CarinaAufderheideMein dunkles Ich

 

Dienstag abends

 

Puh, war das mal wieder eine anstrengende Trainingseinheit! Konstantin war fix und fertig, nachdem der Fußballtrainer die Mannschaft heute wieder über den ganzen Platz gejagt hatte. Jetzt nur noch schnell duschen und dann nichts wie ab nach Hause, war sein letzter Gedanke, als er plötzlich das neuwertige und fremde Handy in seinem Spind erblickte. Gehörte dies etwa einem von seinen Mannschaftskollegen? Ne, die hatten doch alle das neuste iPhone und kein Gerät von Samsung, da war er sich eigentlich relativ sicher. Komisch, naja, am besten gebe ich das gleich direkt beim Hausmeister ab, damit er es zu den Fundsachen legen kann. Als er das Handy in seinen Rucksack stecken wollte, kam er aus Versehen auf den Home Button. Das Handy war ja gar nicht gesperrt? Wer hinterlegt denn heutzutage keinen Code dafür? Vielleicht finde ich einen Hinweis darauf, wem das Handy gehört, wenn ich mal kurz in der Galerie die Bilder checke? Vielleicht gehört es auch jemanden von den B-, C- oder D-Junioren? Aber wieso sollte es dann ausgerechnet in meinem Spind liegen? Sehr eigenartig, fand Konstantin. Das merkwürdigste war allerdings, dass er nur ein Bild in der gesamten Galerie finden konnte. Darauf waren seine feste Freundin Viola und er zu sehen. Und zwar beim Geschlechtsverkehr. Aber wie konnte das um Himmelswillen sein? Die beiden waren doch erst seit zwei Monaten zusammen und hatten „es“ doch noch gar nicht getan? Doch so wie es auf dem Bild aussah, handelte es sich dabei eindeutig um ihn. Was sollte das? War das vielleicht eine Fotomontage von einem der Jungs und jemand wollte ihm einen Streich spielen? Sie zogen ihn ab und an mit der Spekulation darüber auf, ob er in seinem Alter wohl noch Jungfrau war. Im nächsten Moment ertönte auf einmal das akustische Signal, dass eine neue Nachricht eingegangen war. Sollte er die Nachricht öffnen? Vielleicht konnte er so klären, was es mit diesem ominösen Gerät auf sich hatte? Er öffnete den Nachrichtenspeicher und schaute sich die Verläufe an. Darin war nur ein einziger Verlauf vorzufinden und die Nummer war nicht eingespeichert, so dass er nicht wusste, von wem die anonyme SMS kam. Darin stand:

 

„Heute beginnt der erste Tag vom Rest deines verpfuschten Lebens.“ Was hatte das zu bedeuten? In seinem Kopf türmten sich mehr und mehr Fragen auf.

 

Mittwoch vormittags

 

„Hey, sag mal hast du etwas von Viola gehört?“ „Ne, warum?“ antwortete Konstantin. „Weil sie heute und gestern nicht in der Schule war und sie auf keine meiner Nachrichten antwortet. Und du bist doch ihr toller, neuer Freund, da solltest du doch wissen, was bei ihr los ist oder nicht? Zumal wir kurz vor den Abi Prüfungen stehen und ich denke nicht, dass Viola da freiwillig Unterricht ausfallen lässt“ merkte Isabel, eine von Violas besten Freundinnen, an. Stimmt, eigentlich sollte ich das wissen. Aber wir hängen nun mal nicht wie Kletten, wie andere ach so verliebte Pärchen ständig aneinander, sondern lassen dem anderen noch Luft zum Atmen und uns unsere Freiräume. Dieses Beziehungsverhalten war wahrscheinlich der Grund, warum Konstantin seit Sonntag nichts mehr von Viola gehört oder sie auch nicht zufällig in der Schule getroffen, aber sich auch nichts Böses dabei gedacht hatte, wie ihm jetzt auf einmal bewusst wurde. „Kannst du nicht auch mal versuchen sie zu erreichen? Ich mache mir langsam echt Sorgen. Gib mir dann nochmal Bescheid, ja?“ forderte Isabel. „Ja, klar mach ich. Ich schau später mal bei ihr vorbei. So jetzt muss ich aber los, die Stunde fängt gleich an.“

 

Mittwoch nachmittags

 

Konstantin war nach der Schule zu Viola nach Hause gefahren und hatte jetzt schon mehrmals geklingelt, aber niemand machte auf. Die Villa der von Grafensteins lag etwas abgelegen im schönen und vom Mittelstand geprägten OWL und besaß eine spektakuläre Aufmachung. Aber selbst hier galt die gleiche Regel wie bei seiner Großmutter Elfriede früher: solange das Fenster des Gäste-WCs auf Kipp stand, war jemand zuhause. Danach konnte man normalerweise die Uhr stellen. Daher versuchte er es noch einmal und wartete weiter ab. Keine Sekunde später kam plötzlich das neuste Porschemodell auf den Hof der von Grafensteins gerauscht. Darin befand sich niemand geringeres als Violas Vater, Johann von Grafenstein. „Das du dich noch hierher traust!“ schrie er ihn unmittelbar beim Aussteigen und mit hochrotem Gesicht an. „Hallo Herr von Grafenstein. Wie, was meinen Sie damit? Viola war die letzten zwei Tage nicht in der Schule, deswegen wollte ich mal nach ihr sehen und…“ „Das ist doch jetzt wohl nicht dein Ernst Freundchen, oder? Bist du noch ganz bei Trost?“ „Aber…“. „Nenn mir nur einen guten Grund, warum ich nicht sofort die Polizei rufen sollte?“ „Polizei, aber wieso was ist denn los?“ „Was los ist? Meine Tochter leidet Höllenqualen wegen dir und wird auch in nächster Zeit nicht das Haus verlassen können. Du bist der Grund warum sie nicht in der Schule ist! Es ist selbsterklärend, bei dem was du dir da geleistet hast, du noch zeitnah von den Behörden kontaktiert werden wirst. Und dann wanderst du hoffentlich direkt ins Kittchen, denn so jemand wie du stellt eine Gefährdung für die Gesellschaft dar und sollte nicht frei herumlaufen. Und jetzt scher dich zum Teufel und kreuz hier nicht noch einmal ungefragt auf, wenn dir dein Leben lieb ist. Guten Tag!“. Johann von Grafenstein ließ Konstantin einfach stehen und verschwand hinter der klobigen Haustür, welche er demonstrativ laut zu schlug.

 

Konstantin war völlig perplex. Was faselte Johann da? Er war doch sein zukünftiger Lieblings-Vorzeige-Schwiegersohn gewesen und konnte sich normalerweise vor dessen Lob kaum retten? Und jetzt schlug er ihm die Tür vor der Nase zu und machte ihm solche seltsamen Vorwürfe? Hatte das vielleicht etwas mit dem merkwürdigen Foto auf dem besitzerlosen Handy zu tun? Vielleicht hatte er das Bild ebenfalls irgendwo geschickt bekommen und für voll genommen? Aber er hatte definitiv nicht mit Viola geschlafen. Er wollte sie zu nichts drängen und sie wollten sich Zeit lassen. Johann musste doch auch klar sein, dass er nicht diese Art Typ und kein Aufreißer oder ähnliches war. Doch selbst wenn sie bereits intim geworden wären, war das kein Grund, ihn derart niederzumachen und mit Polizei zu drohen. Klar, Viola war seine Prinzessin und er liebte sie über alles und wollte sie als Vater wahrscheinlich nur beschützen, aber dennoch fand er seine Reaktion übertrieben. Konstantin brauchte jetzt unbedingt eine zweite Meinung und professionellere Hilfe. Er musste dringend herauszufinden, wem die Nummer gehörte und wer der Besitzer des Handys war, da ihm das Ganze einfach nur spanisch vorkam. Er musste unbedingt schnellstmöglich mit seinem besten Freund Max darüber sprechen. Vielleicht hatte er noch eine Idee, was das alles zu bedeuten hatte und wer sich einen sich zunehmend zuspitzenden Scherz mit ihm erlauben wollte.

 

Mittwoch abends

 

„Danke, dass du so kurzfristig Zeit für mich erübrigen konntest. Ich weiß du bist auch im Lernstress momentan, aber ich weiß gerade echt nicht, wo mir der Kopf steht. Ich brauche einmal deine unvoreingenommene Sicht auf die Situation.“ „Kein Problem, ich bin sowieso schon die ganze Zeit am Prokrastinieren wie man heutzutage so schön sagt, also leg los“ sagte Max und hörte sich Konstantins Erzählungen ruhig und ohne Zwischenfragen an. „Und auch dieser komische Satz aus der SMS: heute ist der erste Tag vom Rest deines verpfuschten Lebens. Was zur Hölle soll das bedeuten?“ fragte Konstantin in den Raum. „Ich habe wirklich keine Ahnung, was das alles heißen soll, aber ich muss sagen, die Fotomontage auf dem Bild ist echt gut gemacht. Ich beschäftige mich nebenbei mit Design, Filtern, Photoshop und so weiter wie du vielleicht weißt und man könnte meinen, wenn man es nicht besser wüsste, dass du das wirklich auf dem Bild bist“. „Was soll das denn heißen, glaubst du mir etwa nicht?“ „Doch schon, ich meine ja nur… Oder ist das deine andere, wilde Seite, die da zum Vorschein kommt?“ unkte und neckte Max. „Du zeigst dich ja sonst oft eher als perfekter, aalglatter Vorzeige-Schwiegersohn mit Markus Lanz-Lächeln, passend zu deiner angestrebten Karriere als Politiker. Dazu bist du dann noch trainiert, fit und gut aussehend. Zusätzlich klug und nicht auf den Kopf gefallen. Und darüber hinaus stehst du bei den meisten außerdem weit oben auf der Beliebtheitsskala und versprühst ein gewisses Charisma. Bei solchen Leuten wie dir hofft man doch immer irgendwie, dass solche Menschen irgendwo Dreck am Stecken haben. Ich denke, man sucht bei solchen „Übermenschen“ geradezu Fehler und Geheimnisse, um sich selbst besser zu fühlen und solche Leute normaler erscheinen zu lassen. Ganz nach dem Motto: die sind auch nur Menschen und kochen auch nur mit Wasser. Und du lässt deinen Emotionen dann vielleicht einfach gerne mal im Bett freien Lauf und lässt dich dort dann mal so richtig gehen“ vermutete Max und zwinkerte. „Danke für die Blumen, aber jetzt mach mal halblang. Nur weil ich in meinen jungen Jahren ein wenig Ehrgeiz an den Tag lege, bin ich noch lange kein „Übermensch“. Außerdem…“ du weißt doch, dass ich noch Jungfrau bin, konnte er sich gerade noch verkneifen. „Naja, nicht so wichtig“ sagte er stattdessen. „Und bescheiden ist er auch noch, das ist ja ekelhaft! Tja, wenn es nicht deine wilden und versauten Sexfantasien sind, die du neuerdings auslebst, hast du vielleicht eine multiple Persönlichkeitsstörung über die du dir bis jetzt nicht im Klaren warst und du weißt nur nicht mehr, das ein Teil von dir mit Viola geschlafen hat?“ Beide lachten bei dieser Vermutung von Max, trotz der angespannten Lage, kurz auf. „Aber im Ernst, jetzt hör doch mal mit deinen Verschwörungstheorien auf. Das ist langsam echt nicht mehr witzig. Könntest du nicht mal bei deinem Vater nachfragen, ob er zurückverfolgen kann, wem die Nummer des Handys gehört? Ich hatte auch schon überlegt, die Nummer der SMS zu kontaktieren, aber die wurde anscheinend anonym aus dem Netz geschickt und kann nicht so einfach zurückverfolgt werden. Daher brauche ich dringend irgendeinen anderen Anhaltspunkt.“ „Ok, ok, schon gut, schon gut. Ich werde sehen, was ich für dich tun kann.“

 

Viola konnte sich kaum bewegen. Ihr ganzer Körper schmerzte. Alles tat ihr weh. Sie fühlte sich wie eine klumpige, breiige Masse. Ihr Engelsgesicht war geschwollen und voller Blutergüsse. Sie bekam ihr normalerweise sonst so wunderschönes, smaragdgrünes, linkes Auge mit den langen Wimpern kaum auf. Ihre schlanken, zarten Handgelenke hatten tiefe Striemen und Schrammen von den Fesseln. Auf ihrem trainierten Rücken zierten dort wo zuvor samtige und geschmeidige Haut gewesen war lange, offene Fleischwunden ihren Körper. Die Peitschenhiebe waren unerträglich gewesen. In einem Moment der Klarheit hatten die Schmerzen sie wie Nadelstiche durchzuckt, den ganzen Körper durchströmt, ihn bis ins Mark erschüttert. Sie hatte sich nicht dagegen wehren können und war wie gelähmt gewesen. Sie hatte nicht einmal schreien können. Immer wenn sie die Situation vor ihrem inneren Auge wieder und wieder abspielte, konnte sie sich nicht genau erklären, warum sie sich zu dem Zeitpunkt teilweise so benommen vorgekommen war und sich nicht mehr genau an alle Details erinnern konnte. Sie versuchte weitere Fetzen zu rekapitulieren, ihre Lücken aufzufüllen, aber es gelang ihr nicht. Vielleicht war dies eine Schutzfunktion ihres Körpers? Genau wie bei Schwangeren, die auch die Schmerzen der Geburt vergessen und verdrängen konnten, da sie sonst wohl nie wieder ein Kind gebären wollen würden? Das hatte sie zumindest irgendwo mal gelesen. Aber wie sah das bei geistigen und nicht bei körperlichen Leiden aus? Denn all diese physischen Verletzungen waren nicht das schlimmste. Ihre Seele litt noch viel heftigere Qualen als ihr Körper. Immer und immer wieder ging sie dieselben Fragen durch, spielte das Szenario wieder und wieder in ihrem Kopf ab. Wie konnte er ihr das nur antun? Wie konnte er sie so erniedrigen? Er hatte sie verraten. Sie hatte ihm vertraut, ihn geliebt. Ja, sie hätte ihn sogar als ihre große Liebe bezeichnet. Natürlich war sie schon vorher mal verliebt gewesen, auch mit anderen Jungs gegangen, für zwei oder drei Wochen. Aber mit ihm war alles anders. Bei ihm fühlte sie sich sicher und geborgen. Verstanden. Leicht. Einfach glücklich. Sie war bereit gewesen ihm diese Liebe auch körperlich zu schenken, sich ihm hinzugeben und ihre Jungfräulichkeit an ihn zu verlieren. Sie traf diese innere Entscheidung nicht leichtfertig, hatte schon öfter damit gehadert und wollte auf den Richtigen warten. Und sie hatte geglaubt, er wäre der Richtige für sie gewesen.

 

Sie dachte wieder daran, wie sie sich gewundert hatte, als er den Vorschlag machte, Sonntagabend noch einmal zu ihr zu kommen. Sie hatten sich bereits morgens gesehen und waren zusammen mit den Eltern von ihr frühstücken gegangen. Aber er ließ sie wissen, dass er eine Überraschung für sie hatte, die er ihr gerne zeigen und mir ihr teilen wollte. Außerdem waren ihre Eltern bei Freunden zum Grillen eingeladen, so dass sie das Haus für sich hatten. Insgeheim hatte sie schon gehofft und sich ausgemalt, dass „es“ an dem Abend passieren könnte. Deshalb hatte sie eingewilligt und war auf seinen Wunsch eingegangen. Er hatte einen teuren, alten und besonderen Whiskey aus Schottland für die beiden eigens zu diesem Anlass besorgt und mitgebracht. Es war eine schöne Überraschung gewesen, denn sie hatten beide davon geträumt, irgendwann einmal, wenn sie studierten, vielleicht ein Auslandsjahr gemeinsam in Edinburgh zu verbringen, da diese Stadt viel zu bieten hatte und großartige Möglichkeiten bereithielt. Die Gebäude sahen alle so schön mystisch und magisch aus, die Gassen waren verwinkelt, urig und gemütlich und es wirkte alles ein bisschen wie aus einer anderen Zeit. Gleichzeitig gab es dort, so hatte sie es gelesen, auch viele junge Menschen, die einfach nur Spaß haben und das Leben genießen wollten. Und feiern konnten die Schotten, wenn man diversen Bildern und Videos Glauben schenken sollte, allemal. Außerdem zog Viola ein frisch gezapftes Bier und schmuddelige Pubs irgendwelchen überteuerten Events und dem ewigen Champagner, den ihre Eltern garantiert nur aufgrund der Statussymbolik gerne tranken, vor. Sie wäre endlich mal für längere Zeit weit weg von Zuhause gewesen, ohne diese ganzen Zwänge. Und um Geld und die Finanzierung hätten sich die beiden zum Glück auch keine Sorgen machen müssen. Eine Träne lief ihr bei dem Gedanken daran die Wange hinunter.

 

Stattdessen konnte sie sich jetzt nur noch fragen, womit sie das verdient hatte und wie er ihr derart wehtun konnte? Wie konnte man sich so in einem Menschen täuschen? Sie hatte nichts dergleichen kommen sehen. Er hatte ihnen Whiskey eingeschenkt, Kerzen angemacht, Alicia Keys aufgelegt, ihr zugeprostet und sich langsam gemeinsam mit ihr auf das Bett zu bewegt. Einer ihrer letzten klaren Gedanken war: sie war bereit. Viola war erst wieder bei vollem Verstand gewesen und hatte sich bewegen können, als sie sich unter Schmerzen mit zerrissenem Höschen, gespreizten Beinen, auf dem Bauch liegend und mit Kabelbindern gefesselt auf ihrem Bett wiederfand. Konstantin war aber nicht mehr da…

 

Donnerstag morgens

 

Max hatte heute keine Lust auf Schule. Der Stress so kurz vor den Prüfungen nahm gefühlt jeden Tag mehr zu und jetzt hatte er auch noch in der ersten Stunden Mathe, sein absolutes Hassfach. Klar lenkte er sich deshalb auch gerne während des Unterrichts mit Instagram, Facebook und WhatsApp ab. Was er dann allerdings zugeschickt bekommen hatte, schockierte ihn so sehr, dass er lieber ein paar Gleichungen gelöst hätte, anstatt jemals diesen Link geöffnet zu haben. Auf dem Vorschaubild sah er, dass das Video Viola und Konstantin beim Sex zeigte und quasi die lebendige Version des Fotos, welches Konstantin ihm gestern gezeigt hatte, sein musste. Sollte er sich das wirklich ansehen? War das nicht irgendwie unangebracht? Zunächst hatte Max Bedenken, doch dann ließ er das Video einfach laufen. Am Anfang sah er die beiden sich entspannt zuprosten, aufs Bett zusteuern und kurz darauf ein harmloses Vorspiel starten. Ach, du scheiße! entfuhr es Max aber dann fast laut in der Klasse, als er die nächsten Szenen sah. Seit wann stand Konstantin denn auf Sadomaso? wunderte er sich, als dieser plötzlich mit einer Peitsche ins Bild kam und Viola von ihm gefesselt und auf den Bauch gedreht wurde. Das hätte er ihm nun nicht zugetraut. Moment mal, dachte Max, irgendwas stimmt hier nicht. Das, das ist doch einfach viel zu brutal, nein Konstantin hör auf, hör auf, schrie er innerlich. Gnadenlos peitsche er wieder und wieder auf Violas Rücken ein. Die anfänglichen roten Striemen wurden innerhalb von Minuten zu tiefen, blutenden Fleischwunden. Und Viola ließ komischerweise alles kommentarlos über sich ergehen, gab keinen Mucks von sich und wirkte irgendwie unbeteiligt, dachte Max. Hatte sie etwa schon Erfahrungen in dem Bereich gesammelt? Aber selbst, wenn: wie konnte sie diesen Schmerz nur aushalten und keine Regung zeigen, das war doch gar nicht möglich? Nach dem Konstantin ihren Rücken verunstaltet hatte, drehte er Viola wieder zu sich und fing an seine Freundin grob und brutal zu verprügeln. Er ließ seine Faust wieder und wieder in ihr schönes Gesicht sausen, als ob er dies unkenntlich machen und ausradieren wollen würde. Max konnte und wollte sich das nicht länger ansehen und doch fühlte er sich gezwungen hinzuschauen, wie bei einem Unfall, bei dem man einfach nicht wegsehen konnte. Er schaffte es nicht, das Video zu stoppen. In der nächsten Sequenz wurde es noch schlimmer und er sah wie Konstantin seine Freundin erniedrigte, in dem er in ihren Mund pinkelte. Max wurde speiübel, er war angewidert. Was sollte das? Die beiden waren doch sonst so ein harmonisches und ebenbürtiges Paar? Er konnte nicht glauben, dass Viola das wirklich freiwillig mit sich machen lassen ließ. In der nächsten Szene nahm Konstantin dann eine der umstehenden Kerzen und ließ das heiße Wachs gnadenlos auf Violas kleine, knospenartigen Brustwarzen tropfen. Sie konnte sich durch die Fesslung kein Stück wehren, aber sie gab auch immer noch kaum ein Lebenszeichen von sich. Hatte er sie etwa betäubt oder was war mit Viola los? Oh Gott, schrillte Max in Gedanken im nächsten Moment auf, als Konstatin sie nun wieder auf den Bauch drehte, erbarmungslos ihre Beine spreizte, ihr Höschen zerriss und ohne jede Vorwarnung brutal in sie eindrang. Und dann penetrierte er sie schonungslos von hinten, anders konnte man das wirklich nicht sagen. Er stieß wieder und wieder keuchend, hart und gnadenlos zu. Es war ekelerregend. Natürlich hatte Max auch schon ein paar heftigere Pornos gesehen. Aber was in solchen Filmen ablief, fand gegen Bezahlung und mit dem Einverständnis von allen Beteiligten statt. Das hier war etwas völlig anderes. Er versuchte krampfhaft seinen Würgereiz unter Kontrolle zu bekommen. Im nächsten Augenblick nahm Konstantin sich Viola ganz plötzlich nun auch noch anal vor, verschwand dann wieder harsch in ihrer Vagina, immer abwechselnd, um seine Lust höher und höher zu steigern. Schließlich steckte er sein dreckiges und mit Fäkalien besudeltes Glied in ihren Mund und kam schließlich und spritzte in ihr Gesicht. Max konnte nicht mehr. Er rannte aufs Klo und erbrach sich bis zur Galle alles aus dem Leib, was er bis dahin in sich getragen hatte.

 

Nachdem sein Magen komplett leer gepumpt war, wirbelten in der Kabine alle möglichen Gedanken durch seinen Kopf. Konstantin war sein bester und ältester Freund. Er konnte nicht glauben, dass wirklich er das in dem Video gewesen sein sollte. Anderseits so ein Video konnte man nicht faken. Ein Foto vielleicht, aber doch nicht das komplette Video? Er musste es also gewesen sein. Es gab keine andere Erklärung. Aber warum hatte er ihm dann das Bild gezeigt, es als bösen Scherz abgetan und ihn um Rat und Hilfe gefragt? Hatte er vielleicht tatsächlich eine dissoziative Identitätsstörung? Oder sprach sein Hilferuf nicht eigentlich dafür, dass er unschuldig war? Und auch die SMS. Das wirkte doch eher so, als ob jemand ihm etwas anhängen wollen würde? Oder wollte er versuchen, sich selbst nur irgendwie geschickt aus der Sache rauswinden und jetzt das Unschuldslamm zu mimen, weil er wusste, dass das, was er getan hatte, sonst sowieso irgendwann rauskommen würde? Warum war die SMS sonst anonym verschickt worden? Wollte er dadurch den Verdacht von sich auf jemand anders lenken, der z.B. angeblich seinen Ruf zerstören und ihm diese Geschichte unterjubeln wollte? Oder war er wirklich, wie im Video erkennbar, ein psychisch gestörter Sadist? Wollte er vielleicht diese kranken Gedanken insgeheim mit ihm teilen, um zu testen, ob auch er Gefallen an seinen abstoßenden Fantasien finden konnte? Oder kannte wirklich jemand Konstantins dunkle Geheimnisse, von denen nicht einmal er als sein bester Freund etwas wusste und wollte es jetzt aller Welt zeigen und mitteilen? Das alles ließ Max keine Ruhe, er musste dringend mit Konstantin sprechen.

 

Donnerstag nachmittags

 

Konstantin hatte den ganzen Vormittag versucht herauszufinden, was es mit dem eigenartigen Bild, der mysteriösen SMS, mit Violas fehlendem Erscheinen und der ganzen seltsamen Situation auf sich hatte. Er war heute nicht zur Schule gegangen und musste das jetzt klären. Ein für alle Mal. Er hatte verschiedenste Theorien und Listen erstellt, sich ausgemalt mit welchen „Feinden“ er es womöglich zu tun haben oder wer etwas Böses gegen ihn im Schilde führen könnte. Er ging mittlerweile nicht mehr davon aus, dass es sich einfach nur um einen dummen Streich handelte, auch wenn er die Situation am Anfang nicht ganz für voll genommen hatte. Dafür hatte der Vater von Viola in seinen Augen einfach zu heftig reagiert. Und Max hatte sich leider auch noch nicht wieder bei ihm gemeldet und ihn mit irgendwelchen neuen Informationen versorgt, aus denen er neue Erkenntnisse hätte ziehen können. Er fragte sich einmal mehr wie das besitzerlose Handy in seinen Spind gelangt war und was derjenige bei ihm mit dem Foto und der Nachricht bezwecken wollte, als es im selben Moment an der Haustür klingelte. Als er öffnete, bekam er zwei Polizeiausweise zu sehen und wurde gefragt, ob die beiden eintreten durften. Es beschlich ihn zwar ein ungutes Gefühl, aber er willigte dennoch ein.

 

„Wo waren Sie letzten Sonntag zwischen 19 Uhr und 23 Uhr, Herr Wagner?“ „Ähm zuhause, warum?“ „Kann das irgendjemand bezeugen?“ „Leider nein. Ich war allein, meine Eltern, also mein Vater und meine Stiefmutter, sind derzeit im Urlaub in der Karibik. Aber wieso wollen Sie das wissen, worum geht es überhaupt?“ „Es wurde Strafanzeige gegen Sie erstattet“. „Wie was, Strafanzeige? Weswegen und von wem?“ „Sie werden der Vergewaltigung von Viola von Grafenstein bezichtigt. Wegen dringendem Tatverdacht müssen wir Sie bitten, uns auf das Präsidium zu begleiten, damit Sie dort eine Aussage machen können.“ „Aber ich, ich habe doch gar nichts gemacht, nur weil niemand bezeugen kann, dass ich am Sonntagabend allein zuhause war, heißt das noch lange nicht, dass…“ „Es tut uns leid Herr Wagner, wir müssen Sie jetzt dringend bitten, mit uns zu kommen. Die Beweislage gegen Sie ist erdrückend. Uns wurde heute in Video zugespielt, auf dem Sie und Frau von Grafenstein eindeutig bei dem unfreiwilligen Geschlechtsverkehr zu erkennen sind.“ Ein Video? Dann war das Bild also keine Fotomontage, sondern es existierte sogar ein Video? Aber wie konnte das sein? Konnte man mittlerweile auch noch Videos so manipulieren und faken, dass selbst die Polizei darauf reinfiel? Allerdings konnte er ihnen beweisen, dass er es nicht war. Er würde ihnen einfach das besitzerlose Handy, das Bild und die SMS zeigen, damit sie merkten, dass ihn jemand austricksen, ihm das Ganze in die Schuhe schieben und sein Leben verpfuschen wollte. „Ich kann beweisen, dass ich das nicht war und das jemand versucht mir etwas anzuhängen.“ „Tatsächlich? Bis vor zwei Minuten hatten Sie nicht mal ein hieb- und stichfestes Alibi. Aber gut. Nehmen wir mal an, wir glauben Ihnen das, wie wollen Sie das beweisen?“ „Ich habe neulich ein Handy in meinem Spind gefunden. Dort war ein Bild zu sehen, eine Art Fotomontage von mir und Viola und eine SMS, die aussagt, das jetzt der unangenehme Teil meines Lebens beginnt, welches von nun an verpfuscht sein wird und…“ „Langsam, ganz ruhig mit den jungen Pferden. Falls es dieses Handy wirklich geben sollte: wieso haben Sie sich dann nicht schon früher an die Polizei gewendet und diesen Vorfall gemeldet?“ Die Polizisten ließen ihn aber auch kein Mal richtig ausreden und zu Wort kommen, dachte Konstantin. Wahrscheinlich hatte Violas Vater seine Beziehungen spielen lassen und es herrschte besonderer Erfolgsdruck auf Seiten der Behörden. Jeder der jetzt irgendwie mit in die Sache involviert und betraut war, sollte wahrscheinlich zusehen, die ganze Situation schnell aufzulösen und jemanden dafür zu bestrafen und zur Verantwortung zu ziehen. „Na, weil ich dachte, dass vielleicht ein paar Jungs aus meiner Mannschaft sich einen kleinen Scherz mit mir erlauben wollten. Ich habe mir nicht direkt etwas Böses dabei gedacht und…“ „Ok, das reicht. Kommen Sie jetzt bitte mit, damit wir Ihre Aussage aufnehmen können. Und falls das von Ihnen beschriebene, mysteriöse Handy wirklich existiert, übergeben Sie uns dies am besten jetzt sofort, damit wir es in der Zwischenzeit schon einmal sicherstellen und anschließend sichten lassen können.“ „Das Handy liegt aber oben in meinem Zimmer und nicht hier unten in der Küche. Ich müsste es nur eben schnell holen, dann können wir von mir aus los.“ „In Ordnung, aber beeilen Sie sich bitte. Und keine Dummheiten.“

 

Schnell rannte Konstantin die Treppen in sein Zimmer rauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Zum Glück ließen die Polizisten ihn jetzt noch rasch das Handy holen. Indem er ihnen dieses erste Indiz dafür präsentieren konnte, dass jemand ihn anscheinend in Verruf bringen wollte, konnte er zumindest erstmal Zeit gewinnen, bis er seine Eltern und deren Anwalt kontaktiert und erreicht hatte, um zu besprechen, was er als nächstes tun sollte und seine Gedanken zu sortieren. Er sah sich ungeduldig im Zimmer um. Wo war das verdammte Handy? Er war sich sicher gewesen, dass er es hier oben hatte liegen lassen. Es musste doch hier irgendwo sein. Zweimal suchte er sein Zimmer komplett ab. Die Polizisten unten wurden langsam unruhig und riefen nach ihm. Auch er wurde zunehmend nervöser. So ein Mist! Da vibrierte es auf einmal in seiner Hose. Aber es war sein eigenes Smartphone. Er hatte eine neue Nachricht von einer unbekannten Nummer wieder per SMS empfangen. Darin stand:

 

„Du kannst noch lange nach dem Handy suchen. Du wirst es nicht mehr finden. Endlich erkennen die Leute, was für ein Mensch du wirklich bist. Und jetzt erhältst du deine gerechte Strafe.“

 

Konstantin verstand die Welt nicht mehr. Was sollte das bedeuten? Wer beobachtete ihn und drang in sein Haus ein? Egal, selbst wenn er das Handy jetzt nicht fand, konnte er den Polizisten immerhin diese Nachricht zeigen, um zu beweisen, dass er unschuldig war und dass es dieses Handy wirklich gab. Aber konnte er das tatsächlich, was konnte das schon groß beweisen? Jeder könnte das geschrieben haben. Und wieso war er angeblich auf diesem verdammten Video zu sehen? Was genau passierte dort? Er musste sich das unbedingt schnellstmöglich anschauen. Aber zunächst musste er erst einmal vor den Polizisten fliehen. Ihm blieb nichts anderes übrig, er musste sich mehr Zeit verschaffen und diesem Geheimnis selbst auf den Grund gehen. Er schaltete sein Handy aus, damit sie ihn nicht orten konnten, rief ein knappes „ich komme sofort“ Richtung Treppe nach unten und machte sich schleunigst auf den Weg ins Bad. Von dort aus konnte er an den Kletterpflanzen, welche sich an der Mauer des Hauses entlangschlängelten, hinunterklettern, sich dort schnell in die alte, aber immer noch vorhandene Gartenlaube seines Großvaters stehlen und das alte Mofa zum Laufen bringen, um zu flüchten.

 

Das war knapp! Fast hätten die Polizisten ihn noch entdeckt, als er links aus der Wohnsiedlung raus abbog, um „durch die Bauern“ wie man so schön sagte, zu fahren und Wald- und Wiesenwege zu nutzen. Er war auf dem Weg zu einem Internetcafé. Dort würde er Max per Mail kontaktieren, da die Polizei bestimmt als erstes bei Freunden oder Verwandten nach ihm suchen lassen würde. Er konnte jetzt nicht persönlich bei ihm auftauchen, brauchte aber trotzdem dringend seine Hilfe und einen Verbündeten. Vielleicht hatte er in der Zwischenzeit neue Informationen von seinem Vater erhalten, hoffte Konstantin. Er wollte sich gerade bei GMX in sein Postfach einwählen, als eine Schlagzeile eines der typischen Werbebanner auf der Startseite seine Aufmerksamkeit erregte. Was zur Hölle? Dort stand in reißerischer Überschrift: „Vergewaltigungsdrama in OWL: wie wurde aus dem aufstrebenden und sympathischen Vorzeigefreund dieses kranke und gefährliche Monster?“ Darunter folgten so gleich wilde Spekulationen über ihn und seine Lebensgeschichte, aber auch einige pikante Details, welche aus dem Video stammen mussten. Er konnte seinen Augen nicht trauen. Wie hatte der Unbekannte, von dem die Nachrichten stammten, es geschafft, dieses Video so echt aussehen zu lassen, dass sogar die Polizei und jetzt auch noch die Presse ihm glaubte? Was hatte dieser nur mit Viola angestellt? Erst jetzt fiel ihm ein, dass die Polizei ja auch mit ihr gesprochen haben musste, wenn sie Anzeige erstattet hatte. Wie konnte sie diese ganze Geschichte bestätigen oder wurde sie vielleicht von Johann dazu gezwungen? Wurden sie vielleicht erpresst? Bei ihm konnte er sich so manches vorstellen, zu dem er greifen würde, um seine Position zu verteidigen und nicht zu verlieren. Aber was sollte das mit ihm zu tun haben, wieso sollten sie ihm etwas anhängen wollen, er war doch noch ein bisher nur kleines Licht am Lokalpolitikhimmel und konnte ihm nicht gefährlich werden? Das Schlimmste war allerdings, dass ihm in diesem Moment schmerzlich bewusst wurde, dass jeder auf diesen Artikel zugreifen konnte und ihn von jetzt an für einen feigen und armseligen Vergewaltiger halten würde.

 

Alles was er sich bis hierhin aufgebaut hatte, würde wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Seine sportlichen Erfolge, die ab jetzt nichts mehr zählen, sondern nur noch mit diesem Thema überschattet sein werden würden. Seine Beliebtheit. Wahrscheinlich wusste schon seine ganze Schule über den Vorfall Bescheid. Sein beruflicher Erfolg. Für diesen hatte er bereits die Weichen gestellt und war immer fleißig gewesen, um nach dem angestrebten Studium in der landesweiten Politik mitwirken und aufsteigen zu können. Violas Vater hätte ihm sicher den Weg ebnen können, doch jetzt konnte er nur Steine, welche ihm in den Weg gelegt werden würden, von ihm erwarten, nachdem er angeblich seine Prinzessin geschändet hatte. Seine Freunde. Was dachte Max, wenn er von dieser Geschichte Wind bekam? Konnte er immer noch auf die Loyalität und das Vertrauen seines besten und ältesten Freundes hoffen? Und vor allem was war mit Viola? Wie konnte sie nur denken, dass er es war, der ihr das angetan hat? Wie konnte sie ihn anzeigen? Wie konnte sie ihn dermaßen hintergehen, ohne vorher auch nur einmal mit ihm zu sprechen? Oder ging sie wirklich davon aus, dass er dieses feige Schwein war? Aber warum? Im Anblick dessen wirkte Max‘ lächerliche Theorie über eine nicht diagnostizierte, multiple Persönlichkeitsstörung mittlerweile gar nicht mehr so unwahrscheinlich. Ich werde langsam noch verrückt, dachte Konstantin. Falls Viola tatsächlich glauben sollte, dass es er gewesen war, würde sie ihm das niemals verzeihen. Er würde sie verlieren und dabei liebte er sie doch über alles. Außerdem wollte er nicht ins Gefängnis. Für jemanden wie ihn würde es dort sicher nicht einfach werden. Er war nicht geschaffen für die harten Jungs, die er mit seinem Intellekt und Charisma kaum beeindrucken können würde. Und außerdem wollte er einfach frei sein. Leben. Er war doch noch so jung, sein Leben fing doch gerade erst an. Er konnte nicht mal seine Eltern um Rat fragen, weil sie nicht da waren. Aber selbst, wenn sie es wären, würden sie ihm überhaupt Glauben schenken? Er konnte aktuell niemandem beweisen, dass er wirklich unschuldig war. Der Unbekannte hatte recht: sein Leben war ab sofort verpfuscht.

 

Donnerstags abends

 

Was war er froh. Endlich bekam er das, was er verdiente. Endlich wurden seine Gebete erhöht. Nicht das er an einen Gott geglaubt hätte, denn so etwas konnte es für ihn nicht geben, bei allem was er durchgemacht hatte. Aber es war eine Genugtuung für ihn zu sehen, dass er litt. Dass er nicht wusste, womit er es eigentlich zu tun hatte. Die Hintergründe nicht kannte. Und nicht wusste, wie er sich aus dieser Misere wieder befreien sollte. Sein ganzes ach so großartiges Leben war futsch. Einfach so. Dank ihm. Nun bekam er eine Ahnung davon, wie es sich anfühlte, sich ausgestoßen zu fühlen. Abgewertet. Nicht gewollt. Ausgegrenzt. Wie es war, wenn die anderen auf einen herabblickten.

 

Denn er selbst war als Baby von seiner Familie verstoßen worden. Wegen einer lächerlichen HIV-Infektion. Sein Vater hatte ihn damals einfach schonungslos vor einem Krankenhaus abgelegt, Babyklappen gab es zu dem Zeitpunkt noch nicht. Er konnte es nicht verzeihen, dass sein jämmerlicher Vater damit anscheinend nur versucht hatte, die dreckige Vergangenheit seiner Mutter zu verbergen und zu verheimlichen. Zum Glück machte HIV nicht dumm und er war nicht diese minderwertige Person, für die er so gern gehalten und verkauft worden war. Und als die er auch behandelt worden war. Er war klug und mittlerweile richtig gut im Hacken geworden und hatte deshalb auch rausfinden können, dass seine Mutter früher eine kleine, drogensüchtige Nutte gewesen war. Er hatte daraus geschlossen, dass sein Vater sich anscheinend dummerweise in sie verliebt und ihr aus Versehen auch so gleich ein Kind gemacht haben musste, denn sonst hätte seine Familie diese Verbindung nicht akzeptiert und hätte eine andere Frau als Partnerin für seinen Vater vorgezogen. Daher war die ganze Aktion im Hause Wagner wahrscheinlich gar nicht gut angekommen. Aber er stellte sich vor, dass eine Abtreibung aufgrund ihres christlichen Glaubens keine Option gewesen war. Also musste anscheinend vertuscht werden, wie und wo seine Eltern sich „kennen gelernt“ hatten und aus welchen Verhältnissen seine Mutter kam. Dass sie nicht aus gutem Hause und aus keiner gesellschaftlich angesehenen Familie kam, sondern nur Drogenprobleme und eine männerlastige Vergangenheit vorweisen konnte.

 

Allerdings können die Wagners damals noch nicht gewusst haben, dass seine Mutter auch noch mit dem Virus infiziert gewesen war, sonst hätten sie einer Heirat und somit offiziellen Aufnahme in die Familie wahrscheinlich niemals zugestimmt. Sein Vater hatte Glück gehabt, da er anscheinend nur eine geringe Anzahl an ungeschütztem sexuellem Kontakt mit seiner Mutter gehabt hatte. Daher hatte sich das statistisch gesehene geringe Risiko einer Ansteckungsgefahr bei ihm bewahrheitet. Und nach dem positiven HIV-Test, während der Schwangerschaft, hatten sie dann wahrscheinlich nur noch geschützten Geschlechtsverkehr gehabt, wie er vermutete. Somit stellte sein Vater keine Bedrohung als Nestbeschmutzer dar, wie er spekuliert hatte, und war von Großvater verschont worden. Im Gegensatz zu seiner Mutter, welche einige Monate nach seiner Geburt unter mysteriösen Umständen bei einem Autounfall starb, wie er bei späteren Recherchen herausgefunden hatte. Er vermutete stark, dass dies vor allem mit ihrer Infektion zu tun hatte und dass diese Tatsache das Fass schließlich zum Überlaufen gebracht hatte. Die Wagners pflegten nicht zimperlich mit ihren Problemen umzugehen.

 

Er selbst stellte damals auch ein Risiko dar, das Nest zu beschmutzen. Er hatte sich zu diesem Zeitpunkt höchstwahrscheinlich über die Muttermilch, so hatte er es im Internet nachrecherchiert, angesteckt, da seine Mutter zur damaligen Zeit, Mitte der neunziger Jahre, anscheinend noch keine Medikamente dagegen hatte nehmen können. Informationen und Studien, dass das Stillen ein erhöhtes Risiko eine Infektionsansteckung darstellte, waren zu dem Zeitpunkt anscheinend auch noch nicht so bekannt und weit verbreitet gewesen. Seine Infektion hätte ebenfalls einen Hinweis auf dieses Milieu, aus dem sie stammte, geben können. Und auch das Bekanntwerden solch einer Infektion innerhalb seiner „ach so perfekten“ Familie, hätte großen Schaden anrichten können. Denn wenn diese Fakten publik geworden wären, dann wäre der gute Ruf, die aufgebauten Beziehungen, die gesellschaftliche Position, all die Arbeit und Mühe, die sein Großvater in das Familienunternehmen gesteckt hatte, dahin und umsonst gewesen. Den Vorbehalten der Öffentlichkeit, welche bei HIV häufig mit Homosexualität, negativ bewertetem Sexualverhalten und Drogenkonsum in Verbindung gebracht wurden, sollte hierbei wahrscheinlich entgangen werden. Selbst heutzutage war eine Infektion noch verpönt und es herrschten immer noch große Vorurteile, Diskriminierung, Ablehnung und Benachteiligung gegenüber Infizierten. Und dass, obwohl es jetzt Medikamente gab, die eine Übertragung bei richtiger Anwendung nahezu unmöglich machten. Er selbst erhielt zum Teil bei Fachärzten immer noch keinen Termin oder nur den letzten des Tages, wegen überzogener Vorsichtsmaßnahmen. Teilweise kam es nämlich in Patientenakten trotz Schweigepflicht immer noch zur unzulässigen Kennzeichnung der Krankheit. Und auch in aktuellen Umfragen, die es sich durchgelesen hatte, waren sich die Teilnehmer teilweise nicht sicher bzw. äußerten Bedenken, mit Infizierten dieselbe Toilette oder Geschirr zu benutzen! Der medizinische Stand der Krankheit hatte sich in den letzten Jahren zwar positiv entwickelt, aber sozial gesehen waren die Leute was das anging, immer noch auf dem gleichen Niveau wie vor 10 Jahren.  

 

Daher wollte er sich nicht vorstellen, wie es früher gewesen sein musste. Da war es doch einfach besser gewesen, das „verseuchte“ Baby zu beseitigen, nach dem die Infektion drei Monate nach seiner Geburt festgestellt worden war. Wahrscheinlich sollte er seiner Familie sogar dankbar sein, dass sie ihn nicht auch hatten umbringen lassen. Sondern ihn nur zur „Adoption“ freigegeben hatten und nur nie wieder ein Wort darüber verloren durften, dass er existierte. Oder vielleicht hatte sein Vater die Familie auch in dem Glauben gelassen, er würde nicht mehr leben? Und hatte ihn stattdessen anonym vor dem Krankenhaus abgegeben? Er hatte es vielleicht nicht übers Herz gebracht ihn auch noch zu verlieren, warum sonst sollte er diesen Brief hinterlassen haben? Er wollte ihn doch nur beschützen. Was für ein Bullshit. Aber er durfte sich jetzt nicht wieder von diesen Gedanken einlullen und besänftigen lassen. Er hatte sein ganzes Leben lang gelitten und daher wollte er es ihnen allesamt heimzahlen.

 

Es fing bereits an, nachdem Adoptionseltern für ihn gefunden worden waren, dann aber anscheinend bei den Untersuchungen herauskam, dass er infiziert war. Sie machten von ihrer Probezeit Gebrauch und gaben ihn wieder an das Amt zurück, da die Adoption zu diesem Zeitpunkt noch nicht rechtsgültig gewesen war. Wahrscheinlich konnten und wollten auch sie mit der Stigmatisierung der Umwelt in Bezug auf die Krankheit nicht leben und umgehen. Im Kinderheim angekommen wurde er dort zum Teil nicht einmal von den dubiosen Pflegefamilien ausgewählt, weil die entweder alle Angst vor ihm und seiner Krankheit hatten und er anscheinend selbst für die nicht gut genug war. Und wenn sich dann doch mal jemand erbarmt hatte, hielt dieser Zustand meistens auch nicht lange an und er wurde wieder ins Kinderheim abgeschoben. Manchen war einfach die ganze Einnahme mit den Medikamenten zu kompliziert gewesen oder sie wollten doch nicht so ein Kind betreuen, weil sie befürchteten, dass dies oft krank wird und zusätzliche Arbeit und Pflege für sie bedeutete.

 

Er hatte nie erleben können, wie es sich anfühlte, beliebt zu sein. Richtige Freunde und Vertraute zu haben. Die Liebe seiner Eltern zu spüren. Wie es war, angesehen und erfolgreich zu sein. Wie es war mit dem tollsten Mädchen der Schule zusammen zu sein. Und das nur durch seine Krankheit. Durch etwas, für das er nichts konnte.

 

Nachdem er die Umstände seiner Freigabe zur „Adoption“ mit 18 Jahren zum Teil durch einen anonymen Brief seines Vaters erfuhr, welchen eine Krankenschwester für ihn aufbewahrt hatte, sah er sich gezwungen, alles über die Geschichte, Hintergründe und seine Familie herausfinden. Denn er hatte nicht mehr damit gerechnet, jemals eine Erklärung dafür zu bekommen, warum ihm das alles widerfahren war und womit er solch ein Leben verdient hatte. Und dass dies eigentlich nur an den gesellschaftlichen Konventionen gelegen hatte und dass die Liebe nicht stärker und wichtiger als Macht, Geld und Ansehen gewesen war, bestürzte ihn immer noch zutiefst. Er hatte Glück gehabt und aufgrund von gespeicherten Fingerabrücken herausfinden können, wer diese Leute waren, hatte den Namen und die aktuelle Adresse erfahren können und war seiner Familie eines Tages schließlich vor dem Haus aufgelauert. Und er war extrem schockiert gewesen als er sah, wer da aus dem Haus seiner Eltern gelaufen kam. Zunächst einmal war seine Mutter anscheinend durch eine neue Frau ersetzt worden. Aber sie war es nicht gewesen, über die er so schockiert gewesen war. Sondern er war über Konstantins Erscheinen auf der Bildfläche verblüfft gewesen. Damit hatte er nicht gerechnet. Als er erfuhr und herausfand, wer er war, was aus ihm geworden war und wieso er ein so glückliches und zufriedenes Leben haben durfte und er nicht, nur weil er damals im Gegensatz zu ihm, anscheinend einfach die Brust verweigert hatte, war er mit jeder Stunde und mit jeder neuen Information eifersüchtiger geworden und hatte alle Ungerechtigkeiten, die ihm jemals widerfahren waren, auf ihn projiziert. Er konnte nicht ertragen, dass Konstantin all dies erleben und erfahren durfte und er nicht. Er hatte ihm sein Leben gestohlen. Ihm standen diese Dinge genauso zu, aber waren ihm verwehrt worden. Dafür wollte er Rache. Und zwar an ihm und seiner ganzen Familie. Er wollte sie alle gemeinsam in den Dreck ziehen. Sein Vater hatte nicht mit einer Silbe in dem Brief erwähnt, dass es da noch jemand anderes gab, welcher nicht vor dem Krankenhaus abgelegt worden war und mit welchem sie ihr großartiges Leben ganz normal weiterführen konnten. Von da an hatte er den Plan gefasst, Konstantin in seine Welt zu holen und ihm zu zeigen, wie hart das Leben war und seine Friede-Freude-Eierkuchen-Blase platzen zu lassen.

 

Daher hatte er das Handy in seinem Spind platziert. Das Foto erstellt. Die Nachrichten geschickt. Den Link für das Video an die ganze Schule verteilt. Und er war es auch gewesen, der den letzten Sonntagabend mit dem tollsten Mädchen der Schule zusammen verbracht hatte. Es war nicht einmal eine Anwendung von Deepfake notwendig gewesen, seine Vorbereitung hatte zu seiner Überraschung auch so ausgereicht und er hatte anscheinend so authentisch gewirkt, dass Viola den Austausch gar nicht bemerkt hatte. Und es hatte ihm so einen Spaß bereitet! Er würde nicht ruhen, bis er ihn vollständig zerstört hatte. Und vielleicht sogar seinen Platz einnehmen konnte, wenn er die Sache später geschickt aufklärte, da er ja über die notwendigen Beweise und Informationen hierfür verfügte. Er würde sich dann als Konstantin ausgeben und ihm im Tausch dafür seine Identität zuschustern. Dazu müsste er ihn nur in den Selbstmord treiben. Das wäre seine gerechte Strafe. Und dann konnte er endlich das Leben führen, welches er sich immer schon gewünscht hatte. „Ich bin dein dunkles Ich. Ich bin dein dunkles Geheimnis, von dem du nicht weißt. Ich bin dein böser Zwillingsbruder!“ schrie Oskar hinaus in die Nacht und lachte niederträchtig.  

 

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