anders und die offensichtlichsten Dinge fielen einem nicht auf und später fragte man sich: Wie? So etwas war hier wohl auch vorgefallen.

 

Endlich bückte sich Nele nach dem Handy, um es einzuschalten. Sie hoffte irgendeine Information auf dem Handy zu finden, dass ihr ein Hinweis auf den Besitzer liefern konnte. Kein Sicherheitspin. Seltsam. War sie sich doch sicher, dass heutzutage jeder von dieser Funktion Gebrauch machte. Doch als sie das Handy entsperrte, kam dieses unwohl fühlen zurück. Nur würde sie es nun nicht nur als unwohl beschreiben. Es war viel intensiver. Es war furchteinflößend, verstörend. Denn sie fand keine Informationen über den Besitzer. Alles was sie fand, waren Fotos. Von ihr selbst. Und nicht nur irgendwelche Fotos an die man heran kommen könnte, wenn man ihr auf den sozialen Netzwerken folgte, auch ganz private Bilder. Von Zuhause, von der Arbeit, von dem Weg zur Arbeit. Es war furchtbar sich diese Bilder anzusehen. Sie verspürte eine Kälte in ihrem Körper, wie noch niemals zuvor. Einerseits wollte sie nicht sehen, was noch alles auf diesem Handy drauf war, andererseits, musste sie es wissen und wischte also immer weiter durch die Galerie. Was ihr aber am meisten Angst machte, war das Bild, was sie nun für gefühlte fünf Minuten schon anstarrte. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper und Tränen bildeten sich in ihren Augen. Dieses Foto war gut zwei Jahre alt und nur kurz vor dem Moment aufgenommen worden, der ihr Leben in der nur schlimmsten Art geändert hatte, wie es wohl möglich war.

 

Und wem immer dieses Handy gehörte, der kannte ihr Geheimnis.

 

Nicht eine Sekunde länger konnte sie hier draußen bleiben. Sie steckte das Handy ein und rannte los. Nach Hause, wo sie sich einsperrte und erst mal in Tränen ausbrach. Es machte ihr Angst. Todesangst. Wer war dieser Mensch, der sie stalkte? Was wollte er von ihr? Und woher wusste er von dem Unfall verdammt nochmal?

 

Nele hatte das Gefühl kaum mehr atmen zu können, sie fühlte sich erdrückt von einfach allem. Der Situation und der Last, die sie so lange weggesperrt hatte. Die Wahrheit durfte niemals herauskommen. Das würde ihr ganzes Leben zerstören, alles was sie sich wieder aufgebaut hatte. Aber irgendwie musste sie auch herausfinden wem dieses Handy gehörte und wer ihr so was antat. Und die Person daran hindern, ihr Geheimnis zu verraten. Nur wie? Die Polizei war keine Option. Sie konnte keiner weitere Person so nah an die Geschehnisse dieser Nacht lassen. Sie blickte auf. Das erste mal seit circa zwei Stunden, in denen sie nur zusammengekauert an der Tür gelehnt gesessen und geweint hatte. Sie blickte direkt auf das gegenüberliegende Fenster und der Schock traf sie erneut wie ein Schlag in den Magen. So schnell sie nur konnte sprang sie auf und zog die Vorhänge zu, bis sie kurz darauf wieder alle Kraft verließ und sie zu Boden sackte. Und dann musste sie sich übergeben. Das war tatsächlich das Fenster, durch das eines der Fotos entstanden war. Ihr Stalker konnte sie also die ganze Zeit sehen. In ihren privatesten Momenten. Und das hatte er offensichtlich auch ausgenutzt. Was, wenn sie schon seit Jahren nicht mehr wirklich allein gewesen war, weil der Unbekannte sie stets beobachtet hatte?

 

Zu viele Gedanken durchquerten ihren Kopf, sie konnte sie überhaupt nicht mehr ordnen. Sie hatte keine Ahnung wie sie mit der Situation umzugehen hatte. Aber das Gefühl, dass sie verspürte, drohte sie von innen aufzufressen. Es war kaum zu ertragen. Ihr war kalt und schlecht und sie fühlte sich komplett machtlos. Die alte Nele in ihr drin schrie. Schrie so verdammt laut, dass Nele sich sicher war, dass es auch andere Menschen hören konnten. Mach, dass es aufhört. Du weißt wie. Mach, dass es egal wird. Mach irgendwas. Egal was. Nur bring diesen Schmerz ein Ende.

 

Eine weitere Stunde verging, in der Nele nur auf dem Boden lag und die Decke anstarrte.

 

Wie konnte sie das nicht gemerkt haben? Warum? Wer? Wie? Was? All die Gedanken und Fragen machten sie so durcheinander, dass sie sie überhaupt nicht mehr bewusst formulieren konnte.

 

Langsam richtete sie sich auf. Sie hatte überhaupt nicht gemerkt, dass sie die ganze Zeit in ihrem Erbrochenem gelegen hatte, doch als ihr dies wieder bewusst wurde, musste sie sich direkt nochmal übergeben.

 

Das half ihr in dieser Situation nicht unbedingt. Eigentlich machte es alles nur noch schlimmer, da es sie an alte Zeiten erinnerte. Manchmal stimmte es wohl, dass ihr Leben früher einfacher war. Ihre innere Stimme hatte nämlich recht, sie wusste, wie es aufhört. Es wäre einfacher, aber nicht besser. Wenn sie diese Situation überstehen wollte, dann musste sie einen klaren Kopf bewahren. Auch wenn sie sich sehr danach sehnte, einfach alles zu vergessen.

 

Nur für einen kurzen Augenblick vielleicht? Nein. Nein. Kurz gab es nicht. Und es gab auch nicht nur einmal. Es hieß ganz oder gar nicht. Und gar nicht war die richtige Entscheidung. Schwerer, aber richtig. Wenigstens dieses mal musste sie dagegen ankämpfen.

 

Nele stand auf und verschloss jedes einzelne Fenster in ihrer Wohnung. Sie stellte sicher, dass man nicht auch den kleinsten Spalt fand, um hinein zu sehen. Nun schien alles so düster, doch sie fühlte sich um einiges wohler. Dann setzte sie sich auf ihr Sofa, legte das fremde Handy auf den Wohnzimmertisch und schaltete den Fernseher an. Nachdem sie die letzten Stunden damit verbracht hatte sich Sorgen zu machen, wollte sie sich nun erst ein bisschen ablenken. Es war aber natürlich zu erwarten, dass das nicht wie geplant funktionierte. Ihr Blick wanderte ständig wieder zurück zum Handy. Sie musste einfach wissen, was noch alles darauf war, denn das, was sie bisher gesehen hatte, war noch lange nicht alles gewesen. Also schaltete sie den Fernseher wieder ab und das unbekannte Handy wieder ein.

 

Die selben Bilder wie zuvor. Und mehr, viel viel mehr. Diese Person, wer auch immer es sein mochte, war schon länger hinter ihr her als ein paar Tage oder Wochen. Es schien tatsächlich, als wurde Nele seit dem Tag des Unfalls verfolgt. Ihr wurde wieder schlecht, doch hielt sich zurück um sich nicht nochmal zu übergeben. Ihr Stalker war schon zwei Jahren lang die ganze Zeit bei ihr gewesen. Mit jedem neuen Bild, das sie sah, bestätigten sich ihre Befürchtungen.

 

Ihre Kopfschmerzen wurden so intensiv, dass sie Angst hatte, ihr Kopf würde platzen. Doch sie starrte weiter auf den kleinen Bildschirm. Ihre Augen brannten, als hätte sie sich Chili hinein gerieben, doch sie konnte sie nicht abwenden. Heute Morgen dachte sie noch sie wäre krank gewesen, die alte Nele. Im Gegensatz zu dem Handybesitzer war das aber komplett harmlos. Okay nicht harmlos. Aber was sie getan hat, war nicht geplant. Sie hatte auch andere Menschen damit verletzt aber es war ein Unfall. Das hier war Stalking. Der Sinn dahinter war es doch einer Person zu Schaden. Nach wie vor war ihre Angst riesengroß, doch langsam mischte sich auch ein wenig Wut hinzu. Wer war dieser gestörte Mensch?

 

Aus irgendeinem Grund, hatte sie nicht gemerkt wie sie müde wurde und eingeschlafen war. Das Dumme daran war nur, dass sie sich so auch keinen Wecker gestellt hatte und ohne die Sonne, die durch die verschlossenen Fenster nun mal nicht scheinen konnte, war es schwer zu erkennen wie viel Uhr es war. Ein Blick auf die Digitalanzeige ihres Radios zeigte es ihr dann. 16:54 Uhr.

 

Verdammt. Nicht nur hatte sie nun einen Fehltag, sondern auch noch unentschuldigt. Sie nahm ihr Handy zur Hand, um ihrem Chef zu schreiben, doch leider Griff sie nach dem falschen. Sofort kamen alle Erinnerungen wieder hoch, die sie doch fast schon wieder verdrängt hatte. Die Sorge um ihren Job schob sie also erst mal wieder bei Seite.

 

Als sie schließlich doch ihr Handy in die Hand nahm, sah sie nicht nur Nachrichten und verpasste Anrufe von ihrem Chef und ihren Kollegen. Einige, wahrscheinlich sogar die meisten, waren von Rosie und Hans. Jetzt fühlte sich Nele noch schlechter. Die beiden machten sich bestimmt sehr viele Sorgen um sie, da sie seit zwei Jahren noch nie ohne Bescheid zu sagen einfach nicht gekommen war.

 

Egal wie viel Angst sie hatte, das Haus zu verlassen, bei Hans und Rosie wollte sie heute wenigstens noch persönlich vorbeischauen. Ihr Stalker würde ihr um die Uhrzeit bestimmt nicht mehr auflauern. Hatte er sie die letzten Jahre einstudiert, rechnete er bestimmt nicht damit, dass sie die Arbeit verpasste und um fast fünf Uhr erst zu Hans und Rosie ging. Also war sie sicher. Oder?

 

Mit einem unguten Gefühl im Magen zog Nele sich an und machte sich bereit um zu ihrer Lieblingsbäckerei zu gehen. Doch als sie die Tür öffnete, fand sie völlig unerwartet ein Paket vor.

 

Für Nele Neumann

 

von L.

 

Wer war denn bitteschön L.? Die Neugier war mal wieder größer, also beschloss Nele erst das Paket zu öffnen und dann zur Bäckerei zu gehen. Das selbe Gefühl, das sie seit gestern schon so oft verspürt hatte, machte sich in ihr breit, als sie den Inhalt des Paketes erblickte. Ein Bild von ihr. Das Bild aus dieser Nacht. Und Drogen. Mehrere Heroinspritzen. Mit aller Kraft schleuderte Nele das Paket gegen die Wand. Ohne Zweifel stammte dieses Paket von der selben Person, der auch das Handy gehörte. L? L. Und diese Person kannte Nele wirklich erschreckend gut. Sie wusste von der Nacht und von ihren Problemen mit Drogen. Warum sonst würde man ihr dieses Paket schicken? Aber wer war es? Woher wusste die Person all das? Die einzige Person, die sonst noch dagewesen war, konnte unmöglich dahinter stecken… Aber L. L, wie Lennard…

 

Für einen Moment hatte sie tatsächlich Hoffnung, dass es Lennard sein könnte, das würde alles verändern. Vielleicht sogar alles besser machen, doch es war einfach nicht möglich. Fast in der selben Sekunde noch, schämte sie sich, dass sie kurz daran geglaubt hatte. Das war wohl die Intension ihres Stalkers, doch auf dieses Spiel würde sie sich nicht einlassen. Wie dumm das war. Jemand musste die Wahrheit kennen und wollte ihr damit einen Schrecken einjagen. Erfolgreich, aber auch nicht ganz so schlau. Als ob sie glauben würde, dass Lennard dahinter stecken würde. Die Sache war krank genug, aber bei dieser Aktion hat der Stalker versagt. Das glaubte sie nicht.

 

Trotzdem verstand sie es noch nicht. Wer könnte denn von all dem wissen und wie? Und woher wusste auch nur irgendwer von Lennard. Von ihrer Verbindung mit Lennard? Niemand war in dieser Nacht da gewesen und niemand, wirklich niemand, nicht einmal die Polizei, kannte die Wahrheit und wusste was dort passiert war. Wieso sollte also ihr Stalker Bescheid wissen? Vielleicht hatte er sie auch schon vorher gestalkt und wurde deshalb ein unbekannter Zeuge. Doch warum? Warum versuchte er sie jetzt und mit dieser Situation zu beunruhigen? Was gewann er sich daraus? Was erhoffte er sich? Was war seine Interesse an ihr? Oder an Lennard?

 

Die Fragen in ihrem Kopf gewannen schon wieder die Oberhand und verursachten massive Kopfschmerzen und starken Schwindel. Ihr Kopf konnte es einfach nicht verarbeiten. Die selben Fragen wie immer und keine Antwort. Eine unsichtbare Wand und eine große Hoffnungslosigkeit standen zwischen Nele und der Erklärung für all das.

 

Nebenbei beherrschte sie die Angst. So sehr sie auch versuchte einigermaßen ruhig zu bleiben, sie konnte dieses ungute Gefühl einfach nicht abschütteln. Was wenn ihr Stalker sie auch jetzt gerade beobachtete? Obwohl sie sich sicher war, alles abgeriegelt zu haben, blickte sie sich um. Zuhause war ein privater Rückzugsort und die Sicherheit, die man dort verspüren sollte, die hatte ihr Stalker ihr genommen. Wie sollte sie jemals wieder ruhig schlafen könne? Was wenn sie nicht nur durch Fenster beobachtet wurde? Was wenn ihr Stalker sich Zugang zu ihrem Haus verschaffen hatte? Was wenn er vielleicht sogar Kameras installiert hatte, um sie in jedem einzelnen Moment zu beobachten? Aber wenn er es schaffte unbemerkt ins Haus zu kommen, wie konnte sie sich dann sicher sein, dass sie jetzt gerade hier alleine war? Was wenn der Stalker genau in diesem Moment hier war? In ihrem Haus? Im Nachbarzimmer? Die Panik in Nele wurde immer größer, ihre eigenen Gedanken trieben sie an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Sofort stand sie auf und verließ in Windeseile das Haus.

 

Allein zu sein war gleichzeitig ihre größte Hoffnung und ihre größte Angst. Sie musste sofort in die Nähe einer Person, der sie vertraute, also nahm sie ihren Plan wieder in Angriff und lief zur Bäckerei von Hans und Rosie.

 

Nele liebes, was ist denn los?“ Rosie empfing sie direkt an der Tür und nahm sie in den Arm. Auf dem Weg war Nele in Tränen ausgebrochen, so erdrückend war ihre Angst geworden. Für einen Moment wollte Nele alles rauslassen, die ganze Wahrheit. Dann müsste sie mit dieser Situation nicht alleine umgehen. Doch bei all der Liebe, die Hans und Rosie für Nele empfanden, war sie sich sicher, dass dieses Geheimnis viel zu belastend war. Damit könnten sie nicht umgehen und Nele wollte sie auch gar nicht da mit hineinziehen.

 

Mir geht es heute einfach nicht so gut.“, brachte sie unter Tränen und mit zittriger Stimme hervor. Rosie schaute sie erst misstrauisch an, als hätte sie durchblickt, dass da mehr dahinter steckte. Doch sie stellte trotzdem keine weiteren Fragen und führte Nele an den kleinen Tisch, der in der Bäckerei stand. „Setzt dich Liebes und beruhige dich erst… Ich bring dir deinen Kaffee.“

 

Während Nele darauf wartete, dass Rosie zurückkam, blickte sie aus dem Fenster. Als sie sah, wie die Sonne sich langsam dem Boden neigte, wurde ihr plötzlich klar, dass sie keine Ahnung hatte wie es weiter gehen sollte. Bald würde Hans die Teigwaren wegräumen und Rosie die Theke abwischen und dann würden sie den Laden abschließen und nach Hause gehen. Dann war sie wieder allein. Sie konnte ja schlecht mit den beiden gehen. Was waren ihre Optionen? Alleine im dunkeln nach Hause gehen. Zurück in das Haus, in dem sie sich absolut nicht mehr sicher fühlte. Dort, wo vielleicht gerade in diesem Moment irgendein kranker Psychopath herumschlich und ihre Sachen durchwühlte oder die Aufnahmen betrachtete, die er mit versteckten Überwachungskameras gemacht hatte. Dahin zurückzugehen wäre doch auch geistesgestört. Natürlich waren es nur Spekulationen, aber es war doch nicht so abwegig? Nach dem gefundenen Handy und dem Paket? Warum sollte ihr Stalker nicht auch dazu in der Lage sein. Aber was hatte sie für eine Wahl? Draußen bleiben war keine viel bessere Idee. Der Typ, oder die Frau, könnte überall sein. Ein unbeschreiblich grausames Gefühl ohne Unterbrechung nachzudenken und trotzdem keinen Einfall zu bekommen, an welchem Ort auf dieser Welt man sich in Sicherheit bringen kann. Ein Gefühl der völligen Leere und Machtlosigkeit, genauso wie ein Gefühl, einfach nirgendwo hinzugehören. Einfach nicht mehr auf diese Welt zu gehören. Hilfe holen wäre einfacher. Aber irgendetwas blockierte sie. Sie konnte einfach nicht zulassen, das Menschen das von ihr wussten.

 

Dein Kaffee, Süße.“, ertönte Rosies Stimme neben Nele und riss sie so aus ihren Gedanken, dass sie aus Reflex losschrie. „Na hör mal, was bist du denn heute so schreckhaft.“ Nele nahm den Kaffee an und trank einen kleinen Schluck. „Es tut mir leid, Rosie. Ich habe heute höllische Kopfschmerzen… Verzeih mir.“ Mit einem Lächeln, das Mitgefühl ausstrahlte streichelte die alte Frau Nele über die Haare und setzte sich auf den Stuhl gegenüber. „Trink aus, dann wird es dir besser gehen. Und danach gehst du nach Hause und ruhst dich aus. Du siehst so fertig aus, dass sogar ich müde werde.“ Nele brachte ein müdes Lächeln über ihre Lippen und tat dann genau das, was Rosie ihr gesagt hatte.

 

Als sie sich auf den Weg zurück nach Hause machte, wurde ihr erneut ganz schlecht. Der Gedanke zurück zu gehen, machte ihr unglaubliche Angst, aber sie hatte bis jetzt noch keinen anderen Ausweg gefunden, also musste sie wohl. Es war schon spät und beinahe dunkel. Mit all ihren Ängsten und Gedanken in ihrem Kopf wurde der Heimweg zur puren Hölle. Ihr Kopf schmerzte, ihr war schwindelig und beunruhigend schlecht. Zwischendurch hatte sie das Gefühl, sich nicht mehr auf den Beinen halten zu können. Plötzlich wurde ihr schwarz vor Augen und sie verlor das Gleichgewicht. Gegen alle Erwartungen fiel sie allerdings nicht zu Boden, sondern wurde aufgefangen, bevor ihr Füße komplett den Kontakt zum Untergrund verloren. Im ersten Moment drehte sich in ihrem Kopf noch alles, doch dann schaffte sie es ihr Augen wieder zu öffnen und sie blickte direkt in das Gesicht ihres Chefs. „Frau Neumann, geht es ihnen gut?“ Nele versuchte sich aufzurichten, doch sie kam gegen ihren Schwindel nicht besonders gut an. „Gut, dass ich sie hier sehe. Ich wollte mich noch entschuldigen, dass ihr heute gefehlt habe. Ich-.“ Bevor sie zu ende sprechen konnte unterbrach Herr Walter sie. „Jetzt ist nicht der Zeitpunkt darüber zu reden Frau Neumann. Ich habe erwartet, dass es einen Grund für ihr unentschuldigtes Fehlen geben muss und jetzt sehe ich es selbst. Ich möchte nicht unverschämt sein, aber sie sehen überhaupt nicht gut aus. Was ist denn los? Haben sie eine Erklärung für das, was soeben vorgefallen ist?“ Nele dachte nach. Abgesehen von ihrem Stalker, der sie seit zwei Jahren, vielleicht länger, beobachtete und das sogar bei ihr zuhause und der Vergangenheit, die sie einzuholen drohte, wusste sie nicht was ihr fehlte und was ihren Zustand erklären konnte. Doch dann fiel es ihr ein: „Vielleicht der Kreislauf? Ich erinnere mich nicht mehr, wann ich das letzte mal gegessen habe. Ist bestimmt schon zwei Tage her.“ „Warum denn das?“, fragte ihr Chef, doch sie zuckte nur mit den Schultern. Ihr fehlte die Kraft, es zu erklären. „Nun gut.“, begann Herr Walter. „Ich begleite sie nun nach Hause und helfe ihnen etwas zu essen vorzubereiten. Sie scheinen dazu nicht so richtig in der Lage zu sein. Dann ruhen sie sich aus. Über alles geschäftliche reden wir, wenn es ihnen wieder besser geht.“ Nele schenkte ihm ein dankbares Lächeln und dann gingen sie los. In ihrem Haus angekommen, zeigte sie Herr Walter die Küche, der darauf bestand etwas zu kochen, während sie sich im Wohnzimmer auf das Sofa setzte und versuchte nicht erneut Ohnmächtig zu werden. Sie hatte das Gefühl, völlig neben sich zu stehen, doch ein Gedanke riss sie sofort aus ihrer Trance. Das Paket mit den Drogen. Unter keinen Umständen durfte ihr Chef das sehen. Sie waren zwar nicht von ihr, aber wie sollte sie das erklären? Es würde wie eine billige Ausrede einer Abhängigen klingen. Das wusste sie, da kannte sie sich aus. Das hatte sie schon einmal durchgemacht. Damals mit ihrer Großmutter. Die Enttäuschung in ihren Augen würde Nele nie vergessen und die Erinnerung daran versetzte ihrem Herzen heute noch einen Stich. Wie konnte mein Enkelkind, dass ich mit so viel Mühe großgezogen habe nur so tief abrutschen? Wie konnte sie so undankbar sein? Und nach der Nacht, sah sie in den Augen ihrer Großmutter nicht nur Enttäuschung, sie entdeckte auch Hass. Großmutter hätte es nie zugegeben, doch Nele konnte die Verachtung, mit der sie sie ansah, spüren. Und sie verstand das. Sie hasste sich selbst dafür. Und nur einen Tag später saß Nele neben ihrer Großmutter am Sterbebett. Ich verspreche dir, ich werde so etwas nie wieder tun. Bei meinem Leben Oma. Das gestern war das letzte Mal. Und sie hielt ihr Versprechen. Noch am selben Tag hatte sie alle Drogen entsorgt und kämpfte jeden Tag gegen ihre Sucht an. Es war erstaunlich, dass sie es ohne Therapie geschafft hatte. Sie war nicht ganz alleine gewesen. Eine Anonyme Entzugshotline hatte ihr geholfen, doch letzten Endes hatte sie es geschafft und nur das zählte.

 

Aber das war mal und jetzt musste sie das Paket verstecken. Mit einem hastigen Sprung, stand sie vom Sofa auf, wobei sie ihren Schwindel mal wieder unterschätzt hatte. Das Paket inklusive dem Inhalt schob sie unter das Sofa und packte noch eine Decke davor. Keine Sekunde zu früh, denn kurz darauf kam ihr Chef ins Wohnzimmer und brachte ihr die frisch gekochten Spaghetti. Der Mann übergab ihr mit einem freundlichen Lächeln den Teller. „Oh vielen, vielen Dank!“, sagte Nele und fing sofort gierig an das Essen in ihrem Mund zu schaufeln.

 

Falls nochmal irgendetwas sein sollte rufen sie mich einfach an. Ich mache mich dann aber jetzt auf den Heimweg. Und falls es ihnen nicht besser geht, nehmen sie sich ruhig auch morgen noch frei. Ich hätte sie gerne mit voller Energie zurück im Büro.“

 

Die beiden tauschten nochmals ein Lächeln aus und dann verließ Herr Walter erst das Wohnzimmer und dann das Haus.

 

Nele genoss ihr Essen, bis sie plötzlich ein Leuchten in ihrem Augenwinkel bemerkte. Es war ihr Handy. Nein, es war das Handy des Stalkers. Im ersten Moment wusste sie nicht, wie sie nun reagieren sollte, doch dann entschied sie sich doch recht schnell dafür, nachzusehen. Eine Nachricht. Schweiß brach an ihrem ganzen Körper aus und wieder dieses Gefühl der unerträglichen Kälte.

 

Eine neue Nachricht:

 

Ich weiß was du getan hast und heute wirst du dafür bezahlen.

 

Plötzlich ertönt ein Geräusch von der anderen Seite des Flures. Nele blieb der Atem weg. War noch jemand hier? „Herr Walter? Sind sie das? Sind sie noch da?“ Keine Antwort. Die Gänsehaut, die Kopfschmerzen, der Schwindel und die Übelkeit, alles kam auf einmal zu Nele zurück. Dann hörte sie Schritte, die immer lauter wurden, bis schließlich eine männliche Gestalt den Raum betrat.

 

Vor lauter Schreck atmete Nele einmal ganz tief ein, doch sie bekam keine Luft. Das konnte nicht wahr sein. „Lennard?“ Aber Lennard war tot. Es war doch unmöglich.

 

Der junge Mann trat näher und lächelte Nele an. Es war aber kein freundliches Lächeln. Dieses Lächeln strahlte geradezu aus, dass er wusste, dass er sie verstörte und dass es ihm gefiel. „Lange ist es her.“, flüsterte er, während er immer näher kam. „Zwei Jahre wenn ich mich recht erinnere. Mein Gedächtnis kann mich aber auch täuschen, denn ich hab mir anscheinend sehr hart den Kopf gestoßen.“ Er blieb kurz stehen und sah Nele mit ernstem Blick in die Augen. Sie saß immer noch sprachlos da und starrte den Mann mit Horror in den Augen an. Er fing wieder an zu lächeln und redete weiter: „Ja ja, du weißt das ja sicher noch. Oder doch nicht? Ich habe gehört die Drogen haben dir übel zugetan.“ Nele wollte so viele Fragen stellen, doch es kam kein Ton aus ihrem Mund heraus. Wie war das möglich? Wie konnte er hier sein? Sie hatte ihn doch selbst bluten gesehen. Sie hat ihn fallen gesehen. Und sie hat gesehen wie er aufschlug und sich nicht mehr bewegt hatte. Sie erinnerte sich an das, was vorher mal sein Kopf gewesen war und es war einfach unmöglich, dass er das überlebt hatte.

 

Weißt du es ist nicht fair. Es ist nicht fair, dass du so ein gutes Leben hast. Während meins die letzten zwei Jahre die absolute Qual war. Und es ist nicht fair, dass du einfach ungestraft davon kommst.“ Das gestörte Lächeln, dass zuvor noch seine Lippen verzierte, war nun komplett verschwunden. Aus seinen Augen sprachen nun der reine Hass und definitiv auch einen Hauch voll Wahnsinn. „Da ich der einzige bin, der weiß, dass du es warst, muss ich es in die Hand nehmen. Du sollst dafür bluten, Nele. Ich will dass du leidest. Schlimmer, viel schlimmer als das Leid, dann du mir zugefügt hast. Die letzten zwei Jahre habe ich nur gehofft endlich zu sterben, weil ich so gelitten habe aber ich konnte nicht aufgeben, bevor ich meine Rache hatte. Heute ist es soweit.“ In seinen Augen bildeten sich Tränen und es schien tatsächlich, als ob ihn irgendetwas sehr belastete. Kurz herrschte Stille. Dann trocknete er seine Tränen ab und führte den Monolog fort. „Die Sache, die mich am meisten gestört hatte, war, dass es dir egal war. Du bist drüber hinweg gekommen und das hätte niemals passieren dürfen. Hörst du Nele? Niemals hätte das passieren dürfen.! So egoistisch. Du hast nur an dich gedacht und daran, dass deine Zukunft nicht unter diesem Vorfall leidet. Und es macht mich so wütend-!“, er schlug mit seiner Faust heftig gegen die Wand, sodass Nele zusammenzuckte. „Dass du in zwei Jahren, in denen du jeden Tag auf dem Friedhof warst, nicht einmal das Grab deines Opfers besucht hast. Ich weiß nicht, hattest du Angst man könnte dich erwischen oder damit in Verbindung bringen?“ Erneut brachte er dieses gehässige Gelächter hervor. „Ach Nele, nur weil ich hier vor dir stehe, brauchst du aber nicht zu denken du wärst von deiner Schuld erlöst. Alles wäre gut und du hättest nie etwas böses getan. Das hast du. Wärst du einmal dort gewesen, an dem Grab, dann wäre dir aufgefallen, dass auf dem Grabstein nämlich nicht Lennard Klager steht. Ich lebe. Ich schon. Aber auf dem Grabstein steht ein andere Name, nämlich Aaron Klager.“ Wieder die Tränen. Hätte Nele nicht eine solche Todesangst, könnte sie vielleicht sogar Mitleid empfinden. „Gott Nele du kanntest mich überhaupt nicht. Okay, nur weil du Einzelkind bist und keine Eltern mehr hast, heißt es nicht, dass es jedem so geht. Ich habe eine Familie, die mich über alles liebt. Meine Mutter ist seit zwei Jahren komplett am Ende. Sie konnte sich nie erholen und es wird mit jedem Tag immer schlimmer. Jeden Tag verzweifelt sie mehr und zerbricht daran einen ihrer Söhne verloren zu haben.“ In Neles Kopf drehte sich alles. Sie versuchte zu verarbeiten, was er ihr erzählte, aber es machte für sie noch keinen Sinn. „Du hast gesagt du liebst mich und hattest keine Ahnung wer ich überhaupt bin. Du wolltest, dass wir es geheim halten. Keiner sollte von uns wissen. Hättest du mich wirklich gekannt, dann hättest du gewusst, dass es eine Person gibt, der ich alles erzähle.“ Was hatten seine Worte zu bedeuten? „Du weißt wie es ist, seine Großmutter zu verlieren, aber Geschwister zu verlieren ist ein Schmerz auf einem ganz anderen Level. Mensch, Nele, seinen eigenen Zwillingsbruder zu verlieren ist, als verliert man einen Teil von sich selbst. Du hast mich vielleicht nicht getötet, aber definitiv einen Teil von mir.“ Langsam fing Nele an zu verstehen. „Zwillinge…“, flüsterte sie kaum verständlich, die Angst beherrschte noch ihre Stimme. „Genau. Und das macht es alles nur noch viel schlimmer. Du bist einfach grundlos auf ihn losgegangen, weil du ohne Grund sauer auf mich warst! Er war an der Sache unbeteiligt und du hast ihn trotzdem getötet.“, Lennard hatte sich von ihr abgewendet, strahlte aber weiterhin etwas bedrohliches aus. „Hör zu, ich hatte keine Ahnung, dass du einen Zwillingsbruder hast.“ „Hatte.“, unterbrach er sie und drehte sich wieder zu ihr. Nele versuchte ruhig zu bleiben und atmete tief ein und aus. „Ich wusste es nicht. Aber es war ein Unfall und-“ Auf einmal machte Lennard einen großen Schritt auf sie zu und kam ihr gefährlich nahe. In seinen Augen brannte die Wut als er sie anschrie: „Nenn es nie wieder Unfall! Das sagt die Polizei auch und du machst es dir damit leichter. Aber es war kein Unfall! Wenn du aus freier Entscheidung Drogen nimmst, bist du auch dafür verantwortlich, was du in deinem Rausch anstellst. Und in keinem Universum ist das, was du getan hast ein Unfall gewesen! Du hast ihn die nassen Treppenstufen runter geschubst, hast ihn dann mehrmals mit dem Kopf gegen die Wand gestoßen und als er schon bewusstlos, vielleicht sogar tot war, hast du ihn über das Treppengeländer drei Stockwerke hinuntergestoßen. Nichts auf der Welt kann das als Unfall entschuldigen.“ Nele blieb still. Ihr Hals brannte, weil sie so sehr versuchte die Tränen zu unterdrücken, doch sie überströmten schon längst ihr ganzes Gesicht. „Sie haben Spuren von Drogen an seiner Kleidung gefunden, deine Spuren. Also hieß es er war auf Drogen. In seinem Rausch hat er die Treppenstufen übersehen. Er ist durchgedreht, hat sich selbst den Kopf gegen die Wand geschlagen und ist dann von alleine über das Geländer gesprungen. Kompletter Schwachsinn wenn du mich fragst. Aber wohl genug für die Polizei. Nicht aber für mich. Wir waren verabredet, ich wusste dass du es warst. Erst dachte ich okay, sie hat mich doch geliebt. Nach dem Rausch wird sie sehr darunter leiden, also lass ich sie in dem Glauben mich getötet zu haben. Aber… Es war dir egal. Ich habe dich jeden Tag beobachtet und jeden Tag kamst du damit klar. Also musste ich mir einen anderen Plan ausdenken um dich bezahlen zu lassen.“ Nele war mit der Situation in jeder Hinsicht überfordert. Er würde sie wahrscheinlich umbringen, wenn sie ihn nicht irgendwie beruhigen konnte. „Lennard… Es tut mir leid.“ „Halt dein dreckiges Maul, Nele!“, schrie er sie an. „Nach zwei Jahren kannst du dir deine Entschuldigung sonst wo hin stecken. Es ist zu spät. Du wirst leiden und es gibt nichts was du tun könntest um mich von diesem Plan abzubringen.“ Nele wurde bewusst, dass sie sich in einer aussichtslosen Lage befand. „Nimm das Paket.“ Da ihre Angst immer noch die Kontrolle hatte, tat sie, was er sagte. Sie stieß die Decke zur Seite und nahm das Paket unter dem Sofa hervor. „Die einzige Person außer dir selbst, die du je geliebt hast, war deine Großmutter. Und ich war da. An dem Tag ihres Todes im Krankenhaus und ich weiß,was du ihr versprochen hast. Und das Versprechen wirst du heute brechen.“ Der Schreck dieser Worte durchzuckte ihren Körper und sie stieß das Paket von sich. „Nein… Niemals. Bitte, bitte nicht.“, flehte sie und weinte. Wahrscheinlich hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie mehr geweint als in diesem Moment. Die jetzige Situation, die Belastung der letzten Tage, die Erinnerung an ihre Großmutter und an die schlimmste Nacht ihres Lebens waren zu viel für sie. „Oh es wird nicht allzu lange sein. Du gibst dir nämlich eine ordentliche Überdosis.“ Mit jedem Wort, das er sprach, trat er näher an sie heran und mit jedem Schritt spürte Nele wie die Kälte in ihrem Körper zunahm. „Aber vorher erklärst du natürlich die Wahrheit in einem Brief. Ich meine alles andere wäre ja viel zu einfach.“ Er drückte ihr einen Stift in die Hand und legte ein Blatt Papier auf den Wohnzimmertisch vor ihr. Da sie keine Ahnung hatte, was sie sonst tun sollte, fing sie an zu schreiben, was er ihr diktierte.

 

Es tut mir leid.

 

Damals, am 27. August 2018 war es nicht Aaron Klager, der auf Drogen war. Ich war es und ich habe ihn sowohl die Treppe hinunter gestoßen, gegen die Wand geschlagen und das Treppengeländer hinuntergestoßen. Ich habe Aaron Klager umgebracht. Ich dachte die ganze Zeit ich könnte damit durchkommen, doch jetzt ertrage ich es nicht mehr länger. Ich bin eine Mörderin. Und damit kann ich nicht mehr leben. Bevor ich mein Leben aber beende, soll die Wahrheit geklärt werden und hiermit diesem Brief erkenne ich mich schuldig.

 

Nele Neumann.

 

Sie legte den Stift weg und sah Lennard an. „Es ist wahr Nele, du bist eine Mörderin.“ Dann grinste er sie an und drückte ihr das Paket in die Hand. Erwartete er jetzt, dass sie einfach tat, was er verlangte? Eine Überdosis nehmen? Davon ging er doch nun nicht wirklich aus? Plötzlich packte er sie am Hals, nahm eine Spritze in die Hand und rammte sie ihr in den Arm. Dann ließ er sie los und sie konnte sich vor lauter Schock überhaupt nicht bewegen. Und sie spürte es. Sie spürte wie Drogen ihren Körper übernahmen und sie spürte, wie sie sich selbst und ihr Bewusstsein verlor. Erst versuchte sie dagegen anzukämpfen, doch es war hoffnungslos. Dann hörte sie ein seltsames Geräusch und sah verschiedene Farben von Lichter aufblitzen, bevor alles Schwarz wurde.

 

Nele öffnete die Augen und ihr strahlte helles Licht entgegen. Der Himmel? Nein. Als sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hatten, erkannte sie, dass sie sich in einem Krankenhauszimmer befand. Sie hatte überlebt? Wie war das Möglich? Die Tür öffnete sich und eine Krankenschwester trat in den Raum. „Willkommen zurück Frau Neumann. Wie geht es ihnen? Sie können von Glück reden, dass der junge Mann so schnell den Krankenwagen gerufen hat.“, sie lächelte und überreichte Nele eine Karte. „Hier, die wurde für sie da gelassen.“ Dann verließ die Krankenschwester den Raum wieder. Es machte keinen Sinn. Warum hatte Lennard versucht sie zu töten, dann aber doch den Krankenwagen gerufen um sie zu retten? Hatte er ein schlechtes Gewissen bekommen? Nele war kurz verwirrt, öffnete dann aber die Karte. Und das Gefühl kam zurück. Diese Kälte. Und dann kam die Angst, die Angst vor dem, was sie nun erwarten würde.

 

 

Zum Glück hast du überlebt Nele. Es wäre doch viel zu Schade, wenn du nicht mehr da wärst um die Auswirkungen deiner Taten live mitzuerleben…

 

Achso und sobald du wieder fit genug bist, wartet die Polizei auf dich:) Keine Angst, ich halte weiterhin ein Auge auf dich. Es ist Zeit der Welt dein wahres Gesicht zu zeigen.

 

-L

 

One thought on “Letztes Mal

  1. Toll! Das ist wirklich eine wunderbare Geschichte! Du hast den Spannungsbogen sehr weit oben gehalten und auch mit dem Ende nicht enttäuscht. Hier und da könnte es etwas mehr „flowen“ in deinem Schreibstil, aber all in all hat das wirklich Potenzial! Dran bleiben!:)

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