FranziskaLiebe mich!

Mit einem leisen Klicken fiel die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss. Es war ein anstrengender Tag im Büro gewesen und er hatte eigentlich nur noch schlafen wollen, als er den großen, braunen Umschlag entdeckt hatte, den jemand vor seiner Wohnungstür abgelegt hatte. Stirnrunzelnd drehte er ihn jetzt in seiner Hand, die Luftpolsterfolie, mit der der Umschlag ausgekleidet war, knisterte dabei. Wer auch immer ihn dort drapiert hatte, hatte keinen Namen auf dem Umschlag hinterlassen.

Interessiert riss er ihn auf. Nur ein kleiner Gegenstand lag darin. Ein Handy, kein sonderlich neues oder teures Modell und definitiv nicht seins. Wahrscheinlich hatte es jemand gefunden und ihn mit einem seiner Nachbarn verwechselt als er es zurückbringen wollte. Er ließ seinen Finger zu dem Einschaltknopf wandern und drückte ihn vorsichtig. Vielleicht konnte er herausfinden, wem es gehörte.

Nach ein paar Sekunden wurde der Bildschirm beleuchtet, als das Handy sich einschaltete. Er legte es kurz zur Seite um sich Jacke und Schuhe auszuziehen, die er noch immer anhatte.

Erst als er sicher war, dass sich das Telefon vollständig hochgefahren hatte, nahm er es wieder in die Hand und beleuchtete erneut den Display. Es war kein Pin notwendig um es zu entsperren, nur eine kleine Bewegung auf dem Bildschirm.

Seine Augen wurden groß, als er das Hintergrundbild entdeckte. Unwillkürlich hob er den Blick und ließ ihn durch seine Wohnung gleiten. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er sich zwang wieder auf das Handy in seiner Hand zu sehen.

Er kannte diesen Mann, der ihm von dem Hintergrund des kleinen Gerätes aus zulächelte. Er kannte die braunen, kurzen Haare, die grünen Augen, die markante Nase, die eigentlich ein wenig zu lang für sein Gesicht war. Er sah ein Foto von sich selbst.

Automatisch glitt sein Daumen über das Menü und öffnete die Galerie. Insgesamt 30 Fotos waren in dem Speicher vorhanden. Allesamt zeigten ihn. Beim Einkaufen in dem Laden um die Ecke; in dem Fitnessstudio, wo er sich vor kurzem angemeldet hatte; ein Foto zeigte ihn sogar telefonierend in seinem Auto an einer roten Ampel stehend. Das letzte Bild, das mit dem Handy aufgenommen wurde, zeigte ihn beim Verlassen seines Hauses. Und als er an sich herunter sah und seinen Anzug mit dem auf dem Foto verglich, war er sich sicher, dass es erst am heutigen Morgen aufgenommen worden war.

Sein Herz begann schneller zu schlagen. Vorsichtig sah er sich in seinem leeren Flur um. Es dauerte ein paar Sekunden bis er bemerkte, dass er die Luft angehalten hatte. Aber außer seinem eigenen Herzschlag, der ihm viel zu laut in den Ohren dröhnte, war alles um ihn herum still.

Seine Gedanken rasten, als er sich erneut dem Handy zuwandte. Mit schwitzenden Fingern schloss er die Galerie und durchsuchte den Inhalt auf einen Hinweis nach dem Besitzer. Doch bis auf die Fotos und eine eingespeicherte Telefonnummer ohne Namen, war der Speicher leer.

Seine Finger zitternden, als er die Nummer drückte, doch bevor er sie wählen konnte, zwang er sich selbst zum Durchatmen.
Wer auch immer ihm dieses Handy geschickt hatte, wollte ihm offensichtlich Angst machen. Und auch, wenn er noch nicht sicher wusste, ob die Situation ernst zu nehmen war oder es sich vielleicht um einen sehr schlechten Scherz handelte, sollte er nicht unüberlegt damit umgehen.

Diesen Gedanken im Hinterkopf, griff er in seine Tasche und zog sein eigenes Handy heraus. Dann öffnete er das Diktiergerät, legte es direkt neben dem fremden Handy auf die Kommode, atmete tief durch und als er erneut auf die unbekannte Nummer klickte und den Lautsprecher anstellte, als das Handy sie wählte, drückte er auf Aufnahme.

Ein lautes Tuten erklang aus dem Lautsprecher des fremden Handys. Sein Puls beschleunigte sich noch mehr. Seine Gedanken rasten, als er endlose Sekunden wartete, dass jemand seinen Anruf entgegennehmen würde. Es dauerte ganz genau 38 Sekunden, als das Tuten unterbrochen wurde. Kurz war es still, dann hörte er eine leise Stimme und er glaubte, sein Herzschlag würde aussetzen.

Hallo, Arschloch.“

Die Stimme gehörte einer Frau, sie klang jung und seltsam vertraut.

Bilder zuckten an seinen Augen vorbei. Blonde Haare, blaue Augen, ein breites Lächeln. Ihre langen Beine steckten in engen, dunkelblauen Jeans. Ihr rotes T-Shirt gab einen unwiderstehlichen Ausblick auf ihr Dekolletee preis. Sie war so schön.

Anna?“, hörte er sich selber fragen, bevor er seine Gedanken sortieren konnte. Es konnte nicht Anna sein. Es war unmöglich. Anna war vor vier Monaten gestorben. Aber die Stimme klang der ihren so ähnlich, dass er dachte, er telefoniere mit einem Geist.

Ein freudloses Auflachen am anderen Ende der Leitung, brachte seine Gedanken zurück zu dem Anruf. „Ich weiß, was du getan hast, Arschloch. Und du wirst dafür bezahlen.“ Dann trennte sie die Verbindung.

Er stoppte die Tonaufnahme nachdem er ein paar Sekunden gebraucht hatte um seine Gedanken zu sortieren. Dann nahm er sein Handy in die Hand und löschte die Aufnahme, die er als Beweis hatte sammeln wollen.

Wenn die Person wirklich sein Geheimnis kannte, konnte er keine Beweise brauchen, wenn er sich um das Problem kümmerte.

Unruhig wanderte er durch seine Wohnung, während er überlegte, was er als nächstes tun sollte. Wer auch immer diese Frau war, sie schien ihn offenbar seit einiger Zeit zu beobachten. Himmel, sie hatte Fotos von ihm gemacht. Er hatte es nicht bemerkt. Und auch wenn die Fotos ihn in ganz alltäglichen Situationen zeigten, fühlte er sich seltsam entblößt.

Von einem plötzlichen Schwindel erfasst, ließ er sich auf das Sofa in seinem Wohnzimmer fallen. Er legte das Handy auf den Tisch vor sich, schloss die Augen und rieb sich mit den Handballen über die Stirn.

Er bekam das Bild von Anna nicht aus dem Kopf. Sie war seit Monaten fort und er hatte das Gefühl gehabt sein Herz, das seit ihrem Selbstmord nur noch aus Scherben bestanden hatte, würde langsam wieder anfangen zu heilen. Jetzt schmerzte es wieder und zog an den frischen Narben.

Das Handy vibrierte laut. Mit einem Ruck setzte er sich auf und öffnete die Augen. Es war kein eingehender Anruf, es war nur eine Nachricht.

>> Gestehe. <<

Erneut lief ihm ein Schauer über den Rücken, als das Handy ein zweites Mal vibrierte. Seine Augen wurden größer, als er das Foto sah, das sie ihm geschickt hatte. Panik erfasste ihn und kroch durch seine Adern. Aus den Augenwinkeln meinte er eine Bewegung sehen zu können, als er aufsprang und zu dem Fenster lief.

Die Straße lag friedlich und verlassen da. Nirgendwo war ein Mensch zu sehen. Noch immer spürte er die plötzliche Panik in sich, als er erneut auf das Foto sah. Er sah sich selbst auf dem Sofa sitzen, mit dem Handy in der Hand. Es konnte erst ein paar Sekunden alt sein.

Ein Lächeln umspielte seine eigenen Lippen, als er beobachtete wie sie die Haustür hinter sich ins Schloss zog und dann mit selbstsicheren Schritten die Straße entlang ging. Ganz kurz, nur für eine Sekunde, wurde sein Blick unterbrochen als sich die Linse der Kamera schloss und erneut öffnete. Er folgte ihr mit der Kamera, wartete darauf ob sie sich noch einmal umdrehen würde. Er wurde nicht enttäuscht.

Ein leichter Wind wirbelte auf und brachte sie dazu stehen zu bleiben und ihr Gesicht in die Richtung des Windes zu drehen um sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen. Gleich darauf drehte sie sich wieder um und setzte ihren Weg fort. Weg von ihm. Doch die Sekunden hatten ihm genügt.

Zufrieden lächelnd senkte er die Kamera. Heute war ein guter Tag.

Es dauerte einige Zeit bis er sich wieder beruhigen und einen klaren Gedanken fassen konnte. Diese Frau wollte ihm Angst einjagen. Nun, das hatte sie geschafft. Aber wieso hatte er überhaupt Angst vor ihr? Wenn sie sein Geheimnis wirklich kennen würde, wäre sie doch schon längst zur Polizei gegangen. Und wenn sie weiter Fotos von ihm machen sollte, könnte er der Polizei jederzeit das Handy überreichen. Sie hatte ihm damit in die Hände gespielt.

Doch gerade als er sich mit dem Gedanken beruhigen konnte, verkündete das Handy zum 3. Mal den Eingang einer Nachricht und ließ damit keinen Zweifel daran, dass sie doch sein Geheimnis kannte:

>> Du hast Anna auf dem Gewissen. Gestehe! <<

Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass sein Warten bald ein Ende haben würde. Den ganzen Tag über war er unkonzentriert gewesen, während die Zeit nur so dahinzuschleichen schien. Um Punkt 18 Uhr stand er auf.

Es war still im Büro. Er war mittlerweile alleine hier. Fast alleine. Seine Angestellten hatten das Büro nach und nach verlassen und sich ins Wochenende verabschiedet. Mit einer geschmeidigen Bewegung stand er auf und ging um seinen Schreibtisch herum. Er strich den Anzug glatt, der sich samtig wie eine zweite Haut anfühlte. Das hier, die Büroräume die er für seine Kanzlei gemietet hatte, war sein Revier und hier fühlte er sich wohl. An der Tür verharrte er kurz um einen prüfenden Blick in den Spiegel zu werfen. Sein Aussehen war wie immer makellos. Mit sicheren Schritten trat er auf dem Flur und blieb zwei Türen weiter erneut stehen. Ohne zu klopfen öffnete er die Tür.

Anna saß am Schreibtisch. Das Fenster hinter ihr war zum Lüften weit geöffnet, die untergehende Sonne schickte ein paar Strahlen in den Raum und ließ Annas blonde Locken leuchten. Sie sah aus wie ein Engel, stellte er mit klopfendem Herzen fest.

Anna schien erschrocken zu sein, als sie zu ihm aufsah. Schnell breitete sich jedoch wieder ein Lächeln auf ihren Lippen aus. Sie war blass, bemerkte er mit einem Blick in ihr Gesicht. Das Lächeln erreichte ihre Augen nicht. Irgendwie wirkte es heute wie eine Maske.

Kann ich etwas für Sie tun?“ Ihre Stimme hatte ihre Melodie verloren. Er bemerkte es sofort, auch wenn sie sich bemühte sie wie immer klingen zu lassen.

Ist alles in Ordnung, Anna?“, fragte er anstatt eine Antwort zu geben. Die Frage veranlasste Anna zu einem Nicken. „Ja! Ja, natürlich“, sagte sie während sie aufstand. Er bemerkte, dass ihre schlanken Finger ihr Kleid glattstrichen, wie es seine mit seinem Anzug getan hatten. „Ich wollte nur noch ein wenig aufräumen, bevor ich in den Feierabend gehe.“

Sein Blick glitt über ihren Körper, über ihre ganze Erscheinung und nahm gierig jeden Millimeter davon in sich auf. Anna schien nervös zu sein. Ihre Finger spielten an dem Ring, den sie an ihrem rechten Ringfinger trug, während ihr Blick den seinen suchte. Mit einem Lächeln blickte er ihr in die blauen Augen. „Ich hatte gehofft, dass du noch hier sein würdest.“ Langsam, ganz langsam um sie nicht zu verschrecken, ging er ein paar Schritte auf sie zu. „Ich würde es schön finden, wenn wir uns ein wenig unterhalten könnten.“

Anna runzelte die Stirn und legte den Kopf ein wenig schief. Sie schien überrascht von den Worten, die einen so vertraulichen Klang hatten. „Unterhalten?“

Ich würde gerne wissen wieso du diesen Ring noch trägst, Anna“, mit einem Nicken deutete er auf den Ehering, mit dem ihre Finger immer noch spielten. „Es ist doch schon seit Monaten vorbei. Er war nicht gut für dich.“

Annas Blick glitt langsam zu ihrem Ring und zurück zu dem Mann ihr gegenüber. „Entschuldigen Sie, aber ich glaube nicht, dass das ein Thema ist, das ich mit meinem Chef besprechen möchte.“ Natürlich nicht.

Das hatte sie auch schon gesagt, als sie vor ziemlich genau drei Monaten ihm gegenüber an seinem Schreibtisch gesessen und ihn um einen Job gebeten hatte. Sie sagte nur, eine gescheiterte Ehe sei der Grund für ihren plötzlichen Neuanfang in einer anderen Stadt und hatte ihn dann gebeten nicht weiter nachzufragen, aus Respekt vor ihrem Privatleben.

Irgendwann in der Nacht war er in einen unruhigen Schlaf gefallen. Er war übermüdet, als der altmodische Wecker auf seinem Nachtschrank ihn am Morgen aus seinen Albträumen riss. Er war ein Geschenk von Anna gewesen. Langsam quälte er sich aus dem Bett und fuhr zur Arbeit.

Er war sich sicher, dass er sich heute nicht konzentrieren können würde und tatsächlich kreisten seine Gedanken die ganze Zeit um Anna und die fremde Frau. Er hoffte schon fast darauf, dass sie sich noch einmal melden und ihm verraten würde, wer sie war. Doch das Handy, das er in der obersten Schublade seines Schreibtisches verstaut hatte, blieb den ganzen Tag stumm.

Erst am Abend, als alle seine Angestellten bereits Feierabend gemacht hatten und die Kanzlei vollkommen verlassen war, summte erneut der Vibrationsmodus.

>> 29.06.2019, 18.21 Uhr <<

Annas Todeszeitpunkt. Dokumentiert von einer Überwachungskamera des Parkplatzes im Innenhof, die aufgezeichnet hatte, wie Anna in den Tod fiel. Oder eher ihren Aufprall zeigte, denn der 5. Stock in dem seine Kanzlei sich befand und aus deren Fenster Anna gesprungen war, war auf dem Video nicht zu sehen.

Es quälte ihn, als er an den schrecklichen Anruf der Polizei zurückdenken musste, die ihn gebeten hatte vorbei zu kommen um ihre Leiche zu identifizieren und die Büroräume aufzuschließen. Die Untersuchung war kurz gewesen. Es hatte zwar keinen Abschiedsbrief gegeben, aber es gab kein Anzeichen von Fremdeinwirkung und die Kollegen bezeugten, dass sie ängstlich und traurig über das Ende ihrer Ehe gewesen war. Selbstmord, hatte das offizielle Ergebnis gelautet und damit war Annas Leiche für die Beerdigung freigegeben, zu der er mit gebrochenem Herzen gegangen war. Bei der fast niemand außer ihrer Kollegen erschienen war. Außer ihrer Schwester.

Er respektierte sie. Vom ersten Moment an hatte er das getan. Er hatte sie angesehen, hatte die fast verheilten bläulichen Verfärbungen auf ihrem linken Wangenknochen entdeckt, die sie versucht hatte unter einer Schicht Make-Up zu verstecken und hatte nicht weiter nachgefragt. Und als sie ihm das erste Mal ihr unwiderstehliches Lächeln zuwarf, wusste er, sie waren perfekt füreinander. Er war der Prinz, der sie vor dem bösen Ritter beschützen würde, der ihr in ihrer Vergangenheit offenbar so viel Schmerz bereitet hatte. Er musste nur warten, bis sie das auch erkennen würde.

Anna hatte sich damit viel Zeit gelassen. Er respektierte auch das und bewahrte einen Abstand. Er schenkte ihr nur ab und an ein Lächeln, das sie immer bereitwillig erwiderte. Und als er das erste Mal ihr Lächeln ersterben sah, schenkte er ihr anonym Blumen um sie glücklich zu machen. Es schien zu helfen, denn die Blumen nahm sie mit Freuden und ließ sie so lange auf ihrem Schreibtisch stehen, bis auch die letzte verwelkt war. Als am Tag darauf erneut ein Strauß auf ihrem Schreibtisch stand, schien sie darüber nur kurz verwundert zu sein.

Er wartete lange und es fiel ihm zunehmend schwerer den Abstand zu wahren. Jedes Mal wenn er ihr Lächeln sah oder ihre fröhliche Stimme durch die Büroräume hallen hörte, wollte er ihr nahe sein. Um sie nicht zu verschrecken, sondern ihr weiter Zeit zu geben, begnügte er sich damit sie durch seine Kamera zu sehen. Er hatte sie sogar extra zu diesem Zweck gekauft. Seine Handykamera, mit der er die ersten Bilder geschossen hatte, genügte ihm nicht. Die Qualität der Bilder wurde Annas Schönheit einfach nicht gerecht.

Er bemühte sich sie in all ihrer Natürlichkeit einzufangen. Und als ihm das gelang und er ihr immerhin auf diese Art nahe sein konnte, genügte ihm das auch nicht mehr. Er wollte mehr. Doch Anna ließ sich immer noch Zeit.

Es war bereits mehr als ein Monat vergangen, als er ihr das erste Mal eine Email schrieb. Natürlich nicht mit seiner eigenen Adresse, damit sie sich nicht bedrängt fühlen würde. Als sie antwortete, fühlte er sich als würde er schweben. Er versuchte den Kontakt aufrecht zu erhalten, aber es dauerte nicht lange, da spürte er, dass Anna, die ihn anfangs wohl für einen Klienten gehalten hatte, sich von ihm abwandte. Die Antworten blieben aus. Und weil er sich so zurückgestellt fühlte und Anna offenbar nicht verstand, wie viel sie ihm bedeutete, schickte er ihr das erste Mal Fotos. Die Antwort kam ziemlich schnell und deutlich. Er hatte sie offenbar damit verschreckt.

Eine Woche später aber, er hatte Geburtstag, ließ sie ihn endlich spüren, dass er ihr auch wichtig war. Als er zur Arbeit kam, ein wenig später als gewöhnlich, denn er hatte wegen Anna kein Auge zubekommen, stand ein kleines Päckchen auf seinem Tisch. Darin war der Wecker. Ein Geschenk von Anna. „Ich habe bemerkt, dass Sie in letzter Zeit offenbar Schwierigkeiten mit dem Aufstehen haben“, hatte sie gewitzelt und dabei gelacht. Er genoss die seltenen Momente in denen sie so unbeschwert mit ihm sprach und sog jede Sekunde ihres fröhlichen Lachens in sich auf.

Bestärkt durch ihr Geschenk fing er an ihr jeden Tag zu schreiben. Doch Anna distanzierte sich wieder von ihm. Sie antwortete nicht und auch im Büro sah es so aus als wenn sie stückchenweise ihre Unbeschwertheit verlieren würde. Sie wurde blasser, wirkte gestresst, hektisch und lächelte nicht mehr so ausgelassen wie früher.

Es schien als würde er versagen. Offenbar schien der böse Ritter wieder in ihr Leben getreten zu sein und er musste sie doch retten. Wenn sie es denn nur zulassen und mit ihm reden würde. Langsam hatte er wirklich genug gewartet.

Meine liebe Anna“, sagte er mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, während er noch immer langsam, Schritt für Schritt, auf sie zu ging. „Ich möchte doch nur, dass du glücklich bist. Aber ich glaube nicht, dass er der Richtige dafür ist.“

Abrupt setzte er sich auf. Ihre Schwester, die Anna etwas ähnlich gesehen hatte und die vielleicht auch eine Ähnlichkeit in der Stimme hatte. Ihre Schwester, der Anna alles erzählt hatte, das hatte sie selbst gesagt.

Wie mechanisch drückten seine Finger auf die Wahlwiederholungstaste in dem Handy. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis jemand den Anruf entgegennahm. „Ich weiß, wer du bist“, begrüßte er die Person am anderen Ende. „Es tut mir wirklich Leid, wenn du Annas Selbstmord nicht verkraftest, aber es wäre besser, wenn du mich in Ruhe lassen würdest. Einem Anwalt zu drohen ist wohl die sicherste Möglichkeit um eine ganze Menge Leute gegen sich aufzubringen.“

Er konnte hören, wie die andere Person laut Luft holte. „Ich kenne Ihr Geheimnis. Ich weiß von den Fotos und den Blumen. Ich weiß, dass Sie Anna umgebracht haben.“

Ich habe Anna geliebt!“ Die Worte kamen lauter aus seinem Mund als er es beabsichtigt hatte. Er zählte in Gedanken bis zehn um durchzuatmen und sich zu beruhigen, bevor er weiter sprach. „Ich hätte ihr niemals etwas antun können. Komm vorbei und wir sprechen darüber. Von Angesicht zu Angesicht. Keine Drohungen mehr.“

Er konnte das Zögern der jungen Frau hören als sie schwieg, konnte durch das Telefon hören wie ihre Schritte von etwas widerhallten. Endlos lang kam ihm das Schweigen vor, bis er hörte wie sich eine Tür öffnete, zeitgleich durch das Telefon und in seinem Flur. Als er seinen Büroraum verließ und auf den Flur trat, blickte er in den silbernen Lauf einer Pistole und darüber in ein Paar blaue Augen. Annas Schwester ließ das Handy an ihrem Ohr sinken und beendete den Anruf, während sie ihm in die Augen sah.

Dann reden Sie darüber, warum Sie sie umgebracht haben, wenn Sie sie doch angeblich so sehr geliebt haben.“

Als er mit dem Bein gegen den kleinen Papierkorb stieß, der neben ihrem Schreibtisch auf dem Boden stand, blieb er abrupt stehen. Er sah nur kurz nach unten um zu wissen, gegen was er gestoßen war, als er stockte. Langsam glitt seine Hand nach unten und zog ein in buntes Einwickelpapier geknülltes Stück Grün aus dem Mülleimer. Es war ein kleiner Blumenstrauß. Drei einzelne Rosen zusammengefasst mit ein paar Grünen Blättern. Die Blüten fielen von den Rosen, als er den Strauß drehte. Die Stiele waren in alle Richtungen abgeknickt, anders hätten sie nicht in den Eimer gepasst. Sein Hals wurde trocken. Wieder spürte er die Wut in seinem Bauch aufsteigen, als er noch etwas anderes im Eimer sah. Ein kleiner Umschlag, der Annas Namen trug. Er war ungeöffnet. Sie hatte nicht einmal seine Karte gelesen.

Haben dir die Blumen etwa nicht gefallen?“, fragte er mit einem Knurren in der Stimme. „Hast du die letzten auch einfach weggeworfen? Interessiert es dich gar nicht von wem sie sind?“

Anna holte erschrocken Luft und wich einen Schritt zurück.

Sie sind von Ihnen.“ Es war keine Frage, nur eine fast lautlose Feststellung. Er konnte sehen, wie es hinter ihren schlauen Augen ratterte. Wie sie sein Gesicht mit den Emails, den Fotos und den Blumen in Verbindung brachte. Und als sie langsam begriff, was das bedeutete, machte sich Angst in ihrem Blick breit. Ihre Augen sahen eine Sekunde zur Tür, ihr möglicherweise einziger Fluchtweg. Nur, dass er zwischen ihr und der Tür stand.

All die Monate warte ich darauf, dass du zu mir kommst und mir endlich eine Chance gibst, Anna. Ich habe gewartet. So lange gewartet. Aber du -“, er warf die Blumen achtlos zurück in den Papierkorb, „ – du wertschätzt nicht einmal meine Geschenke.“

Ich… Es tut mir Leid…“, sagte sie mit zitternder Stimme, angesichts seines wütenden Blicks, der sich in sie zu brennen schien.

Kopfschüttelnd schob er das Handy in seine Hosentasche und hob dann ganz langsam die Hände um sie nicht zu verärgern.

Ich bin nicht verantwortlich für Annas Selbstmord“, sagte er ruhig, während es sich anfühlte als würde sein Herz vor lauter Klopfen aus der Brust springen.

Seine Gegenüber schnaubte verächtlich. „Es war kein Selbstmord! Dazu wäre sie überhaupt nicht fähig gewesen!“ Ein trauriger Ausdruck trat in die Augen der schönen Frau, als sie unbeabsichtigt die Pistole ein Stück sinken ließ. „Anna hatte Angst. Sie hat mir von den Emails erzählt, die Sie ihr geschrieben haben, sie hat mir die Fotos gezeigt, die Sie von ihr gemacht haben. Natürlich wusste sie nicht von wem sie waren. Aber als ich Sie auf ihrer Beerdigung gesehen habe, da wusste ich es!“ Ihr Blick klärte sich wieder und sie hob wie zur Bestätigung erneut die Pistole. „Ich habe die Trauer in ihrem Blick gesehen. Die Schmerzen, die ihr Tod in Ihnen verursacht hat. Sie waren es, der ihr eine solche Angst gemacht hat, richtig?“

Anna wich erneut einen Schritt zurück und brachte damit ihren Schreibtisch zwischen sich und ihn. Sie schloss für eine Sekunde die Augen um sich zu sammeln, dann sah sie ihn an. Sie reckte ein wenig das Kinn und straffte die Schultern, als sie versuchte die Angst aus ihrem Blick zu vertreiben. Es gelang ihr nicht. Aber als sie erneut sprach, war das Zittern aus ihrer Stimme verschwunden. „Ich wollte das alles nicht. Es tut mir Leid, wenn ich Ihnen falsche Signale ausgesendet habe. Ich hatte keine Ahnung, dass die Blumen und Emails von Ihnen sind. Ich dachte, sie kämen von jemand anderem.“

Von ihrem Exmann, der sie geschlagen und damit vertrieben hatte, dachte er grimmig. Die Wut in seinem Bauch steigerte sich, als Anna fortfuhr.

Ich bin nicht zur Polizei gegangen. Ich wollte niemandem Schwierigkeiten machen. Aber ich habe meiner Schwester alles erzählt. Sie kennt die Emails und die Fotos. Sie weiß wo ich bin. Sie wird sich Sorgen machen, wenn sie nichts mehr von mir hört.“

Ein freudloses Lachen kam aus seinem Mund und dröhnte in seinen eigenen Ohren. „Du denkst, ich würde dir etwas tun?“ Mit einem leichten Kopfschütteln ging er um den Tisch herum und war jetzt nur noch Schritte von Anna entfernt. „Anna, du bedeutest mir so viel. Ich würde dir niemals etwas tun. Aber du musst doch langsam verstehen, dass wir beide zusammen gehören!“

Anna schluckte schwer, er konnte die Bewegung an ihrem zierlichen Hals beobachten. Ganz kurz ging ihr Blick wieder zur Tür. Er konnte den Moment sehen, in dem sie den Entschluss fasste zu fliehen. Mit zwei schnellen Schritten war er bei ihr, während Anna noch in der Drehung war um in die andere Richtung um den Schreibtisch herumzulaufen. Er bekam ihre Hüfte und ihr rechtes Handgelenk zu fassen und drängte sie mit einer schnellen Bewegung in Richtung des geöffneten Fensters.

Er ließ sie los, als Anna dort zum Stehen kam, eingeengt zwischen ihm und der Wand hinter ihr. Panik blitzte in ihrem Blick auf, als sie versagte die Angst weiter niederzukämpfen. In ihren blauen Augen sammelten sich Tränen. Dieser Anblick brach ihm das Herz.

Ich sehe doch, was er für einen Schaden anrichtet. Wie weh er dir tut. Wie blass du geworden bist und wie deine Augen ihr Leuchten verlieren. Anna, ich passe auf dich auf. Wenn du mich nur lässt, dann verspreche ich dir, wird dir niemals wieder jemand Leid zu fügen.“

Annas Blick veränderte sich. Er konnte das Gefühl nicht ganz zuordnen, mit dem sie ihn nun ansah. Aber mit einem Mal waren die Tränen aus ihren Augen verschwunden. Sie schaffte es sich wieder ein Stückchen aufzurichten. „Er tut nichts dergleichen“, ihre Stimme klang überraschend fest als sie sprach. „Ich habe seit Monaten nicht mehr mit ihm gesprochen. Der Einzige, der mir weh tut und Angst macht, das sind Sie. Sie machen mir Angst mit den Fotos und den Emails und den Blumen. Ich wollte nichts davon. Ich habe keine Gefühle für Sie. Aber jetzt habe ich Angst egal wo ich hingehe, weil Sie offenbar ein Verrückter sind, der mich überall hin verfolgt.“

Er musste schlucken, als er ihren Blick erwiderte. „Es war nie meine Absicht ihr Angst zu machen“, gab er zu. Das war die Wahrheit. Er hatte immer nur gewollt, dass Anna ihn so lieben würde, wie er sie geliebt hatte. „Aber ich glaube, sie wollte mich nicht“, sagte er im geflüsterten Ton und ließ damit zu, dass sein Herz erneut brach.

Dieses kleine Geständnis reichte aus, um der Frau einen Wutschrei zu entlocken. Ihr Finger am Abzug zuckte gefährlich, doch er war schneller, nutzte den Moment ihrer Unachtsamkeit und griff mit beiden Händen nach der Pistole, während der den Lauf von sich wegdrehte. Tränen aus Zorn funkelten in ihren Augen, als sie ihn ansah und versuchte die Pistole wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. „Sie haben sie umgebracht. Sie haben mir meine Schwester genommen. Sie hat sie niemals gel-“, sie verstummte mitten im Satz als sich mit einem lauten Knall ein Schuss aus der Pistole löste. Ihre Augen wurden groß vor Überraschung und Schmerz, als sie die Hände an ihre Brust riss, auf der ein immer größer werdender, roter Kreis erschienen war. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis sie zu Boden kippte und reglos liegen blieb.

Mit keuchendem Atem blieb er über ihr stehen und brauchte ein paar Minuten, bis er den Notruf wählen konnte.

Es war Notwehr“, sagte er den eintreffenden Rettungskräften. „Sie hat versucht mich umzubringen.“ Mit diesen Worten überreichte er der Polizei das Telefon, das er gestern von ihr bekommen hatte. „Sie hat mir die Schuld am Selbstmord ihrer Schwester gegeben. Ich konnte ihr nicht mehr helfen.“

Erst als er ihnen den Rücken zukehrte, begann er zu lächeln. Welch glücklicher Zufall, dass sein Geheimnis nun doch ein Geheimnis bleiben würde.

Er war sprachlos, seine Gedanken rasten. Es dauerte einen Moment, bis er verstand, was sie ihm gesagt hatte. Anna nutzte seine Reglosigkeit aus und sprintete so schnell sie konnte an ihm vorbei in Richtung Tür. Er sah die Hoffnung in ihrem Blick, als sie schon fast neben ihm war, als Bewegung in seinen Körper kam. Mit Leichtigkeit griff er erneut nach ihrer Hüfte und zog sie zurück. Ein Schrei kam aus Annas Mund. Er hörte ihn kaum. Er hörte nur ihre Worte in seinem Kopf, immer und immer wieder, unterlegt von dem tosenden Geräusch seines Blutes, das in seinen Ohren rauschte. „Du hältst mich für verrückt?“ Er wollte nicht schreien, konnte sich aber nicht dran hindern. Die Wut war zurück.

Er hielt sie fest, hielt sie fest an sich gedrückt, während Anna schrie und versuchte mit ihren Fäusten auf ihn einzuschlagen. „Ich lege dir mein Herz zu Füßen und du hältst mich für verrückt?“

Mit einer Kraft, die ihm selber fremd war, stieß er sie von sich. Anna stolperte, eine halbe Drehung vollführend, von ihm. Mit klopfendem Herzen sah er, wie sie rückwärts mit der Hüfte gegen den niedrigen Fenstersims stieß. Ihre Hände griffen panisch ins Leere, als sie versuchte nach dem Rahmen zu greifen um Halt zu finden. Als sie das Gleichgewicht verlor und stumm nach hinten kippte, sah er in ihre weit aufgerissenen Augen in denen die Hoffnung starb.

3 thoughts on “Liebe mich!

  1. Hallo Franziska,
    deine Geschichte gefällt mir sehr gut. Es ist schon interessant, wie jeder die Vorgaben unterschiedlich umgesetzt hat. Die Idee mit dem Stalker finde ich klasse. Du hast es verstanden, die Spannung durchgehend zu halten. Auch wenn eigentlich ab Mitte der Kurzgeschichte alles klar war, habe ich sehr gerne und mit Vergnügen alles in einem Rutsch durchgelesen. Ein kleiner Wermutstropfen: die Formatierung hat mich etwas verwirrt.
    Liebe Grüße
    Angela

    PS: Wenn du magst: Meine Geschichte heißt „Stunde der Vergeltung“. https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/stunde-der-vergeltung

  2. Die Geschichte hat mir gut gefallen. Leider kann ich nicht immer all deine Gedankengänge nachvollziehen, da du aus verschiedenen Sichten schreibst und das für mich nicht immer ganz klar definierst.
    Das hat aber Potenzial! Dran bleiben! Das Ende fand ich besonders überraschend 😉

  3. Moin Franziska,

    eine wirklich gute Kurzgeschichte die du dir da ausgedacht hast. Die Rückblenden bzw. Gedanken als Stilmittel einzusetzen finde ich sehr gut, allerdings musst du dir hier noch was anderes einfallen lassen um den Leser nicht zu sehr zu verwirren. Vllt ne andere Typo oder fett, oder kursiv geschrieben?
    Für deine Geschichte und den Mut sie zu schreiben bekommst du von mir ein Like.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

Schreibe einen Kommentar