AntigoneMENSCHEN, DIE NIEMAND SUCHT

 

Es gibt Tage, an denen die Zeichen schon in aller Frühe auf Sturm stehen.

 

Das könntest du eigentlich sofort an einigen Alarmsignalen erkennen: du schüttest dir eine Tasse Kaffee über dein neues T-Shirt. Dein Auto springt aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen nicht an. Oder du wachst mit einem dicken Pickel im Gesicht auf, gerade heute, wo du dein erstes Rendezvous mit einer tollen Frau hast, auf das du schon ewig lang wartest.

 

Jede kleine morgendliche Katastrophe sollte eigentlich ein Hinweis darauf sein, wie der Tag weitergeht. Du tust aber so, als merktest du es nicht. „Das sind die üblichen Missgeschicke, die jedem passieren können”, sagst du dir. „Nichts von Bedeutung. Es wird ein toller Tag!”. Obwohl sich die Missgeschicke häufen, ignorierst du sie bis es einfach nicht mehr geht. Am Ende kommst zu dem Schluss, du wärst besser im Bett geblieben.

 

Heute war einer dieser Tage.

 

Wie immer klingelte mein Wecker um 6. Als ich jedoch meinen rechten Hausschuh anziehen wollte, wusste ich: „Hier, stimmt etwas nicht!”

 

„Verdammt!”, fluchte ich und schaute Sherlock, den drei Monate alten Golden Retriever meines Mitbewohners an, der in der Ecke meines Zimmers schlief.

 

Auf einem Bein hüpfte ich ins Badezimmer um mir, im wahrsten Sinne des Wortes, die Scheiße abzuwaschen und danach auch gleich zu duschen. Frisch und sauber föhnte ich meine kurzen blonden Haare, stylte sie mit ein wenig Haargel und ging die Treppe hinunter in die Küche.

 

Nach einem kurzen Frühstück mit meinem Mitbewohner, Kollegen und Freund Ben und zwei Tassen starken Kaffees, war ich bereit den Tag zu beginnen. Es war ausnahmsweise mal ein sonniger Morgen hier in Berlin.

 

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Ahnung, dass dieser Tag einer der Tage werden würde, an denen ich besser im Bett geblieben wäre.

 

Das würde sich aber sehr bald ändern.

 

 

Als es passierte waren Ben und ich gerade auf dem Weg ins Büro.

 

„Hey, Lucas, was ist denn das?”, fragte Ben und zeigte in Richtung unseres Vorgartens.

 

„Sieht aus wie ein Handy”, antwortete ich. Schnell lief ich hin und… tatsächlich ein funkelnagelneues Handy.

 

„Könnte jemandem aus der Tasche gefallen sein”, sagte Ben, wie immer voller Mitgefühl.

 

„Dann wollen wir mal schauen, ob wir es entsperren können. So finden wir vielleicht heraus, wem es gehört”, sagte ich.

 

Das war mein erster großer Fehler.

 

Ich ließ meinen Finger über das Display gleiten und schon war es entsperrt. „Komisch”, murmelte ich. „Es gibt doch wahrhaftig noch Menschen, die ihr Telefon nicht absichern”. Ich suchte nach Kontakten aber es gab keine. Das hätte eigentlich meine Aufmerksamkeit erregen sollen, tat es aber nicht.

 

„Schau mal in die Fotogalerie”, rief Ben, begeistert von seiner Idee. „Sollte das Handy einem unserer Nachbarn gehören, könnten wir das anhand der Fotos herausfinden”.

 

„Ok, dann lass mal sehen“. Ich tippte auf die Fotogalerie, sie öffnete sich und gleichzeitig hörte ich Bens aufgeregte Stimme. „Alter, das bist du! Auf einem fremden Handy? Was zum Teufel hat das denn zu bedeuten?”

 

Mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter.

 

Ich hätte es wissen müssen. Schon heute Morgen als das Wecker klingelte… es würde einer dieser Tage werden, an denen ich hätte im Bett bleiben sollen. Das hatte ich aber nicht getan. Folglich musste ich es irgendwie richten.

 

„Ich wette mit dir um 30 Euro, dass dieses Handy einem Mädchen gehört, das in mich verknallt ist”, sagte ich lächelnd.

 

Gleichzeitig dachte ich jedoch: „Scheiße, es gibt jemanden, der mein Geheimnis kennt. Ich muss diese Person finden und zum Schweigen bringen, bevor sie es tut“.

 

 

Meine Gedanken wurden von Ben unterbrochen.

 

„Du, ich habe eine Idee”, sagte er. „Also es ist nicht wirklich meine Idee. Ich hab mal ein bisschen gegoogelt. Handys haben eine Seriennummer. Mithilfe dieser Nummer kann man herausfinden, wem das Gerät gehört. Außerdem kann man es orten, im Falle eines Verlustes oder Diebstahls.”

 

Unsere Mittagspause machten wir bei dem Italiener an der Ecke, in der Nähe unseres Büros. Wir bestellten von der Tageskarte: Lasagne.

 

Nachdem wir das Handy gefunden hatten, wollte Ben es sofort bei der Polizei abgeben. Ich konnte ihn jedoch mit einigen Argumenten, wie „wir würden zu spät ins Büro kommen”, „der Besitzer würde sich schon selbst melden, sodass wir es ihm persönlich zurückgeben könnten” und so weiter, überzeugen, das nicht zu tun.

 

Da sagte Ben voller Enthusiasmus zu mir: „Ah, jetzt verstehe ich! Du willst deine heimliche Verehrerin treffen und mit ihr ausgehen!”.

 

„Ja, Mensch, das musst du doch verstehen. Ich bin neugierig wer dieses Mädchen ist. Es könnte sogar sein, dass wir sie kennen. So eine heiße Verehrerin kann ich mir doch nicht entgehen lassen, oder?”

 

Das war das Stichwort für meinen Mitbewohner, der sobald von einer tollen Frau die Rede war, keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Er selbst, nur 1.68 m. groß, dürr, mit einem Gesicht voller Aknenarben und eher zurückhaltend, hatte kaum Erfahrungen mit Frauen. Was liebe und Sex betraf, erlebte er alles nur indirekt, das heißt, durch meine Erzählungen.

 

„Ist es denn nicht merkwürdig, dass eine Person, die ihr Handy verloren hat, nicht wenigstens versucht, anzurufen?”, fragte Ben beharrlich weiter.

 

Seine Fragen könnten uns in große Schwierigkeiten bringen. Schwierigkeiten, gefährlich für mich und eventuell tödlich für ihn. Ich versuchte Ruhe zu bewahren und aß erstmal meine Lasagne weiter.

 

„Na ja, vielleicht hat die Besitzerin noch gar nicht gemerkt, dass sie ihr Handy verloren hat. Vielleicht ist sie Lehrerin und hat den ganzen Tag Unterricht. Oder sie ist Neurochirurgin und beugt sich gerade in diesem Moment über einen offenen Schädel und ruft „Skalpell!”, „Tupfer!”, wie in Grey’s Anatomy”, lachte ich.

 

Ben ließ der Gedanke an meine Verehrerin immer noch keine Ruhe und so fing er wieder an: „Ich wette, sie ist auch Single. Andernfalls hätte ihr Freund bestimmt mal angerufen oder wenigstens eine SMS geschickt. Du hast doch die Nachrichten nochmal gecheckt, oder?”

 

„Klar Mensch, es gibt weder alte noch neue”, log ich. Ich hatte nicht richtig gelogen, ich hatte nur die halbe Wahrheit gesagt. Es gab zwar keine neuen Nachrichten aber es gab die SMS, die von Anfang an auf dem Handy gespeichert war. Die hatte ich jedoch vor meinem Freund verheimlicht. Ich hatte sie gelöscht sobald ich im Büro angekommen war und sie gemeinsam mit der Telefonnummer des Empfängers auf ein Blatt Papier geschrieben hatte.

 

„Ich habe ihn! Er wird mir nicht entkommen!” stand in der SMS, die drei Tage zuvor datiert war.

 

Ich hätte meinen Arsch darauf verwettet, dass mit „er” ich gemeint war. Es gab also jemanden, der mein Geheimnis kannte. Die Frage war, wer? Das musste ich herausfinden und zwar schnell. Genauso schnell musste ich herausfinden, wer der Empfänger dieser SMS war, denn auch er kannte jetzt mein Geheimnis. Das machte ihn gefährlich und so eine Gefahr konnte ich auf keinen Fall riskieren.

 

Mein Magen zog sich zusammen und ein Gefühl von Übelkeit überkam mich. Die Angst, entdeckt zu werden, und eine Lasagne waren wohl keine gute Kombination.

 

„Also, was hältst du davon?”, fragte Ben und schaute mich erwartungsvoll an.

 

„Was? Wovon?”

 

„Sag mal, hast du mir überhaupt zugehört? Ich sagte, wir könnten die Seriennummer benutzen, um an die Besitzerin des Handys heranzukommen”.

 

„Mensch, ich weiß nicht. Normalerweise ist es doch Sache der Polizei, Besitzer anhand von Seriennummern ausfindig zu machen. Und weißt du was? Sollte sich die Besitzerin nicht melden, kann uns das nur recht sein. Dann können wir das Handy behalten oder verkaufen. Als einfache Versicherungsangestellte verdienen wir ja schließlich auch nicht die Welt”.

 

Ben schaute mich ungläubig an. „Lucas!”, sagte er. „Du willst doch wohl nicht unter die Kriminellen gehen?”.

 

Ich musste lachen. Wenn er wüsste…

 

„War nur ein Witz, Alter. Aber mal ernsthaft, wenn es mein Handy wäre, hätte ich sicher angerufen. Dass sie sich nicht meldet, bedeutet vielleicht, dass sie das Handy gar nicht zurück haben will”.

 

„Oder vielleicht hat sie etwas zu verbergen!”, sagte Ben.

 

„Verflucht”, dachte ich mir. Ich hatte ja ganz vergessen, dass Ben außer einer Schwäche für schöne Frauen auch eine Schwäche für mysteriöse Geschichten hatte.

 

„Mach dich nicht lächerlich, Ben!”, sagte ich lachend. „Aber ich verspreche dir, sollte sich bis heute Nachmittag niemand melden, weder telefonisch noch per SMS, dann werde ich nach Feierabend dieses Seriennummernding versuchen. Sollte ich etwas finden, sage ich es dir sofort. Falls nicht, bringen wir das Handy gleich morgen früh zur Polizei und hoffen, dass sie die Kuh vom Eis holt”.

 

„Das hört sich nach einem guten Plan an”, sagte Ben und stand auf. Unsere Mittagspause war zu Ende.

 

 

Als wir um 5 Uhr Feierabend machten, sah es so aus, als hätte ich heute endlich mal eine Glückssträhne.

 

„Hey Lucas”, sagte Ben, “ich hatte total vergessen, dass ich heute einen Zahnarzttermin habe. Könntest du mich gleich an der Praxis absetzen, bevor du nach Hause fährst?”

 

„Klar, kein Problem, Mann!”, antwortete ich. „Fantastisch!”, dachte ich mir. Das wäre genau die Zeit, die ich brauchen würde, um einige wichtige Sachen auf die Reihe zu bringen, ohne dass Ben seine Nase in Dinge steckte, die ihn nichts angingen.

 

Eine halbe Stunde später hatte ich Ben beim Zahnarzt abgesetzt.

 

Jetzt hatte ich endlich Zeit, nach diesem Scheißkerl, der mich jagte, zu suchen.

 

So, nun eins nach dem anderen: zuerst schaltete ich meinen Laptop ein, worauf ich den Inhalt des Telefons transferierte. Im Anschluss daran löschte ich die gesamten Handydaten und stellte es auf die Werkseinstellungen zurück. Das würde mir helfen, meine Spuren zu verwischen für den Fall, dass Ben wieder nach dem Handy fragen würde. Dann könnte ich es ihm bedenkenlos zeigen und erklären, dass die Besitzerin alle Daten per Fernzugriff gelöscht hätte. Die Funktion war auf vielen mobilen Geräten vorinstalliert und ihre Besitzer machten im Diebstahls- oder Verlustfalle Gebrauch davon. Diese Erklärung würde mir Ben problemlos abnehmen. Außerdem würde ich auf diese Weise auch seinen unangenehmen Fragen, wie: „Was hast du vor einem Lagerraum gemacht?” oder „Seit wann hast du einen Lagerraum?” entkommen.

 

Als alle Daten gelöscht waren, konnte ich mich endlich daran machen, nach dem Besitzer des Telefons zu suchen. Ben hatte Recht: Man konnte den Besitzer eines Mobiltelefons mittels der Seriennummer ausfindig machen. Ich bezweifelte allerdings, dass derjenige, der hinter mir her war, das Handy registriert hatte. Er würde, genau wie ich, alle Spuren verwischen wollen. Trotzdem würde ich eine Suche starten. Was hatte ich zu verlieren?

 

Wie erwartet, war das eine absolute Sackgasse. Das gleiche galt auch für die Telefonnummer, an die die SMS geschickt worden war. Wer auch immer mein Verfolger war, er hatte sich nach allen Seiten abgesichert. Verständlich. Allen Datenbanken zufolge, existierte weder die eine noch die andere Telefonnummer. Wahrscheinlich hatte er eines dieser Online-Angebote genutzt, die einem eine „lokale” Telefonnummer zuteilten, egal, wo auf der Welt man sich befand. 

 

 

 

„Ich habe ihn! Er wird mir nicht entkommen!”

 

Diese Nachricht bedeutete, dass jemand alles über mich und mein Geheimnis wusste…

 

Tief in Gedanken kaute ich auf meinem Kugelschreiber herum. Irgendetwas störte mich gewaltig an der ganzen Geschichte. Ich stellte mir tausend Fragen: War es Zufall, dass das Handy in meinem Vorgarten lag? War es gewollt dort platziert? Wurde unser Haus beobachtet? Wollte dieser jemand, dass ich wusste, dass er hinter mir her war? Wollte er, dass ich wusste, dass es noch einen anderen Komplizen gab? 

 

„Ich habe ihn! Er wird mir nicht entkommen!”

 

Jedes Mal, wenn ich über diese SMS nachdachte, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Wollte er den ersten Schachzug machen? Mit welcher Reaktion rechnete er? Wollte er mir Angst einjagen, sodass ich etwas Unüberlegtes tat und er mich so überführen konnte? Sollte ich ihm ins offene Messer laufen?

 

„Denk nach, Lucas! Denk nach”, sagte ich mir. „Was wäre anders gewesen, wenn ich das Handy allein gefunden hätte? Hätte mir meine innere Stimme gesagt, dass ich sofort zuschlagen müsste? Was genau hätte ich getan?”

All diese Fragen stellte ich mir wieder und wieder.

 

Ich schaute mir noch einmal die Fotos an, die jetzt doppelt verschlüsselt und passwortgeschützt in einem gut versteckten Ordner meines Computers gespeichert waren. Wer auch immer hinter den Fotos steckte, er wusste bereits von meinem Lagerraum. Er wusste mit hoher Wahrscheinlichkeit auch von dessen Inhalt, selbst wenn auf den Fotos nichts Verdächtiges zu erkennen war. Tausende von Menschen in Deutschland hatten einen Lagerraum. Das war weder illegal noch ungewöhnlich. Einfach ein Ort, wo man alte Möbel oder andere Gegenstände, die man nicht wegwerfen wollte, disponierte. Dass mich mein Verfolger vor dem Lagerraum fotografiert und danach das Handy absichtlich in unseren Vorgarten platziert hatte, um mir die Fotos zu zeigen, konnte nur eines bedeuten: er wusste, was in dem Lagerraum war und wozu ich ihn benutzt hatte. Er wollte mir Angst einflößen. 

 

„Ok, er kannte mein Geheimnis. Aber wer war er?”, murmelte ich. In Gedanken ging ich alles noch einmal von Anfang an durch. „Nein”, beschloss ich, „er wollte mich nicht nur einfach entlarven.“ Wenn er das gewollt hätte, hätte er das bereits getan, da er ja offensichtlich vom Inhalt des Lagerraumes wusste. Nein, mein Verfolger wollte mich töten. Es war nicht nur irgendeine x-beliebige Person, die zur falschen Zeit am falschen Ort war und etwas gesehen hatte, was nicht für ihre Augen bestimmt war. Nein, das hier betraf mich persönlich. Es ging um Rache.

 

Und wenn es um Rache ging… Jetzt wusste ich mit ziemlicher Sicherheit, wer hinter der ganzen Sache steckte!

 

„Ich hab dich, du Mistkerl!”, dachte ich.

 

Nun ging es darum meinen nächsten Schachzug sehr sorgfältig zu planen. Was erwartete er von mir? Wollte er mich an einen bestimmten Ort führen, um mir eine Falle zu stellen?

 

„Natürlich!”, rief ich und zwar so laut, dass Bens Welpe, der neben meinem Bett auf dem Boden lag, wimmernd aus dem Zimmer lief. „Der Lagerraum! Er rechnete damit, dass ich zu meinem Lagerraum ging.” Das war der Ort, an dem er mich fotografiert hatte. Er erwartete, dass ich sämtliche Beweise aus dem Lagerraum entweder verschwinden lassen oder woanders hinbringen würde. Dort wollte er mir eine Falle stellen. Da war ich ganz sicher.

 

Ich machte einen Plan, der gefährlich ja sogar überaus riskant war. Sollte ich ihn aber so ausführen können, wie ich es geplant hatte, wären all meine Probleme auf einen Schlag gelöst und ich würde einen Neuanfang wagen können.

 

Jetzt musste ich schnell handeln. Die Zeit wurde langsam knapp.

 

Ich kroch unter mein Bett, entfernte die lose Holzlatte um an mein Versteck zu kommen, das ich für alle Fälle heimlich gemacht hatte. Jetzt sah es so aus, als wäre dieses Versteck eine gute Idee gewesen. Ich nahm den Schlüssel zu meinem Lagerraum heraus und legte das ausgeschaltete Handy hinein, zog meine Jacke an und ging zu meinen Auto.

 

Zuerst ein bisschen Shopping und dann wurde es Zeit zu handeln.

 

 

Mein Auto parkte ich in der Nähe des Areals, auf dem ich meinen Lagerraum gemietet hatte. Um diese Tageszeit, am späten Nachmittag, gab es kein Sicherheitspersonal mehr. Die Überwachungskameras funktionierten sowieso nie. Das war auch der Grund, aus dem ich diesen Lagerraum angemietet hatte.

 

Nun hing alles davon ab, ob mein Verfolger und eventuell auch sein Komplize schon da waren, bereit, mich zu angreifen. Ich hoffte, sie waren gemeinsam gekommen, denn so konnte ich mir eine weitere aufwändige Suche nach seinem Komplizen sparen. Da ich 1.92 m. groß und ziemlich muskulös war, würde mein Verfolger kein Risiko eingehen und allein kommen. Er würde auf Nummer sicher gehen wollen.

 

In der Hoffnung, seine Intelligenz nicht überbewertet zu haben, ging ich langsam auf meinen Lagerraum zu.

 

Da, Nummer 96. Ich bückte mich, tat so, als würde ich meinen Schuh zubinden und wartete. Wenige Sekunden später spürte ich einen schweren, harten Gegenstand auf meinem Kopf und verlor sofort das Bewusstsein.

 

 

Ich war nicht in der Lage einzuschätzen, wie viel Zeit vergangen war, als ich durch laute Stimmen geweckt wurde. Mein Kopf dröhnte. Ich versuchte die Augen zu öffnen, schloss sie aber schnell wieder, gleißendes Licht blendete mich. Meine Arme und Beine konnte ich nicht bewegen. Ich fühlte jedoch, dass ich in aufgerichteter Position war. „Hatte mich jemand an mein eigenes Andreaskreuz gefesselt?”, dachte ich. „War mein Plan schief gegangen? Würde ich gleich sterben?”

 

„Er ist wach!”, sagte eine Frauenstimme. Sehr langsam öffnete ich meine Augen wieder.

 

„Können Sie mich verstehen?”, fragte sie.

 

„Ja”, antwortete ich schwach. Alles tat mir weh.

 

„Sie sind verletzt aber Sie sind in Sicherheit. Die Sanitäter werden Sie von den Fesseln befreien und ins Krankenhaus bringen.” Sie wandte sich an beiden Männer mit der Bahre. „Macht die Fesseln ab und versorgt ihn”.

 

„Sie hatten einen Schutzengel!” sagte sie zu mir. „Glücklicherweise bekamen wir einen heißen Tipp von einem anonymen Anrufer. Wenn wir nicht rechtzeitig hier gewesen wären, wären sie jetzt tot und diese Monster würden frei herumlaufen”.

 

 

„Mann, ich fasse es nicht! Ist das alles wirklich passiert?”, rief Ben.

 

Heute früh war ich aus dem Krankenhaus entlassen worden und jetzt saßen Ben und ich vor dem Fernseher und schauten uns gemeinsam die Nachrichten an.

 

„Ich hätte niemals gedacht, dass es solche Monster gibt und dass sie unter uns leben, du?”

 

Ich schüttelte den Kopf. Natürlich gab es solche Monster. Ich wusste es ganz genau, denn ich war eines von ihnen.

 

Vor drei Tagen, als wir das Handy fanden, war ich mir ziemlich sicher, dass jemand mein Geheimnis entdeckt hatte. Und zwar nicht durch Zufall, er hatte nach mir gesucht. Deshalb stand für mich fest, es gab eine Verbindung zwischen ihm und einem meiner vielen Opfer. So kam ich auf seine Spur.

 

Bei der Wahl meiner Opfer hatte ich mir immer sehr viel Mühe gegeben. Es waren immer Menschen, die niemand vermisste, nach denen niemand jemals suchen würde und die man auf keinen Fall mit mir in Verbindung bringen konnte.

 

Trotzdem war ich scheinbar beim ersten Mal nicht vorsichtig genug gewesen. Damals, vor zehn Jahren, als ich anfing, Menschen zu töten. Meine Mordlust war unbändig. Ich war zu begierig. Zu aufgeregt. Deshalb war ich bei der Wahl meines Opfers schlampig gewesen. Ich hatte geglaubt, Sarah wäre nur ein Junkie, die auf der Straße lebte, die keine Familie mehr hatte und die niemand vermissen würde.

 

Ich hatte mich geirrt. Es gab keine große Familie. Nur einen Vater, der sie aber sehr liebte. Obwohl sie nichts mit ihm zu tun haben wollte, war ihr Vater jedoch besorgt um sie. Wollte da sein, wenn sie ihn brauchte. Wollte da sein, wenn sie sich eventuell für einen Entzug entscheiden würde. Deshalb versicherte er sich regelmäßig, ob sie noch lebte.

 

Als Sarah plötzlich verschwunden war, begann er sofort, sich umzuhören. Kurz vor ihrem Verschwinden hatte mich jemand beobachtet, als ich mit ihr sprach. Mit dieser Tatsache konfrontierte mich ihr Vater kurz darauf. Er konnte mir jedoch nichts beweisen.

 

„Mit dir stimmt etwas nicht”, hatte er mir damals gesagt. Das Lächeln des “netten Jungen von nebenan” hatte er mir nicht abgenommen, wie es normalerweise alle Leute taten. Er hatte mich dabei so angeschaut, als wüsste er, dass ein Monster vor ihm stand. Manche Menschen haben einen siebten Sinn für soetwas. Er war einer von ihnen.

 

Kurz nach unserer Begegnung zog ich nach Berlin um. Ich lebte mein Leben weiter und dachte, er würde das Gleiche tun. Ich hatte mich geirrt.

 

 

Als ich die Fotos auf dem Handy sah, ahnte ich bereits, wer dahinter stecken könnte. Je länger ich darüber nachdachte, desto sicherer wurde ich mir. Es war niemand der mich hinter Gittern sehen wollte. Er wollte mich leiden sehen, so wie ich hatte seine Tochter leiden sehen wollen. Auge um Auge, Zahn um Zahn.

 

So beschloss ich, den Spieß umzudrehen.

 

 Als ich herausgefunden hatte, wer mein Verfolger war, begann ich, meinen Plan in die Tat umzusetzen.

 

Zuerst hatte ich Ben eine SMS geschickt, sodass er wusste, dass ich auf dem Weg war, um den Besitzer des Handys zu treffen. Sollte mein Plan aufgehen, hätte ich ein einwandfreies Alibi.

 

Dann fuhr ich ins Einkaufszentrum um ein Handy zu kaufen. Es musste das gleiche Modell sein, wie das, was wir in unserem Vorgarten gefunden hatten. So würde es der Polizei unmöglich sein, irgendwelche Daten zurückzuverfolgen, denn es handelte sich ja nicht um das Originalhandy.

 

Als das erledigt war, begab ich mich direkt zu meinem Lagerraum. Von unterwegs tätigte ich noch ein kurzes, anonymes Telefongespräch mit der Polizei, um sicherzustellen, dass sie sich sofort auf den Weg machte.

 

In der Nähe des Lagerraumes platzierte ich noch schnell das neue Mobiltelefon, damit die Polizei es problemlos finden konnte. Zusammen mit Bens Aussage, dass ich das Gefunde Handy zurückbringen wollte, würde es meiner Geschichte die notwendige Glaubwürdigkeit verleihen. Nun stand ich vor meinem Lagerraum und wartete auf den Angriff.

 

Ich rechnete damit, dass Sarahs Vater mich quälen wollte, wie ich damals seine Tochter gequält hatte, denn auf diese Weise konnte ich Zeit gewinnen, damit die Polizei ihn auf frischer Tat ertappen konnte. Würde er mich allerdings sofort töten oder käme die Polizei zu spät, hätte meine letzte Stunde geschlagen.

 

Zum Glück lief alles, wie ich es erwartet hatte. Als mein Angreifer die umfangreiche Sammlung von Folterinstrumenten und das Andreaskreuz in meinem Lagerraum gesehen hatte, konnte er nicht widerstehen. So hatte er mir die Zeit verschafft, die ich bis zum Eintreffen der Polizei brauchte.

 

Sofort verhafte sie ihn und seinen Komplizen und als sie später das Lager durchsuchte, trauten die Beamten ihre Augen nicht! Gefrierschränke voller Leichenteile. Elf Leichen, um genau zu sein. Die erste war Sarah.

 

Ich war immer sehr sorgfältig gewesen: keine DNA-Spuren, keine Fingerabdrücke. Den Lagerraum hatte ich unter falschem Namen angemietet. So ging die Polizei davon aus, dass mein Angreifer und sein Komplize die Serienmörder waren. Schließlich hatte sie die beiden auf frischer Tat ertappt.

 

Der Polizeipsychologe sagte später in der Pressekonferenz, ihr erstes Opfer sei Sarah gewesen und im Anschluss daran hatten sie noch zehn weitere Morde begangen.

 

Eine Reporterin im Fernsehen fragte: „Wie konnte so etwas hier in Deutschland, vor unserer Nase passieren, ohne dass irgendjemand darauf aufmerksam wurde?”

 

„Das ist ganz einfach zu beantworten”, dachte ich. „Es gibt mehr als 860.000 Obdachlose in Deutschland. Ihr geht jeden Tag an ihnen vorbei, tut aber so, als säht ihr sie nicht. Weil ihr sie nicht sehen wollt. Doch ich, ich sehe sie. Ich bin für sie da. Ich begleite sie, bis zum Schluss. Zeitweise täuscht ihr Interesse vor. Ihr diskutiert darüber, dass sie beschützt werden müssen, dass der Staat eingreifen und sie von der Straße holen soll. Sehr schnell vergesst ihr jedoch sowohl eure guten Vorsätze als auch die Menschen auf der Straße.

 

Doch ich vergesse sie nicht. Ich werde da sein, ich werde auf sie warten. Ich… ihr persönlicher Todesengel. Ich habe noch andere Lagerräume, in anderen Städten. Lagerräume, die ich mit großer Sorgfalt für die Menschen gestaltet habe, die ihr nicht seht. Lagerräume, die nur darauf warten, sie willkommen zu heißen…”

 

 

 

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