SinaRoseManipulierte Vergangenheit

 

                                          Manipulierte Vergangenheit

 

Es sah so harmlos aus. So alltäglich. Doch trotzdem veränderte das Handy, das ich plötzlich in meiner Handtasche fand, mein Leben auf eine dramatische Weise.

Aber es passte zu dem heutigen Tag. Als ob das Wiedertreffen mit meinem damaligen Arzt, der mich nach dem Unfall behandelt hatte, nicht schon genug gewesen sei. Nein, jetzt musste wohl auch auf irgendeine Art und Weise jemand sein Smartphone versehentlich in meine Handtasche gesteckt haben. Ich nahm das Handy, welches offensichtlich ein sehr altes Modell war, in meine Hand und überlegte noch kurz, bevor ich es anschaltete. Das konnte schließlich nicht schaden, es war ja bestimmt sowieso gesperrt und dann musste ich mir einen anderen Weg ausdenken, um es seinem Besitzer zukommen zu lassen. Doch zu meinem großen Erstaunen benötigte ich kein Passwort, sondern sollte nur über den Bildschirm streichen, um es zu entsperren. Ich haderte mit mir selbst, auf der einen Seite wollte ich die Privatsphäre des Besitzers nicht verletzen, aber andererseits könnte ich so vielleicht etwas über den Eigentümer herausfinden. Schließlich entsperrte ich das Handy und wünschte mir, es nicht getan zu haben.

Denn was ich in der bereits geöffneten Galerie sah, riss mir den Boden unter den Füßen weg.

Ich atmete stoßweise aus und ließ das Handy fallen. Das war unmöglich. Das war ein Fehler, das konnte nicht wahr sein. Ich musste mir das eingebildet haben. Zitternd hob ich das Handy auf, wobei es mir beinahe wieder aus den Händen glitt. Ich wagte es kaum, das Bild anzuschauen, aber ich hatte mich nicht geirrt. Auf dem Handy befand sich ein Bild von mir selbst. Ein Bild von mir in einer Situation, in der ich nie war und niemals sein konnte. Ich erkannte meine blonden Locken und meine etwas zu groß geratene Nase. Aber das Verstörende war, dass ich meinen kugelrunden Babybauch streichelte.Doch ich war seit dem Unfall vor elf Jahren unfruchtbar.

Ich konnte nicht aufhören, auf dieses Bild zu starren. Ohne es bewusst wahrzunehmen, sank ich in mich zusammen und kauerte schließlich nur noch auf dem Fußboden. Das war ein Irrtum. Jemand hatte sich einen schlechten Scherz mit mir erlaubt. Gerade als ich das Handy beiseite legen wollte und beschloss, dieses merkwürdige Bild zu vergessen, ließ mich ein heller Ton zusammenfahren. Es dauerte einige Sekunden, bis ich realisierte, dass der Ton von dem Handy, welches ich immer noch in der Hand hielt, stammte. Es war eine neue Nachricht eingegangen. Ich hielt die Luft an und drückte auf den Nachrichten-Button. Aber das verschlimmerte die ganze Situation nur noch. Wieder und wieder las ich die verstörenden Worte: „Es ist deine Schuld. Du sollst darunter leiden.“ Wer auch immer mir diese Nachricht geschickt hatte, wusste von meinem dunkelsten Geheimnis. Nachdem ich die Nachricht so lange anstarrte, bis das Handy von alleine ausging, beschloss ich, erneut die Galerie zu öffnen. Vielleicht gab es da ja noch weitere Bilder, die das Ganze erklärten.

Meine Hoffnung erfüllte sich teilweise: Es gab einen Ordner mit insgesamt 15 Bildern auf den Handy, aber diese anderen Bilder erklärten nichts. Im Gegenteil, sie sorgten dafür, dass ich mich fragte, ob ich mich überhaupt selbst kannte. Abgesehen von einigen  Bildern, auf denen ich schwanger war, gab es da auch noch die Bilder von mir mit einem kleinen Baby. Ich hielt es in meinen Armen und lächelte in die Kamera. Auf einem Bild war das Kind etwas älter, zwischen ein und zwei Jahren und ging an meiner Hand. Das kleine Mädchen sah mir lachend in die Augen. Wer war das? Ich hatte das Mädchen noch nie zuvor gesehen, da war ich mir sicher. Es konnte nicht meine Tochter sein. So sehr ich mir eine Familie wünschte, diese Chance hatte ich mir vor 11 Jahren selbst genommen.

Es geschah an einem Samstag. Meine Eltern und ich waren auf dem runden Geburtstag des Chefs meines Vaters eingeladen, der eine Stunde von uns entfernt wohnte. Als wir tief in der Nacht wieder zurück fahren wollten, hatten meine Eltern selbst zu tief ins Glas geschaut, um zu bemerken, wie betrunken ich war. Ich überredete meine Eltern dazu, mich fahren zu lassen, obwohl ich erst vor zwei Wochen meinen Führerschein bestanden hatte und seit den Fahrstunden nicht mehr auf der Autobahn war, schon gar nicht mit diesem Auto. Also setzte ich mich ans Steuer und drückte auf das Gas. Ich war zu schnell, als ich hinter einer Kurve auf ein Stauende stieß und verriss in meiner Not das Lenkrad. Das Auto kam von der Fahrbahn ab, flog über die Leitplanke und überschlug sich. Meine Mutter starb noch an der Unfallstelle, mein Vater erst im Krankenhaus. Ich kam schwer verletzt mit dem Leben davon und würde dafür niemals Kinder bekommen können. Die gerechte Strafe dafür, dass ich meine eigene Familie ausgelöscht hatte.

Nach dem Unfall begann für mich ein anderes Leben.  Nicht nur, weil ich mit der Schuld am Tod meiner Eltern leben musste, sondern auch, weil ich eine Amnesie wegen einer schweren Kopfverletzung davontrug. Große Teile meiner Kindheit waren weg, als hätte es sie nicht gegeben. Erst nach einer Weile kamen ein paar wenige verschwommene Bilder zurück, die, wie mein Arzt mir bestätigte, die einzige Erinnerung an meine Eltern darstellten.

Doktor Weber war meine erste Bezugsperson nach dem Unfall. Er hatte mich operiert und auf ihn hatte ich mich in der schweren Zeit im Krankenhaus verlassen könne. Doch trotzdem hatte das Wiedersehen mit ihm heute im Krankenhaus keine guten Erinnerungen geweckt. Denn dadurch wurde ich schmerzlich an meine Schuld am Tod meiner Eltern erinnert. Ich hasste Krankenhäuser sowieso und war froh, dass der Termin heute der letzte gewesen war. Es war mal wieder typisch für mein tollpatschiges Ich, dass ich beim Joggen vor einigen Wochen die dicke Wurzel im Wald übersah und mir diesen doofen Bänderriss zuzog. Inzwischen hatte ich zum Glück kaum noch Schmerzen, nur Joggen ging immer noch nicht. Jedoch hatte mir Doktor Weber heute bestätigt, dass auch das bald wieder möglich war. Ich wusste noch immer nicht, ob ich mich darüber freuen sollte oder nicht, dass er mich heute behandelt hatte, aber anscheinend musste der Arzt, der sich sonst um meinen Fuß gekümmert hatte, heute zu einem dringenden Notfall.

Ein Schlüssel, der sich im Schloss drehte, riss mich aus meinen Gedanken. Ich saß immer noch auf dem Fußboden und starrte auf den schwarzen Bildschirm des mysteriösen Smartphones. Blitzschnell stand ich auf, sodass mir kurz schwindelig wurde und schon stand Mona, meine Mitbewohnerin, in der Tür. „Hey Linda, na, alles klar?“, begrüßte sie mich. Ich nickte geistesabwesend und ließ das Handy wieder in meiner Handtasche verschwinden. „Sicher, dass alles gut bei dir ist? Du siehst so blass aus“, fragte sie besorgt und legte mir behutsam die Hand auf den Rücken. „Ja, alles gut. Ich habe nur einen anstrengenden Tag hinter mir“, erwiderte ich. Das war noch nicht mal gelogen. „Okay, also kann ich dich heute alleine lassen? Ich wollte nur kurz ein paar Sachen holen und dann bei Louis übernachten“, erklärte sie. Bei ihrem neuen Freund, wie jedes Wochenende. Ich hatte das Gefühl, dass ich meine Mitbewohnerin bald verlieren würde, aber darum wollte ich mir im Moment wirklich keine Gedanken machen.  „Ja klar, alles gut. Ich mache mir einfach einen entspannten Abend. Viel Spaß euch“, versuchte ich sie zu beruhigen und zwang mir ein Lächeln ab. „Danke. Dann bis morgen Süße“, lächelte sie und verschwand im Bad.

Ausatmend ging ich in mein Zimmer, wo ich mich sofort auf mein Bett schmiss. Ich schloss die Augen und versuchte nachzudenken, aber vor meinem inneren Auge liefen die Bilder von dem Handy wie in einem Film ab. So wurde das nichts. Ich gab mir einen Ruck und richtete mich auf. Der einzige Weg, dem Ganzen auf die Spur zu kommen, war logisches Denken. Es musste eine plausible Erklärung dafür geben, da war ich mir sicher. Am besten fing ich damit an, mir Gedanken darüber zu machen, woher das Handy kam. Wo war ich denn heute überall? Erst in der Augenarztpraxis, in welcher ich am Empfang arbeitete. Da hätten Dutzende Menschen das Handy in meine Tasche fallen lassen können, weil das Schloss an meinem Spind defekt war und ich deswegen meine Tasche die ganze Zeit über in meiner Nähe stehen hatte. Davor und danach war ich mit der U-Bahn gefahren. Wie jeden Freitagnachmittag war gefühlt ganz München unterwegs und auch dort hätte jemand sein Handy unbemerkt in meine Tasche stecken können. Ich seufzte. Das war eine Sackgasse, so kam ich definitiv nicht weiter.

Ich besah mir das Smartphone noch einmal genauer. Es war wirklich ein sehr altes Modell. Die Bildschirmhintergründe waren systemeingestellt und auch sonst gab es keine Hinweise auf den ursprünglichen Besitzer. Es war keine einzige App installiert, außer den Bildern und der Nachricht war auf dem Handy rein gar nichts.

Nur bei einem war ich mir inzwischen sicher, auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte: Jemand hatte es auf mich abgesehen. An einen Zufall konnte ich nicht mehr glauben, vor allem nicht nach der Nachricht. Jemand wusste von meinem Geheimnis. Dabei hatte ich niemandem von dem Unfall erzählt, nicht einmal Mona. Bei dem Gedanken lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Aber wer? Vielleicht einer meiner Ex-Freunde? Viele waren das nicht. Erst freuten sich alle darüber, dass man beim Sex nicht verhüten musste, wenn ich die Lüge von  meiner angeborenen Unfruchtbarkeit auftischte. Aber sobald es ernster wurde hauten alle ab. Ein Kind zu adoptieren kam für niemanden infrage und dann war ich als Partnerin eben nutzlos. Ich seufzte.

Mona so glücklich mit ihrem Louis zu sehen, versetzte mir einen Stich. Obwohl ich ihn doch etwas merkwürdig fand. Immer wenn Mona ihn mitbrachte, redete er kaum ein Wort und schaute sich schüchtern um. Dabei war Mona ein sehr lebensfroher und euphorischer Mensch. Ich wusste nicht, was sie an dem Typen fand, der weiß wie die Wand war, weil er den ganzen Tag nur vor seinem Computer hockte. Entweder aufgrund  seiner Arbeit als Fachinformatiker oder wegen irgendwelchen Computerspielen. Plötzlich kam mir ein Gedanke, den ich sofort wieder verwarf. Ich könnte Louis fragen, ob er sich das Handy mal anschaute. Vielleicht würde er irgendetwas über den Besitzer herausfinden können. Außerdem könnte er sich die Bilder anschauen und herausfinden, ob diese mit Photoshop verändert würden. Aber ich hatte bis jetzt kaum ein Wort mit Louis gewechselt und kannte ihn so gut wie gar nicht. Davon einmal abgesehen wollte ich auf gar keinen Fall, dass Mona von der Sache Wind bekam. Ich wollte sie da nicht mit reinziehen und außerdem hatte sie die Angewohnheit, durch ihre spontanen Aktionen viel Schaden anzurichten. Andererseits war Louis im Moment die einzige Möglichkeit, vielleicht etwas Klarheit in dieses Chaos zu bringen. Ich beschloss, morgen weiter darüber nachzugrübeln. Vielleicht ergab sich eine passende Situation und wenn nicht, dann hatte sich das Ganze sowieso erledigt. Ich stand seufzend auf und ging zum Kühlschrank, um noch eine Kleinigkeit zu essen, bevor ich mich bettfertig machte.

Wie erwartet konnte ich keinen Schlaf finden. Zu viele Fragen schwirrten in meinem Kopf herum. Woher kam das Handy? Wie kamen diese Bilder darauf? Hatte ich ein Geheimnis, von dem ich selbst nichts wusste? Und die wichtigste Frage: Wer hatte es auf mich abgesehen? Es war weit nach Mitternacht, als ich in einen unruhigen Schlaf fiel.

Nach einigen verwirrenden Träumen wachte ich schließlich klitschnass geschwitzt auf. Ich sah auf meinen Wecker. 6:48 Uhr. Na toll, es war Samstag und ich war in aller Frühe wach. An Schlafen war aber nicht mehr zu denken, also stand ich seufzend auf, schlurfte in die Küche und machte mir erst einmal einen Kaffee. Direkt waren meine Gedanken bei dem mysteriösen Handy. So konnte das nicht weitergehen, ich musste der Sache auf die Spur kommen. Ich sah nochmal auf das Smartphone, es war aber keine weitere Nachricht eingegangen. Sollte ich etwas zurück schreiben? Der Gedanke kam mir erst jetzt. Bevor ich das Ganze durchdacht hatte, war die Nachricht auch schon geschickt: „Was willst du?“ Den ganzen Vormittag konnte ich an nichts anderes denken und checkte gefühlt alle 30 Sekunden den Nachrichteneingang. Aber niemand schrieb zurück. Als ich die Hoffnung schon fast verloren hatte, ließ mich ein schriller Ton zusammenfahren. Ich hielt die Luft an, während ich die Nachricht las. „Du hast mein Leben zerstört. Dafür sollst du büßen.“

Fassungslos starrte ich den Bildschirm an. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Bevor ich die grauenvolle Nachricht überhaupt halbwegs verarbeitet hatte, hörte ich Lachen im Flur. Im nächsten Moment stand Mona in der Wohnung und hinter ihr: Louis. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Das wurde einfach alles zu viel für mich. „Hey Linda, na, geht es dir besser?“, fragte Mona. Ich zuckte mit den Schultern: „Geht so. Die Nacht war nicht so besonders.“ „Hm, was machen wir nur mit dir?“, sie zog einen Schmollmund. Doch dann begannen ihre Augen zu leuchten. „Ich weiß! Wir machen Pancakes, die liebst du doch so! Ich kaufe nur schnell die Zutaten, bin sofort wieder da!“, rief sie aufgeregt und war schon halb im Flur verschwunden, als ihr Louis Anwesenheit einfiel.

„Ach Louis, sei so lieb und schau dir doch in der Zwischenzeit mal meinen Drucker an, du weißt, der funktioniert irgendwie nicht mehr so wirklich“, mit diesen Worten war sie weg. Louis sah mich hilflos an, zuckte mit den Schultern und verschwand ohne ein Wort in Monas Zimmer. Unschlüssig stand ich im Wohnzimmer, noch immer hielt ich das Handy in der Hand. Sollte ich Louis danach fragen?

Ehe ich mich versah, hatte ich auch schon an Monas Zimmertür geklopft und betrat den Raum. Louis war brav mit Monas Drucker beschäftigt und sah mich erstaunt an. Obwohl, sein Blick war fast schon fassungslos, was mich etwas stutzig machte. „Hey Louis, ich weiß, das mag jetzt alles ein bisschen komisch rüberkommen, aber ich habe ein Problem und ich glaube, du könntest mir helfen“, begann ich vorsichtig und näherte mich dem blassen Mann. „Irgendjemand hat mir dieses Handy untergejubelt und ich würde gerne herausfinden, wer es auf mich abgesehen hat. Denn es befinden sich Bilder auf dem Handy, die unmöglich real sein können“, ich öffnete die Galerie und zeigte ihm ein Bild, auf dem ich schwanger war. Er hob erstaunt die Augenbrauen. „Könntest du dir das vielleicht mal ansehen? Du kennst dich  ja damit aus. Vielleicht findest du etwas über den Eigentümer heraus oder könntest mir sagen, ob die Bilder bearbeitet worden sind…“ Zu meinem Erstaunen lächelte Louis tatsächlich. „Ja klar, gib her. Ich benutze einfach Monas Computer, das lässt sich schnell herausfinden.“ Etwas perplex überreichte ich Louis das Handy. Er besah es sich genau, scrollte durch die Bilder und rief dann die Einstellungen auf. Weiter konnte ich ihm nicht zusehen, da ich schon wieder die Haustüre hörte. „Ich lenke Mona mit den Pancakes ab, okay?“, fragte ich unsicher. Louis nickte abwesend, er war anscheinend sehr in seine Arbeit vertieft. Ich atmete tief durch und ging dann zu Mona in die Küche. „Louis hat noch mit dem Drucker zu tun, scheint was Größeres zu sein“, log ich gezwungenermaßen. „Okay, dann machen wir das hier eben zu zweit“, lachte sie.

Ich konnte mich kaum auf das Zubereiten der Pancakes konzentrieren. Dauernd vertauschte ich die Mengenangaben der Zutaten und ließ schließlich auch alles anbrennen. „Ach Linda, du bist echt neben der Spur, hm?“, fragte Mona besorgt. Ich winkte müde ab. Als alles fertig und der Tisch gedeckt war, rief Mona Louis zum Essen. Dieser kam kurze Zeit später aus Monas Zimmer und setzte sich an den Esstisch. „Der Drucker ist repariert, du hattest nur einen Papierstau verursacht“, berichtete er. „Danke Schatz“, Mona fiel Louis um den Hals. Wenigstens fragte sie nicht nach, warum er dafür dann so lange gebraucht hatte. Ich hatte zwar gar keinen Appetit, aß anstandshalber aber ein paar Bissen. Als ich Mona bei dem Abräumen des Tischs helfen wollte, hielt mich Louis zurück. „Keine Ahnung, wem das Handy gehört. Abgesehen von den Bildern hat er keine Spuren hinterlassen. Aber ich bin mir sicher, dass die Fotos nicht verändert wurden. Sie sind real“, mit diesen Worten gab er mir das Handy zurück. Fassungslos starrte ich ihn an, doch bevor ich etwas erwidern konnte, kam Mona aus der Küche zurück. Sie blieb wie erstarrt stehen, als ihr Blick auf die Wanduhr fiel. „Oh verdammt, schon so spät! Louis, komm, wir müssen sofort los, wenn wir noch ins Fußballstadion gelassen werden wollen“, rief sie und ehe ich mich versah, hatten die beiden die Wohnung verlassen. Beim Gehen beteuerte Mona, wie leid es ihr tue, dass ich jetzt alles aufräumen müsse. Aber das war jetzt definitiv meine geringste Sorge.

Nicht bearbeitet. Real. Das durfte nicht wahr sein, das konnte schlicht und einfach nicht wahr sein.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, ehe ich mich aus meiner Schockstarre löste. Wörter wie „deine Schuld“, „Leben zerstört“ und „nicht bearbeitet“ schwirrten durch meinen Kopf. In welchem Albtraum war ich hier bloß gefangen? Wie kam ich da wieder raus? Ich wusste einfach nicht mehr weiter. Jetzt konnte ich mir selbst nicht mehr trauen. Der Gedanke, dass irgendjemand da draußen Dinge über mich wusste, von denen ich nichts ahnte, ließ mich erschaudern. Nach stundenlangem stillem Verzweifeln beschloss ich, die Sache jetzt erst recht in die Hand zu nehmen. Ich musste herausfinden, wem das Handy ursprünglich gehörte und was dieser Jemand von mir wollte.

Aber wo sollte ich beginnen? Ich stand auf und vernahm einen leichten Schmerz in meinem Fußgelenk. Im Krankenhaus. Der Gedanke durchschoss meinen Kopf wie ein Blitz. Ich musste im Krankenhaus nach Antworten suchen.Mein mysteriöser „Feind“ wusste von dem Unfall damals und da ich absolut niemanden davon erzählt hatte, musste es irgendwas mit diesem Ort auf sich haben. Auch wenn ich immer noch keinen blassen Schimmer hatte, wessen  Leben ich zerstört haben sollte, abgesehen von dem meiner Eltern. Außerdem hatte ich gestern wegen meinem Fuß ins Krankenhaus gemusst, vielleicht war dort das Handy in meine Tasche geraten?

Ich hasste Krankenhäuser. Der Geruch nach Desinfektionsmittel, alles in Weiß, der Schmerz und das Leiden in den Gesichtern der Menschen. Mein Plan hatte bis jetzt funktioniert, ich war hier. Aber jetzt? Ich hatte keinen blassen Schimmer, was ich nun auf meiner Suche nach Antworten unternehmen sollte. Überall war so viel Trubel, ich kam mir völlig fehl am Platz vor. Nachdem ich einfach meinem Bauchgefühl gefolgt war, sah ich plötzlich ein Schild vor mir: „Intensivstation“. Hier war ich nach dem Unfall völlig desorientiert aufgewacht. Hilflos stand ich vor der Tür, als ich eine warme Stimme hörte: „Kann ich Ihnen helfen?“

Erschrocken zuckte ich zusammen und sah mich um. Vor mir stand eine lächelnde Krankenschwester. Ich wollte schon dankend abwinken, als ich es sah. Es waren ihre Augen. Ich kannte sie. Erst hatte ich sie wegen ihrer Falten nicht erkannt, aber die stechend grünen Augen waren unverkennbar. Diese Krankenschwester hatte mich nach dem Unfall behandelt. Sie sah mich erwartungsvoll an. Ich holte tief Luft, nahm all meinen Mut zusammen und sagte: „Ähm ja, ich glaube schon. Ich bezweifle, dass Sie sich an mich erinnern können, aber meine Krankenakte müsste noch hier sein. Vor elf Jahren war ich wegen einem schweren Unfall hier und im Moment geschehen merkwürdige Dinge um mich herum, die damit etwas zu tun haben könnten. Da Sie mich damals unter anderem behandelt haben, hoffte ich, dass Sie mir vielleicht irgendwie weiterhelfen können.“

Ich wusste nicht, ob es meine Erklärung oder mein hilfloser, verzweifelter Blick war, der die Krankenschwester überzeugte, jedenfalls erwiderte sie: „Im Moment ist es hier sowieso sehr ruhig, also sehen wir uns doch mal nach Ihrer Akte um.“ Erleichtert folgte ich ihr in eine Art riesiges Büro, in dem sich ordentlich sortiert unzählige Mappen befanden. „Wie heißen Sie denn?“, fragte die Frau. „Linda Richter.“ Nach kurzem Suchen wurde die Krankenpflegerin fündig. Sie überflog die Mappe, während ich versuchte, ihr heimlich über die Schulter zu schauen. Ich wusste, dass dies nicht für meine Augen bestimmt war, aber eine handschriftliche Bemerkung auf einem gelben Klebezettel  machte mich stutzig. „Patientin auf gar keinen Fall Informationen zu Unfall und Vergangenheit geben!!!“ Erschrocken wich ich einen Schritt zurück. Was hatte das nun wieder zu bedeuten?

Glücklicherweise hatte die Krankenschwester nicht bemerkt, dass ich etwas aus der Mappe gelesen hatte. Wenige Augenblicke später schlug sie diese nämlich zu: „Ja, Frau Richter, ich kann mich vage an Sie erinnern. Was wollen Sie denn nun von mir wissen?“ Ich wusste nicht, ob ich ihr vertrauen konnte und entschied mich erstmal dagegen, ihr die ganze Wahrheit zu erzählen. „Ich habe unter anderem Bilder von mir in alten Fotobüchern gefunden, die mich in Situationen zeigen, in denen ich ganz sicher noch nie war“, erklärte ich unsicher. Die Reaktion der Krankenschwester traf mich völlig unvorbereitet. Sie sah mich mit vor Schreck geweiteten Augen an und flüsterte: „Sie wissen also immer noch nichts von…“, erschrocken über ihre eigenen Worte schlug sie sich die Hand vor den Mund. „Verdammt, ich habe nichts gesagt. Entschuldigen Sie mich bitte, aber ich muss dringend zu einem Patienten.“ Ohne ein weiteres Wort verließ die Krankenschwester stürmisch den Raum. Keine Sekunde später wurde ich von einer weiteren Pflegekraft gebeten, das Zimmer mit den ganzen Krankenakten zu verlassen.

Ich wusste nicht, wie lange ich schon in diesem Wartebereich saß, aber es war auch völlig egal. Zweimal wollten mich andere Wartende in ein Gespräch verwickeln, aber ich konnte mich ja kaum auf meine eigenen Gedanken konzentrieren. Zu viel schwirrte in meinem Kopf umher. Seit der Zeit nach dem Unfall war ich nicht mehr so verzweifelt gewesen. Scheinbar wusste nicht nur der Besitzer des Handys, sondern auch die Krankenschwester von vorhin mehr über mich als ich selbst. Aber was sollte ich unternehmen? Niemand konnte mir helfen. Das untätige Herumsitzen machte es aber auch nicht unbedingt besser. Seufzend verließ ich meinen Platz und  machte mich durch den grauen Nieselregen auf den Heimweg. Als ich an einer Apotheke vorbeikam, fiel mir ein, dass ich immer noch ein Rezept über eine bestimmte Salbe für meinen Fuß mit mir herumtrug. Ich suchte das Rezept in meiner Tasche und betrat die Apotheke. Trotzdem sollte ich die Creme heute nicht mehr erhalten.

Es war die Unterschrift. Irgendwas ließ mich an ihr stocken, als mein Blick sie flüchtig streifte. Ich nahm die Worte der Apothekerin kaum war, während ich wie versteinert mit dem Rezept in der Hand stehenblieb. Die Handschrift. Sie kam mir bekannt vor. Ich hatte sie heute schon einmal gesehen. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Der Notizzettel auf meiner Krankenakte. Das wurde von dem gleichen Arzt geschrieben, von Doktor Weber, dem Arzt, der mich nach dem Unfall behandelt hatte.

Atemlos kam ich wieder am Krankenhaus an. Mein Fuß nahm mir den Sprint sehr übel, der pulsierende Schmerz zog sich das gesamte Bein hinauf. Außerdem hatte mich der immer stärker werdende Regen ziemlich durchnässt. Aber das war jetzt alles egal. Ich musste Doktor Weber finden, so schnell wie möglich. Hastig lief ich durch das Krankenhaus zu der Station, auf der er arbeitete. Ich fragte eine Krankenschwester, welche mir aber keine Auskunft geben konnte. Verzweifelt streifte ich durch die Gänge und plötzlich sah ich ihn. Zuerst dachte ich, es sei nur eine Einbildung, weil ich es mir so sehr wünschte, aber Doktor Alexander Weber verließ gerade tatsächlich einen Raum. Keine Sekunde später hatte ich mich vor ihm aufgebaut. „Frau Richter, gibt es ein Problem mit ihrem Fuß?“, fragte er scheinheilig. Ich fuchtelte mit dem Handy vor seiner Nase herum. „Das stammt von Ihnen, oder?“, fragte ich provokant. Ich rechnete mit einer ganzen Reihe von Reaktionen: verwundertes Kopfschütteln, fragwürdige Blicke oder hilfloses Abstreiten. Seine tatsächliche Reaktion traf mich somit wie ein Schlag ins Gesicht. Doktor Weber sah mich grinsend an: „Das ging ja echt schnell, gut gemacht!“

Ich starrte ihn völlig entgeistert an und wehrte mich nicht, als er mich in ein leeres Behandlungszimmer zog. Seine Reaktion hatte mich völlig aus der Bahn geworfen. „Also haben Sie mir gestern das Handy untergejubelt?“, fragte ich erneut. „Natürlich habe ich das. Sie haben doch meine Nachrichten gelesen, oder etwa nicht?“, der Arzt sah mich lächelnd an. Ich nickte langsam und sah auf den Boden, unfähig, ihm in die Augen zu blicken. Aber warum hatte ich sein Leben zerstört? Wofür sollte ich büßen? „Dass Sie mit den Schuldgefühlen leben können, wundert mich jetzt zugegeben schon“, sagte Doktor Weber. Ich sah ihn jetzt doch an: „Ich habe mit dem Unfall abgeschlossen“, erwiderte ich selbstbewusster, als ich es war. „Ach ja, etwa auch mit dem Tod unserer Tochter?“

„Mit dem… Was?!“, fassungslos und mit offenem Mund starrte ich in seine Augen und realisierte, dass ihn das alles hier doch tatsächlich amüsierte. „Okay, ich muss mein Kompliment leider zurücknehmen, Sie waren doch nicht so schnell. Aber nicht schlimm, Sie haben ja zu mir gefunden, lassen Sie mich Ihnen doch auf die Sprünge helfen. Oder sollte ich besser du sagen, Linda, das ist doch angebrachter in Anbetracht der Tatsache, dass wir eine lange Affäre und eine gemeinsame Tochter hatten“, erklärte er diabolisch lächelnd, wobei er dem letzten Wort eine besondere Betonung verlieh.

Das musste ein Irrtum sein, der Arzt musste mich mit jemandem verwechseln. „Das kann nicht wahr sein“, brachte ich stockend hervor. „Natürlich ist das wahr. Du hast bei dem Unfall damals unser kleines Mädchen getötet“, sagte Doktor Weber vorwurfsvoll. „Das, das stimmt nicht. Ich hatte keine Tochter, meine Eltern sind bei dem Unfall ums Leben gekommen“, stammelte ich. Der Arzt lachte sarkastisch auf. „In dieser Illusion lebst du, ja, weil ich nicht wollte, dass die Wahrheit ans Licht kam. Aber das stimmt nicht, Linda. Vor dem Unfall hatten wir eine Affäre, als du ungewollt schwanger wurdest. Ich wollte, dass du abtreibst, weil ich schließlich verheiratet war und viel älter bin. Aber du wolltest das Kind unbedingt behalten, also trennten wir uns. Ich ließ dich alleine. Kurz vor deinem Unfall aber begannen wir wieder eine Beziehung zueinander aufzubauen. Ich begann unsere mittlerweile zweijährige Tochter Jana zu lieben. Bis heute weiß ich nicht genau, wie es damals zu dem Unfall kam, aber als sie wegen dir sterben musste, brach für mich eine Welt zusammen. Das schlimmste jedoch war, dass du dich an rein gar nichts erinnern konntest. Weder an mich, noch an deine Tochter. Ich wollte dir den Schmerz ersparen und beschloss, so zu handeln, als ob es Jana nie gegeben hatte. Meine Frau bekam so glücklicherweise auch nie etwas davon mit, es war die perfekte Gelegenheit für mich, mit allem abzuschließen“, erklärte der Arzt monoton.

„Und was ist dann mit meinen Eltern?“, fragte ich, ohne all die Worte von Doktor Weber vollständig zu realisieren. „Die sind bei dem besagten Autounfall auf der Geburtstagsfeier des Chefs deines Vaters ums Leben gekommen, aber da warst du nicht dabei. Du warst damals 13 Jahre alt und hast fortan in einem Kinderheim gelebt, weil deine Großeltern alle verstorben waren und weitere Angehörige gab es keine, die dich aufnehmen konnten oder wollten.

Bei deinem Unfall vor elf Jahren erlittst du eine retrograde Amnesie aufgrund eines schweren Schädel-Hirn-Trauma, das heißt, deine Erinnerung an die Zeit vor dem Unfall verschwand. Mit der Zeit kamen bruchstückhafte Erinnerungen an deine Kindheit zurück. In deine ohnehin verschwommene Erinnerung presste sich dann die Tatsache, dass deine Eltern ebenfalls bei einem viel früherem Verkehrsunfall ums Leben kamen und das knüpfte dein Gehirn falsch zusammen. Seitdem lebst du in der Illusion, am Tod deiner Eltern schuld zu sein und bildest dir ein, damals betrunken gefahren zu sein, obwohl deine Eltern alleine wegen Trunkenheit am Steuer verunglückten. Die Existenz unserer Tochter vertuschte ich, das war kein großes Problem, da du dich an nichts erinnern konntest. Den Pflegern und deinen ohnehin sehr wenigen Angehörigen und Freunden erklärte ich, dass sie dir auf gar keinen Fall etwas von Jana erzählen dürften, weil du dich von alleine daran erinnern solltest, auch wenn ich mir sicher war, dass dies nie passieren würde. Da ich einen Schlüssel von deiner Wohnung besaß, konnte ich problemlos alles, was dich an deine Tochter erinnern könnte, entfernen, einschließlich deines Handys“, führte Doktor Alexander Weber weiter aus.

Ich schluckte schwer und folgte den Worten des Arztes wie erstarrt. „Aber warum erzählen Sie mir dann das jetzt alles?“, fragte ich. Ein kleiner Teil in mir hegte nach wie vor die Hoffnung, dass nichts von alldem hier stimmte, beziehungsweise auf mich bezogen war. Unbewusst verweigerte ich es, den Arzt zu duzen, ich konnte all das nicht wahrhaben. Noch nicht.

„Ich war mir sicher, dass es das Richtige war, so zu tun, als ob es Jana nie gegeben hatte. Aber es wurde schlimmer. Ich kann sie nicht länger verleugnen. Trotz der Umstände ist sie meine Tochter. Mein Fleisch und Blut. Und DU hast sie umgebracht!“ Der Gesichtsausdruck und die Stimme des Arztes veränderten sich schlagartig. Er sah jetzt wütend aus und seine Stimme war voller Hass.

„Deshalb habe ich alles arrangiert. Das Handy mit den alten Bildern vorbereitet und mich als deinen Arzt für gestern eingetragen, sodass ich es dir unbemerkt unterjubeln konnte. Du solltest die Wahrheit selbst herausfinden. All die Jahre konntest du ein unbeschwertes Leben führen, während ich leiden musste. Ich will, dass du dafür büßen musst, unsere Tochter getötet zu haben. Es ist allein deine Schuld!“, brüllte er und kam mir mit seinen hasserfüllten Augen immer näher. Unweigerlich zuckte ich bei jedem Wort zusammen und wich zurück.

„Verstehst du das? Ich lasse nicht zu, dass du weiter in deiner Scheinwelt lebst, während ich daran kaputt gehe. Du hast mein Leben zerstört und jetzt sollst du an deiner Schuld zerbrechen!“, fuhr er mich an und ich konnte das Leiden in seiner Stimme hören. Verängstigt sah ich ihn an, unfähig, alles Gesagte zu verarbeiten. Einige stille Sekunden mit einer gewaltigen Anspannung in der Luft verstrichen, ehe der Arzt endlich von mir abließ. Ich sah ihn tief durchatmen, anscheinend war gerade ein Teil seiner Last von ihm abgefallen. Gehässig sah er mir in die Augen: „Hoffentlich kannst du nie wieder glücklich sein, zum Glück kannst du seit dem Unfall kein neues Leben mehr in die Welt setzen.“ Mit diesen Worten verließ er das Behandlungszimmer und ich blieb alleine zurück.

„Guten Tag Frau Richter“, begrüßte mich die freundliche Psychologin, während ich ihr die Hand gab. Ich setzte ein Lächeln auf und zwang mich abermals, dem hier eine Chance zu geben. Auch wenn ich es sehr bezweifelte, dass mir die Therapie helfen würde, ich musste mein Versprechen halten. Sowohl mir als auch Louis gegenüber, ohne den ich hier nicht sitzen würde. Louis hatte mich vor wenigen Tagen gerade noch rechtzeitig in der Badewanne gefunden, kurz bevor ich mir die Pulsadern aufschneiden wollte. Ich sah einfach keinen Sinn mehr in meinem Leben, Doktor Weber hatte mir mit seinen Worten alles genommen.

Vor allem aber kannte ich mich selbst nicht, ich hatte es nie getan und jetzt, wo ich die Wahrheit kannte, konnte und wollte ich sie nicht wahrhaben. Mein altes Ich war nichts weiter als eine Illusion. Dieser Gedanke ließ mich in ein tiefes Loch stürzen, aus dem ich keinen Ausgang sah. Aber ich würde probieren, einen Weg zu finden, das schwor ich mir. Ich sah der Psychologin in die  Augen, holte tief Luft und fing an zu erzählen.

 

 

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