Marie1974Mieses Karma

Susan räkelte sich in ihren Kissen. Die Sonne hatte sie geweckt. Sie griff nach ihrem Wecker. Erst 8 Uhr. Sie hatte also noch alle Zeit der Welt. Also genau genommen hatte sie sowieso alle Zeit der Welt. Sie war Hausfrau. Auch wenn sie den Klang des Wortes nicht mochte. Sie zog es vor, als Frau von… bezeichnet zu werden. Die Frau von Max Meurer nämlich. Ein klangvoller Name zu einem hinreißenden Mann, der ihr ein wundervolles Leben ermöglichte. Max war Schauspieler. Angefangen hatte er vor fast 20 Jahren als Mime in einer Daily Soap. Jahrelang spielte er einen fast immer arbeitslosen Diskjockey, der den Irrungen und Wirrungen einer Frankfurter WG ausgesetzt war. Schon damals himmelte Susan ihn an. Er war der Grund, warum sie jeden Abend direkt nach Feierabend aus dem Frisiersalon hetzte, in dem sie eine Ausbildung machte und noch mit Schuhen und Jacke den Fernseher um 18:30 Uhr einschaltete, um ja keine Sekunde ihres großen Schwarms zu verpassen.

 

Susan rollte sich aus dem Bett und zog sich den Morgenmantel über. Trotz der Sonnenstrahlen, die durch die Scheiben fielen, war es leicht frisch im Haus. Es war Mitte März und die Nächte noch empfindlich kalt. Sie schlüpfte in ihre Hausschuhe und ging hinunter in die Küche und betätigte abwesend den Kaffeeautomaten. An die Arbeitsfläche gelehnt, blickte sie in den weitläufigen Garten. Ob Max schon wach, aber noch im Hotel war? Er drehte gerade in Ostfriesland einen Psychothriller und war seit 6 Wochen fort. Susan hatte ihn schon drei Mal in Harlingersiel besucht. So handhabten sie das immer. Alle zwei oder drei Wochen verbrachte sie ein paar gemeinsame Tage an seinem Drehort. Früher war sie manchmal die ganze Zeit bei ihm geblieben. Die Zeiten, in denen sie Max auf Schritt und Tritt zu den Dreharbeiten begleitete, waren allerdings vorbei. Meist war ihr das viel zu langweilig. Sie saß den ganzen Tag im Hotelzimmer oder Trailer herum und wartete. Abends dann gingen sie häufig mit den ganzen Kollegen gemeinsam zum Dinner. Eigentlich fühlte sie sich nicht wohl zwischen den ganzen Schauspielern. Das waren Freigeister, häufig spirituell angehauchte Wesen, die an Vorzeichen und Karma glaubten. Wenn die Gespräche abends beim Essen in diese Richtung gingen, lehnte sich Susan mit ihrem Glas Wein in der Hand zurück und schwieg. Sie konnte nichts beitragen und wollte tunlichst vermeiden, dass sie in den Augen der anderen von der Meurer-Gattin zur dahergelaufenen Frisörin degradiert wurde. Deshalb trank sie an solchen Abenden zu viel, nur um dann müde wie ein Stein ins Bett zu fallen. Wenn sie Max hingegen nur ein paar Mal besuchte, nahm er sich Zeit für sie, führte sie herum, aß mit ihr allein in feinen Restaurants zu Abend und liebte sie nächtelang. Das gefiel ihr besser. Sie schämte sich ihrer Herkunft vor den Menschen aus ihrem jetzigen Leben, auch wenn Max immer wieder deutlich machte, dass er sie liebte, egal woher sie kam und welchen Beruf sie erlernt hatte.

 

Mit dem fertigen Kaffee in der Hand lief sie über den dicken Teppich im Korridor ins Wohnzimmer, nahm ihren Organizer und setzte sich auf den großen, beigefarbenen Kuschelsessel, der nahe des Kamins stand. Sie schleuderte ihre Hausschuhe zur Seite und genoss die Wärme der Fußbodenheizung unter ihren nackten Füßen. Vielleicht würde sie sich heute Abend zusätzlich den Kamin anmachen. Sie hatte nichts vor. Keinen Frisörtermin, keine Maniküre, keine Pediküre, keine Lunch-Verabredung mit anderen „Frauen von…“ und auch kein Yoga-Training. Sie würde dem neuen Bioladen, der in der Parallelstraße aufgemacht hatte, einen Besuch abstatten. Um mehr brauchte sie sich keine Gedanken zu machen. Was für ein Leben!

 

Sie lehnte sich gedankenverloren zurück und genoss den heißen Kaffee. Sie hatte Max bei einem Blind Date kennengelernt. Sie war sofort verloren. Aber auch er hatte einen Narren an ihr gefressen. Jeden Abend nach Drehschluss rief er sie an. Sie trafen sich mit Ausnahme des ersten Treffens immer bei ihm in seiner kleinen Zweizimmer-Wohnung. Er wollte Presse vermeiden. Und auch ihr war das Recht. Als Auszubildende in einem Frisiersalon verdiente sie sehr wenig und hätte sich dauernde Restaurantbesuche nicht leisten können. Auch Max verdiente damals noch nicht so viel, dass er sie jedes Mal hätte einladen können. So genossen sie die Zeit bei ihm in der Wohnung. Sie selbst wohnte noch bei ihren Eltern, die von der Liaison zunächst nichts erfahren sollten. Es war Max wichtig, dass von der noch zarten Verbindung nichts nach außen dringen sollte, bevor sie wussten, ob es ernst zwischen ihnen werden würde.

 

Sie beendete schließlich ihre Ausbildung und fand einen gut bezahlten Job im hauseigenen Frisiersalon des ersten Hotels am Platz. Schon nach kurzer Zeit hatte Sie auch eigene Stammkunden, aber hauptsächlich kamen wohlhabende weibliche Hotelgäste, die mit ihren Männern einen Ball besuchen wollten oder einen Abend in der Oper genossen und sich zu diesem Zwecke frisieren ließen. In der Ballsaison überstieg das monatliche Trinkgeld nicht selten den festen Lohn, der ihr gezahlt wurde.

 

Nach drei Jahren Beziehung mit Max – sie hatte ihn auch schon einige Male auf dem roten Teppich begleitet – sprachen sie über eine gemeinsame Zukunft. Als sich Susan immer häufiger dessen bewusst wurde, dass es an der Zeit war, flügge zu werden und ihr Elternhaus zu verlassen, lag es in der Natur der Sache, dass sich beide, deren Beziehung schon längst kein Geheimnis mehr war, eine gemeinsame größere Wohnung suchten. Sie fanden eine wundervolle Vierzimmer-Wohnung in der Altstadt mit Blick auf den Marktplatz.

 

Max war der Rolle des Diskjockeys langsam entwachsen, was auch den Serienschreibern nicht länger verborgen blieb und so fiel seine Rolle bald den Flammen in dem Club, in dem er auflegte, zum Opfer. Einige Monate hielt er sich mit Fernseh-Nebenrollen und einem kleinen Theater-Engagement über Wasser, dann kam ihm der Zufall zu Hilfe. Bei einer Talkshow zum Thema „Daily Soap – Harte Arbeit oder neue Kunstform?“ lernte er den großen deutschen Regisseur Clemens Rödter kennen. Die beiden waren sich sofort sympathisch und Clemens versprach ihm abends bei einem gemeinsamen Bier an der Hotelbar, bei der nächsten Produktion an ihn zu denken. Dass es sich dabei um kein Lippenbekenntnis gehandelt hat, wurde Max bewusst, als Clemens nur drei Wochen später anrief und ihm eine große Nebenrolle in einem Fernsehfilm anbot. Max schlug sofort ein und der Film wurde ein voller Erfolg. Die nächsten Rollen waren dann schon die der Co-Stars und nur zwei Jahre später folgte der erste Kinofilm. Als der Vertrag für den zweiten Kinofilm unterzeichnet war, bot Max Susan an, ihren Job an den Nagel zu hängen, weil sie finanziell gut aufgestellt waren und sie so die Gelegenheit hatte, ihn zu den Dreharbeiten zu begleiten. Sie dachte nicht lange nach und kündigte sofort, wenn auch mit einem lachenden und einem weinenden Auge ihre Anstellung im Hotel-Frisiersalon.

 

Bald darauf kaufte Max dieses wundervolle Anwesen, auf dem sie vor vier Jahren schließlich auch ihre Hochzeit feierten und noch heute lebten. Sie war inzwischen 34 Jahre alt und ihre Ehe war bisher kinderlos geblieben. Aber sie hatte auch so daheim ganz schön viel zu tun. Sie kümmerte sich um die ganze Fanpost und erledigte für Max die anfallenden Büroarbeiten. Außerdem war sie in einige Charity-Projekte involviert und hierfür auch hin und wieder europaweit unterwegs. Wenn sie, so wie jetzt, auf ihr Leben blickte, hatte sie alles richtig gemacht. Das einzige, was ihr fehlte, war die eine richtige beste Freundin, die sich jede Frau von Kindesbeinen an wünscht. Sie hatte als junges Ding eine langjährige Freundschaft mit Manu, mit der sie zusammen die Schulbank gedrückt hatte, aber die Freundschaft war an der Verbindung zu Max zerbrochen. Es waren Neid und Missgunst im Spiel, womit Susan nicht umgehen konnte. Schon nach dem ersten Treffen mit Max brach Susan den Kontakt zu Manu ab. Eine neue Freundschaft hatte sich seither einfach nicht ergeben.

 

Gestärkt vom Kaffee sprang Susan auf. Sie lief barfüßig hoch ins Bad und putzte sich die Zähne. Dann genoss sie den breiten weichen Strahl ihrer Aroma-Regenwalddusche. Sie schlüpfte in eine beigefarbene Hose und wählte einen braunen Strickpulli mit zarten Goldfäden aus. Ihre blonden Haare fielen ihr nach dem Bürsten seidenweich über die Schultern. Susan stand vor dem Spiegel, als sie ihre Steppweste überzog. Sie war eine attraktive Frau, keine Frage. Auch wenn sich nicht leugnen ließ, dass sie die 30 längst hinter sich gelassen hatte.

 

Leichtfüßig hüpfte sie die Treppe hinunter, griff nach Schlüsseln, Geldbörse und Tasche und verließ das Haus. Susan beschloss, die paar Schritte zu Fuß zu gehen und ihren heiß geliebten und liebevoll restaurierten VW Käfer stehen zu lassen. Sie öffnete das Tor mit der Fernbedienung, während sie noch den geschwungenen Weg vom Haus zur Straße hinunterlief und einen der Gärtner grüßte, der gerade damit beschäftigt war, Frühlingsblumen in die Beete neben dem Fahrweg zu pflanzen. Das Tor öffnete sich leise surrend und schloss sich automatisch hinter Susan.

 

Der neue Bioladen war eine Offenbarung. Bisher gab es hier in der Nähe nur einen mickrigen, dunklen, Kramladen, der von einer oberlippenbärtigen Mitvierzigerin in Jesuslatschen und Schafswollweste betrieben wurde, die an guten Tagen leicht nach Kernseife roch. Die Waren lagen verstaubt in den Regalen und man war gut beraten, bei allem, was man in seinen Einkaufskorb lud, das Mindesthaltbarkeitsdatum zu überprüfen.

Der neue Laden war groß, hell und freundlich eingerichtet. Es gab sogar Einkaufswagen und nicht nur die lästigen und für die engen Gänge viel zu sperrigen Drahtkörbe wie in dem alten Bioladen. Der Laden hatte guten Zulauf. Es war den Betreibern zu wünschen, dass wenigstens die Hälfte der heutigen Kundschaft wiederkäme. Dann war ein gutes wirtschaftliches Auskommen gesichert.

 

Die Obst- und Gemüseabteilung lud zum Stöbern ein, denn hier konnte man unter anderem zwischen vielen alten deutschen Obstsorten wählen. Besonders wurde Susan von den Tomaten angezogen. Es gab sechs verschiedene Sorten, bei denen es sich teilweise auch um irgendwelche italienischen „Ursorten“ handelte. Von jeder Sorte waren Tomaten aufgeschnitten und wurden zum Probieren angeboten. Susan griff beherzt zu und probierte sich durch die kleinen roten Stückchen. Sie nahm sich begeistert ein kleines Stoffsäckchen vom Ständer und packte sich vier von den Flaschentomaten ein. Mit ein wenig frischem Schnittlauch, einem schönen Stück Käse und einer guten Flasche Wein würde daraus ein perfektes Abendessen werden. Susan kam zurück zu ihrem Einkaufswagen. Sie hatte wieder einmal ihre Handtasche darin stehen lassen. Schon seit Susan die erste Handtasche besaß, hatte ihre Mutter versucht, ihr einzubläuen, diese nicht unbeaufsichtigt im Einkaufswagen stehen zu lassen. Bis heute ohne Erfolg. Susan kontrollierte ihre Handtasche und konnte aufatmen, alles war noch da. Ihre Mutter hatte stets den Teufel an die Wand gemalt, aber bisher wurde Susan noch nie etwas gestohlen.

 

Gerade, als sie ihre Handtasche wieder auf den Kindersitz des Einkaufswagens stellen wollte, fiel ihr Blick auf ein Smartphone, welches auf der Sitzfläche des Kindersitzes lag. Susan blickte sich suchend um, ob jemand sein Handy versehentlich im falschen Wagen abgelegt hatte. Aber in keinem Einkaufswagen in der Nähe lag eine Handtasche, die ihrer eigenen auch nur entfernt ähnelte, so dass eine Verwechslung eigentlich ausgeschlossen war. Hatte das Handy vielleicht schon auf dem Sitz gelegen, als sie den Wagen an sich genommen hatte? Sie überlegte kurz. Nein, sie hatte den Wagen aus der Wagenreihe gezogen, da war der Kindersitz eingeklappt. Jemand muss also ihre Handtasche angehoben und das Handy darunter platziert haben. Nur warum? Sie legte ihre Handtasche ab und nahm das Handy in die Hand. Vielleicht war ein Hinweis angebracht, der auf den Besitzer schließen ließ. Aber sie konnte nichts entdecken. Sie drückte den seitlichen Knopf und das Display erhellte sich. Sie blickte auf den Startbildschirm. Das Handy war nicht durch eine PIN gesichert. Seltsam. Jeder sicherte doch sein Handy, oder? Der Eigentümer hatte WhatsApp, die Telefon-App und die Galerie auf der ersten Startseite. Mehr nicht. Das war seltsam. Das und auch die Tatsache, dass es nicht gesperrt war, sprachen dafür, dass das Gerät einem älteren Menschen gehörte, der von einer PIN und mehreren App-Icons auf dem Startbildschirm überfordert wäre. Wieder blickte sich Susan um, erblickte jedoch niemanden über 60 um sich herum. Auch sonst schien niemand in ihrer direkten Umgebung nach seinem verlorenen oder verlegten Handy Ausschau zu halten. Sie hatte eine Idee und öffnete die Galerie, um nach Fotos zu forschen, auf denen vielleicht der Handy-Eigentümer zu sehen war. Vielleicht könnte sie ihn so identifizieren. Sie zog ihre Lesebrille aus ihrer Tasche und setzte sie auf, gerade als sich das erste Foto öffnete. Susan fuhr der Schreck in alle Glieder und sie schnappte nach Luft. Das Handy fiel ihr aus der Hand und landete im Einkaufswagen. Ein junger Mann neben ihr bückte sich in ihren Wagen und hielt ihr das Handy entgegen. „Achtung, das Ding ist aus Glas. Oh, geht es Ihnen nicht gut?“ Besorgt sah er ihr ins Gesicht. Sie nickte nur. Er nahm sie am Ellenbogen und führte sie zu einer kleinen Bank, die gegenüber von der Obstabteilung neben dem Regal mit den Hof-Eiern an der Wand stand. Susan ließ sich auf die Sitzbank drücken. Das Handy hielt sie wieder in ihren Händen. Wie war es da hingekommen? Der junge Mann stand jetzt wieder vor ihr und hielt ihr ihre Handtasche hin. „Die sollten Sie nicht unbeaufsichtigt im Einkaufswagen liegen lassen. Wer weiß, wer hier gerade so rumschleicht. Kann ich noch etwas für Sie tun? Soll ich einen Arzt rufen? Oder einen Angestellten holen?“ Susan schluckte und räusperte sich. „Nein, nein, das geht schon. Das ist nur der Kreislauf. Das habe ich öfter mal. Vielen Dank.“ Zweifelnd blickte er auf sie herab. Wie er da so vor ihr stand, wirkte er beinahe bedrohlich. „Sind Sie sich sicher? Nicht, dass Sie noch umkippen und sich den Kopf anhauen. Das wäre ja schade drum…“ Er grinste schief und sein rechtes Augenlid zuckte. Er legte Susan eine Hand auf die Schulter. Susan verspürte einen Anflug von Angst, sie wollte nicht, dass er sie anfasst. Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen und stand auf. Ihre Beine zitterten, sie hoffte, er würde das nicht merken. „Ich falle nicht um. Hören Sie, ich weiß Ihre Fürsorge zu schätzen, aber mir geht es gut und ich brauche keine Hilfe. Vielen Dank.“ Sie war vermutlich etwas lauter als beabsichtigt, denn der junge Mann trat sofort einen Schritt zurück und riss beide Hände hoch. „Ho, ho, ho, immer langsam, ich habs ja nur gut gemeint. Bleiben Sie locker. Dann eben nicht, ist mir doch egal, was mit Ihnen ist. Ich wollte nur nett sein.“ Er wandte sich ab und stapfte vor sich hin meckernd davon. Erschöpft ließ sich Susan wieder auf die Bank sinken. Sie blickte auf das Handy. Schwer und warm lag es in ihrer Hand. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor. Sie drückte wieder auf den seitlichen Knopf und das eben geöffnete Foto erschien auf dem Handydisplay. Und wieder blieb ihr die Luft weg. Sie sah ein Foto des Münsters, dem Wahrzeichen der Stadt. Doch direkt vor dem Münster stand eine schöne blonde Frau, die sich lachend ein Handy ans Ohr hielt. Diese Frau war sie selbst. Sie konnte sich genau an die Situation erinnern. Das war vor ungefähr zwei Wochen, als sie durch die Stadt lief und Max in einer Drehpause anrief. Er erzählte ihr eine lustige Anekdote vom Dreh und sie musste laut lachen.

Wer machte ein Foto von ihr? Und warum wurde ihr nun dieses Handy „zugespielt“? Was sollte das? Sie schloss das Foto und sah sich das nächste Foto an. Noch ein Bild von hinten, wie sie auf dem Hauptbahnhof stand. Auf dem Fahrzielanzeiger direkt über ihr stand etwas von einer Verspätung von 50 Minuten. Das Foto war vor 10 Tagen entstanden, als sie auf dem Weg nach Harlingersiel zu Max war. Sie sah sich weitere drei Fotos an, auf allen war sie in normalen Alltagssituationen auf der Straße zu sehen. Alle waren innerhalb der letzten zwei Wochen hier in der Stadt aufgenommen worden. Susan sah sich abermals in alle Richtungen um. Vielleicht beobachtete sie derjenige, der ihr das Handy überlassen hatte ja. Aber niemand schien sie zu beachten. Nur der junge Mann, der ihr eben noch geholfen hatte, stand an der Kasse in der Schlange und funkelte sie wütend an. Ob er damit etwas zu tun hatte? War er ein Stalker? Immerhin hatte er versucht, in dieser abstrusen Situation mit ihr zu flirten. Aber wenn er nicht wusste, was ihr gerade widerfahren war, war die Situation für ihn gar nicht so abgehoben. Vielleicht war Sie für ihn nur eine nicht mehr ganz junge Frau, der schwindelig geworden war. Wenn er allerdings dahintersteckte, war das ein ganz perfides Spielchen, welches er hier mit ihr spielte. In jedem Fall sollte sie demjenigen, der sich hinter dieser Aktion verbarg, keine Angriffsfläche bieten. Sie atmete tief durch, pfefferte das Handy in ihre Handtasche und erhob sich. Mit strammen Schritten lenkte sie den Einkaufswagen mit den Tomaten zur Kasse. Sie hoffte, einfach nur bald aus diesem Laden verschwinden zu können, wollte sich aber auch nicht die Blöße geben, den Einkauf stehen zu lassen und das Geschäft fluchtartig zu verlassen. Immerhin war es durchaus möglich, dass sie beobachtet wurde.

 

Als sie aus dem Laden in die Sonne trat, war der junge Mann nicht mehr zu sehen. Schnellen Schrittes machte sie sich auf den Heimweg. Als sie von weitem den Gärtner auf dem Gehweg entdeckte, der gerade die Hecke von außen trimmte, durchflutete sie Erleichterung. Gleich war sie daheim. Sie konnte nicht anders, sie rief laut „Huhu!“ und winkte dem Gärtner, der leicht zögerlich und irritiert zurückwinkte. Durch den Blickkontakt, den sie hergestellt hatte, fühlte sie sich sofort sicher. Jetzt konnte ihr niemand mehr unbemerkt zu nahekommen. Sie legte sonst großen Wert darauf, eine gesunde Distanz zu ihren Mitarbeitern zu halten. Max war beruflich bedingt so gut wie nie da, sie wollte daher durchaus von den Angestellten als die Chefin wahrgenommen und nicht als abhängige Hausfrau belächelt werden. Schließlich erteilte sie tagaus, tagein die Arbeitsaufträge, auch wenn sie Vieles davon mit Max absprach.

 

Der Gärtner hatte ihr bereits das Tor geöffnet und sah ihr irritiert hinterher, als sie hektisch an ihm vorbeilief. Sie zwang sich zur Ruhe, was ihr jedoch nicht gelang. Sie stürmte die Stufen zum Eingang hoch und gab den PIN-Code ein, mit dem sich die Tür öffnen ließ. Sie betrat das Entree und warf die Tür hinter sich zu. Susan ließ Handtasche und Tomatenbeutel fallen und lehnte sich mit dem Rücken an die Tür. Tief atmete sie den Geruch ihres Zuhauses ein, der ihr Geborgenheit und Sicherheit versprach. Susans Beine zitterten, ob vor Angst oder wegen des strammen Schrittes auf dem Heimweg war unklar. Sie rutschte mit dem Rücken an dem Türblatt hinab und umschloss ihre angewinkelten Beine mit den Armen. Was sollte sie nur machen? Was hatte es mit dem Handy auf sich? Und warum war sie verdammt nochmal immer alleine, wenn sie jemanden brauchte? Warum war Max Schauspieler und nicht Banker oder so? Dann wäre er jeden Abend zuhause. Normalerweise genoss Susan ihre Eigenständigkeit und die Abwesenheit von Max regelrecht. Sie hatte sich ihr eigenes Leben aufgebaut und da sie Max so selten sah, blieb die Beziehung spannend, romantisch und voller Feuer, auch wenn sie sich lange nicht mehr so häufig und wild liebten wie früher. Das kam ihr aber entgegen. Diesen ganzen Turnübungen, in die der Sex am Anfang ihrer Beziehung ausgeartet war, konnte sie nichts abgewinnen. Vieles davon hatte sie seinerzeit nur Max zuliebe über sich ergehen lassen.

 

Jetzt saß sie hier jedoch alleine, fühlte sich bedroht und überfordert. Sie würde sich erstmal einen Kaffee machen und dann versuchen, Max telefonisch zu erreichen.

Sie rappelte sich auf und hängte ihre Steppweste an den Haken legte die Tomaten in die Küche. Dann verschwand sie kurz im Schlafzimmer und kehrte in Jogginghosen und Schlabber-Shirt zurück. Sie lief ins Wohnzimmer, schlüpfte in ihre ordentlich neben dem Sessel stehenden Hausschuhe und ging in die Küche. Während der Kaffeeautomat mahlte, blubberte und zischte, verstaute sie die Tomaten im Kühlschrank und dachte nach. Irgendetwas hatte sie übersehen. Sie nahm sich dann den Kaffee, ihres sowie das fremde Telefon und setzte sich im Wohnzimmer in ihren Kuschelsessel, der sie emotional weniger umfing als noch am Morgen. Susan wählte Max‘ Nummer. Sie erreichte nur die Mailbox und hinterließ eine Rückrufbitte. Dabei verzichtete sie auf Details, um ihn nicht unnötig zu beunruhigen. Das konnte er nicht leiden und er reagierte sehr ungehalten auf unnötige Panikmache, fand, das wäre ein ganz egoistisches Mittel, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

 

Als nicht sofort ein Rückruf erfolgte, nahm sie sich wieder das fremde Handy vor. Susan prüfte den Akkustand. Sie wollte vermeiden, dass es ausging und sie es nicht wieder anbekam. Sie musste sich die Fotos noch einmal ansehen, um sich zu vergewissern, dass sie sich nichts davon eingebildet hatte. Außerdem musste sie das doch irgendjemandem zeigen, wollte das nicht mit sich alleine ausmachen. Wieder vermisste sie schmerzlich eine beste Freundin. Ob sie die Polizei rufen sollte? Aber was war schon passiert? Jemand hatte sie fotografiert. Das ist für die Ehefrau eines der derzeit angesagtesten deutschen Schauspieler nicht so abwegig. Eigentlich wurden sie oft fotografiert. Wenn sie zusammen waren. Dass man von ihr allein außerhalb von Veranstaltungen wie Charity-Events Fotos machte, passierte eigentlich nie. Manchmal hielten Touristen oder Fans vor ihrem Anwesen und wenn sie gerade dann herauskam, wurde sie manchmal um ein Foto gebeten, wenn die Fremden erfuhren, dass Max gar nicht im Haus war.

 

Susan öffnete die Telefon-App. Es musste sich doch über gespeicherte Kontakte herausfinden lassen, wem das Handy gehört. Die Enttäuschung folgte umgehend. Es war kein einziger Kontakt gespeichert. Sie wollte auf die bisherigen Anrufe zugreifen. Aber die Liste war leer. Sie schloss die App und öffnete WhatsApp. Auch hier war kein einziger Chat gespeichert. Seltsam.

Als ihr Handy klingelte, zuckte Susan zusammen. Sie nahm den Anruf an, ohne auf das Display zu sehen und spürte, wie sich die Erleichterung wie eine warme Welle in ihrem Körper ausbreitete, als sie Max weiche tiefe Stimme hörte. Sie konnte nichts dagegen tun, als sie spürte, wie ihr heiße Tränen in die Augen stiegen. Ein tiefes Schluchzen löste sich aus ihrer Kehle. Max war sofort die Besorgnis anzuhören. „Suse, was ist los? Ist alles in Ordnung bei dir?“ Susan brauchte eine Weile, um sich zu beruhigen. Dann fasste sie in kurzen Worten zusammen, was ihr heute widerfahren war. Max versuchte sie zu beruhigen. „Suse, das ist doch nix. Da hat sich ein Fan mit dir einen Scherz erlaubt. Mach dir nicht solche Sorgen.“

„Einen Scherz? Ernsthaft? Ein Fan?“ Susan konnte nicht glauben, dass ihr Mann so lapidar reagierte. „Welcher Fan hat denn mal eben 600 € locker, um ein nigelnagelneues Handy einfach so herzuschenken? Max, ich habe ANGST!“ Er konnte das doch nicht wirklich glauben. „Suse, was soll ich deiner Meinung nach jetzt machen? Den Dreh sausen lassen und zu dir kommen? Um was zu tun? Das Handy zu zerstören, oder was stellst du dir vor?“ Max war richtig ungehalten. Susan war enttäuscht. Sie hatte sich das irgendwie anders vorgestellt. „Und wenn ich stattdessen zu dir an die Küste komme? Hier braucht mich doch keiner“, wagte sie einen Vorstoß. Max‘ Schnaufen drang aus dem Hörer. War ihm das nicht recht? Das konnte doch nicht sein. Er mochte es doch immer so sehr, wenn sie ihn besuchte. „Suse, du bist doch erst vor 4 Tagen abgereist. Du, ich hab hier zu tun und muss arbeiten und wenn ich nicht gerade arbeite, muss ich mit den Kollegen networken. Die sind hier alle ohne ihre Partner. Ich möchte nicht als der Kollege auffallen, der seine „Mutti“ immer im Schlepptau hat.“ Das saß. Susan verschlug es die Sprache. Nach ein paar Sekunden des Schweigens nahm Susan ihre ganze Stärke zusammen. „Gut. Wenn du das so siehst… Ich werde nicht kommen. Aber vielleicht fragst du dich mal, wenn du von einem leckeren und lustigen Essen mit deinen Kollegen kommst, ob das die Reaktion ist, die ich mir in meiner jetzigen Situation gewünscht habe und wie oft ich dich eigentlich schon um Hilfe und Beistand gebeten habe.“ Sie wartete keine Reaktion ab und beendete das Gespräch. Susan warf das Handy enttäuscht aber auch ein kleines bisschen Stolz auf den Couchtisch. Was war nur los mit Max? Immerhin hatte sie ihm Paroli geboten. Sie hatte noch nie zuvor das Gefühl gehabt, ihm irgendwie lästig oder peinlich zu sein. Der Kummer hierüber überwog ihren Stolz und ihre Angst. Das Handy brummte. Sie hatte eine Nachricht erhalten. Sie nahm ihr Handy zur Hand, allerdings wurde ihr keine neue Nachricht angezeigt. Verwirrt legte sie ihr Gerät wieder auf den Couchtisch. Ihr Blick fiel auf das fremde Handy. Sie nahm es zur Hand und öffnete den Startbildschirm. Hinter dem WhatsApp-Icon leuchtete eine kleine 1. Eine Hitzewelle kam in Susan auf. Mit zitternden Fingern öffnete sie WhatsApp. Es gab einen Chat. Der Chatteilnehmer hatte kein Profilbild hinterlegt. Als Absender wurde nur eine Nummer angezeigt. Sofort nahm Susan ihr eigenes Handy zur Hand und tippte die Nummer ein. Sie hatte keinen Kontakt mit dieser Nummer gespeichert. Sie kannte diese Person nicht. Oder eine bekannte Person hatte sich eine weitere Nummer zugelegt. Sie nahm wieder das fremde Handy zur Hand und öffnete den Chat. Sie hatte eine Fotodatei erhalten. Sie öffnete das Foto. Sie sah sich im Bioladen auf der Bank sitzen, das gefundene Handy in der Hand. Der junge Mann stand schräg vor ihr und legte ihr gerade die Hand auf die Schulter. Ihrem Gesichtsausdruck war die Angst anzusehen, die sie in dem Moment gefühlt hatte. Sie atmete schneller. Ein Foto von heute! Sie war also tatsächlich beobachtet worden, allerdings nicht von dem jungen Mann, den sie in Verdacht hatte. Da steckte doch mehr dahinter als ein übereifriger Fan von Max. Sie hasste sich bereits jetzt dafür, aber sie griff zu ihrem eigenen Handy und wählte abermals Max’ Nummer. „Susan?“ Sie hörte den genervten Unterton. Wie viele Jahre hatte er sie nicht mehr Susan sondern liebevoll Suse genannt? Sie ging nicht darauf ein. „Hör mal, ich habe über das fremde Handy eine WhatsApp mit einem Foto von mir bekommen, das heute in dem Bioladen aufgenommen wurde. Derjenige, der mir oder uns das antut, war im Bioladen!“

„Suse, natürlich war derjenige im Bioladen. Immerhin hat er dir da das Handy zugesteckt.“ Der Logik der Aussage konnte sich Susan nicht verschließen. „Aber immerhin ist der junge Mann jetzt aus dem Spiel, wenn er auch auf dem Bild zu sehen ist. Suse, mach dich nicht verrückt. Das ist bestimmt nichts.“ Nichts? Nichts fühlte sich für Susan anders an. „Und wenn ich doch lieber zur Polizei gehe? Das muss doch aktenkundig gemacht werden, falls hier einer einsteigt oder so.“

„Nein!“ brach es aus Max heraus. „Das wirst du nicht tun. Wie steh ich denn da? Die gelangweilte Ehefrau vom Meurer belastet die Polizei mit Nichtigkeiten?“

„Wieso Nichtigkeiten, Max? Hier gibt sich jemand verdammt große Mühe, mir Angst zu machen.“

„Richtig, und er hat Erfolg damit. Susan, hast du Drohbriefe oder Drohanrufe bekommen? Nein. Hat dich jemand persönlich belästigt? Nein. Du hast ein Handy gefunden, das du normalerweise nicht mal behalten dürftest sondern ins Fundbüro bringen müsstest und hast darauf Fotos von dir selbst gefunden. In Alltagssituationen. Nicht nackt unter er Dusche oder so sondern angezogen auf öffentlichem Straßenland. Wo ist das Verbrechen? Weshalb genau willst du die Polizei einbinden?“

Er hatte recht! Sie hätte das Handy einfach im Bioladen an der Kasse als Fundstück abgeben, mit ihren Tomaten nach Hause schlendern und einen schönen Abend haben können. Aber das hatte sie nun mal nicht getan. „Ich werde das Handy morgen zur Polizei bringen.“ „Nein, verdammt nochmal! Ich kann so schlechte, ja peinliche Presse jetzt nicht gebrauchen. Bring es zur Polizei und gib es als Fundstück ab, von mir aus, aber behalte den Rest deiner Geschichte für dich. In zwei Wochen gibt es die Goldene Kamera und ich will dort mit Dir ohne Polizeischutz und ohne Journalistenfragen zu diesem Thema über den roten Teppich laufen. Also reiß dich zusammen und halte dich an die Fakten.“

 

Es war Max schon immer gelungen, sie von allem zu überzeugen, was ihm am Herzen lag, auch wenn sie anfangs gegenteiliger Meinung war. Er war einfach so wortgewaltig und ihr rhetorisch überlegen, dem fühlte sie sich als einfache Frisörin nicht gewachsen. Sie war es auch gewohnt, dass er laut wurde, wenn er seinen Willen nicht bekam. Sie war, was das anging, nicht empfindlich. Er hatte ja auch den beruflichen Stress und die Verantwortung für ihren Lebensstandard, da war es nur Recht und billig, wenn er sich dafür auch ab und zu verbal abreagieren konnte, ohne dass sie gleich beleidigt war. Susan gab nach und versprach ihm, das Handy nur als Fundstück abzugeben, ja auf Anraten von Max vielleicht sogar einen von den Mitarbeitern zu schicken, um nicht in Panik zu geraten und doch etwas zu erzählen, was sie nicht erzählen wollte.

 

Betont verbindlich beendete der durch Susans Einlenken besänftigte Max das Gespräch und die weiche Stimme, welche die ihr so vertrauten Verabschiedungsfloskeln säuselte, legte sich wie eine warme weiche Decke über ihre Angst und ihre Beklemmung, die sie hinsichtlich Max‘ Ausbruch verspürt hatte.

 

Susan beschloss, sich abzulenken und schaltete den Fernseher an. Sie lief in die Küche und schnitt die Tomaten in Scheiben. Im Kühlschrank fand sie noch ein Stück Pecorino und schnitt sich auch hiervon etwas ab. Dann ging sie in den Keller, um eine Flasche Wein hochzuholen. Sie nahm eines der mundgeblasenen Weingläser aus dem Schrank und ließ die dunkelrote Flüssigkeit hineinlaufen. Der Wein entfaltete einen verheißungsvollen Duft. Sie freute sich richtig auf ihr Abendessen. Sie nahm Teller und Glas und ging ins Wohnzimmer. Sie stellte alles auf dem Tisch ab und ließ sich in ihren Kuschelsessel fallen. Dann griff sie zur Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Sie hielt kurz inne. Hatte sie etwas vergessen? Ein Gedanke hatte ihr Bewusstsein gestreift, war aber sofort wieder in die unergründlichen Tiefen ihres Unterbewusstseins abgetaucht. Sie hing dem Gedanken noch etwas nach, konnte ihn aber nicht greifen. Sie verwarf das ungute Gefühl, etwas übersehen zu haben und versuchte, sich zu entspannen.

Es liefen gerade die 17-Uhr-Nachrichten. Danach würde die Daily-Soap beginnen, die Max‘ Karrierestart war. Ob noch welche von den alten Kollegen dabei waren? Susan kannte den Cast von damals komplett. Sie beschloss, sich die Folge der alten Zeiten wegen anzusehen und war neugierig, ob sie jemanden erkennen würde. Der Vorspann begann gerade, als es an der Tür klingelte. Susan machte den Fernseher leiser, warf sich den Morgenmantel über und lief zur Tür. Die Anspannung stieg. Im Monitor neben der Haustür sah sie zu ihrer Erleichterung, dass es nur einer der Wachleute war, der offenbar eine Frage hatte. Sie öffnete die Tür. „Hallo Frau Meurer, entschuldigen Sie, dass ich Sie störe, aber ich würde Ihnen gerne etwas zeigen. Hätten Sie einen Moment Zeit für mich?“ Nervös trat der ältere Mann von einem Fuß auf den anderen. Die Meurers zahlten gut, um sich der Diskretion der Mitarbeiter sicher zu sein. Keiner der Angestellten wollte seinen Job leichtfertig aufs Spiel setzen. Susan schlenkerte die Hausschuhe von den Füßen und schlupfte barfuß in ihre Laufschuhe. Den Morgenmantel tauschte sie gegen ihren Wintermantel und folgte dem Wachmann aus dem Haus.

 

Er lief mit ihr zur Rückseite des Grundstücks. Neben einem Busch direkt am mannshohen Zaun waren in der feuchten Erde deutlich zwei Fußabdrücke zu erkennen, die sich tief in die Erde gedrückt hatten. „Hier, ich glaube, da ist jemand über den Zaun gesprungen. Sehen Sie’s?“

Susan beugte sich über die Stelle. Ja, wahrscheinlich hatte der Mann recht. Hatte tatsächlich ein Fremder unbemerkt das Grundstück betreten? Und wann war das? War er noch hier? Susan schlug ihren Mantel zusammen. Sie fröstelte. Der Sicherheitsdienst bemerkte ihr Unwohlsein. „Möchten Sie, dass ich die Polizei einschalte?“ Susan dachte an die Worte von Max. Ihm wäre es sicher nicht recht, wenn hier die Polizei auf dem Grundstück und womöglich noch im Haus herumlief und alles durchsuchte und dabei keinen Stein auf dem anderen ließ. Wenn erst die Paparazzi davon Wind bekämen, dann könnte man morgen in der Bildzeitung wilde Geschichten von Steuerhinterziehung und Drogen lesen. Und das alles kurz vor der Goldenen Kamera. „Nein.“ Entschlossen schüttelte sie ihren Kopf. „Es reicht mir, wenn Sie und Ihre Kollegen alles gründlich auf den Kopf stellen.“ Der Sicherheitsmann nickte und begann, in sein Funkgerät zu sprechen. Kurz darauf tauchten an allen Ecken und Enden des Grundstücks Sicherheitsleute auf und durchsuchten jeden Winkel. Susan ging langsam zum Haus zurück. Sie öffnete die Haustüre mit der PIN und betrat den geräumigen Eingangsbereich. Sie atmete tief durch die Nase ein, doch das Wohlbehagen, welches sie beim Einatmen des häuslichen Geruchs stets durchströmte, wollte sich nicht einstellen. Resigniert seufzte sie. Sie wechselte ihre Laufschuhe wieder gegen ihre Hausschuhe und zog ihren Wintermantel aus.

Dann stand sie unschlüssig im Korridor herum. Irgendetwas fühlte sich falsch an. Sie lief ins Wohnzimmer und setzte sich auf ihren Kuschelsessel und griff nach ihrem Glas Wein. Irgendetwas war falsch. Fassungslos starrte sie auf ihr Glas. Sie war sich sicher, dass sie zwar an dem Glas geschnuppert, aber noch keinen Tropfen von dem Rotwein probiert hatte. Das Glas war halb leer. Sie hielt es gegen das schwindende Tageslicht. Ganz deutlich konnte sie am Glasrand einen Lippenabdruck erkennen. Ihr Rücken versteifte sich augenblicklich. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und hielt den Atem an, lauschte auf die Geräusche in der Wohnung. Sie hörte nichts. Gar nichts. Auch nicht den Fernseher, den sie ganz sicher angelassen hatte, als sie mit dem Mann vom Wachdienst das Haus verlassen hatte. Sie erinnerte sich so genau, weil gerade der Vorspann zu der Daily Soap lief, in der Max einst mitgespielt hatte. Sie traute sich nicht, sich zu bewegen. Viele Gedanken rasten durch ihren Kopf. Es blitzten ihre Hausschuhe vor ihrem geistigen Auge auf, die sie nach ihrem Einkauf ordentlich neben ihrem Sessel aufgestellt vorgefunden hatte. Hatte sie die Hausschuhe so dort hingestellt? Nein, das hatte sie nicht getan. Ihr rasender Puls nahm ihr fast den Atem. Und es kam ihr der Gedanke, den sie vorhin so dringend zu greifen versucht hatte. Bevor sie ihren Wein aus dem Keller geholt hatte, hatte sie den Fernseher angemacht. Als sie sich dann schließlich mit ihrem fertig gerichteten Abendessen auf den Sessel kuschelte, war der Fernseher aus. Sie sah im Garten die Wachmänner nach wie vor in den Hecken herumstochern und alles – mittlerweile mit Taschenlampen – absuchen. Sie suchten vergeblich. Die Gefahr befand sich nicht im Garten. Die Gefahr befand sich hier im Haus. Was sollte sie tun? Bis zur Haustür waren es bestimmt 15 Meter. Wenn sie nur wüsste, wo sich der Eindringlich gerade befand. Sie versuchte, in der Scheibe der Terrassentür und in der Oberfläche des Fernsehers den Raum hinter sich zu überprüfen. Direkt hinter ihr stand niemand, aber die Tür zum Korridor konnte sie nicht überblicken. Vielleicht sollte sie einfach so tun, als hätte sie noch nichts gemerkt, das Glas leeren und mit dem leeren Glas in Richtung Küche zum Nachschenken laufen. Dann waren es nur noch ungefähr 8 Meter bis zur Haustür. Ihre Schockstarre löste sich, als das fremde Handy vor ihr brummte. Mit zitternden Fingern griff sie danach. Eine Nachricht. Sie öffnete WhatsApp. Wieder hatte ihr die unbekannte Nummer ein Foto geschickt. Sie wartete gespannt, bis sich die Datei fertig aufgebaut hatte. Sie sah sich selbst von hinten auf dem Sessel sitzen und das Weinglas gegen das Licht halten. Das Bild musste vor ein paar Sekunden von der Tür zum Korridor aufgenommen worden sein.

 

Susan wirbelte herum. Es war niemand zu sehen. In jedem Fall war der rudimentäre Plan, so zu tun, als hätte sie noch nichts gemerkt, gerade hinfällig geworden. Sie stand auf und schlich auf Zehenspitzen in Richtung der Tür. Sie griff nach dem Schürhaken, den sie nahezu geräuschlos aus seinem Ständer neben dem Kamin fädelte. Neben der Türzarge blieb sie stehen. Ihr Herz pochte, ihr Atem ging stoßweise, dabei wollte sie doch nicht gehört werden. Es hatte keinen Sinn. Der Eindringling wusste schließlich, dass sie im Wohnzimmer war. Sie nahm all ihren Mut zusammen, hob den Schürhaken und sprang in die Türöffnung, bereit, dem Eindringling den Schürhaken in den Körper zu rammen. Aber der Korridor war leer. Susan konnte von ihrem Standort aus die Küchentür sehen. Sie dachte an das Messer, mit dem sie Tomaten und Käse geschnitten hatte. Es war frisch geschärft und lag gut in der Hand. Und sie hatte es noch nicht weggeräumt. Das Messer wäre auf jeden Fall eine effektivere Waffe als der Schürhaken. Susan schob sich langsam und aufmerksam mit dem Rücken an der Wand in Richtung Küchentür. Auch hier sprang sie wieder hervor, in der Hoffnung, zumindest das Überraschungs-moment auf ihrer Seite zu haben. Die Küche war leer. Sie machte drei Schritte in die Küche zur Arbeitsfläche hinter dem Kühlschrank. Das Messer war verschwunden. Auf der anderen Seite der Küche stand noch ein Messerblock mit einem kleineren und nicht ganz so scharfen Messerset. Aber Susan kam nicht mehr dazu, sich danach umzudrehen.

 

„Suchst du das hier?“ ertönte eine weibliche Stimme hinter ihr. Susan wirbelte herum. Vor ihr stand eine blonde, ungeschminkte und gänzlich ungepflegte Frau, die sie irre anfunkelte und das Tomatenmesser wie eine Konfirmationskerze vor ihr Gesicht hielt.

„Was wollen sie? Verschwinden Sie aus meinem Haus! Hauen sie ab! Mein Wachdienst kommt jeden Moment, um mir Meldung zu machen.“ Die fremde Frau lachte leise auf. „DEIN Wachdienst… dass ich nicht lache.“ Dabei betonte sie das Wort „dein“ auf unangenehme Weise. Irgendwie kam Susan die Frau bekannt vor. Sie mussten ungefähr gleich alt sein, wobei man an den Falten und den freudlosen Augen der Frau sehen konnte, dass es das Leben mit ihr nicht sonderlich gut gemeint hatte. „Du kleine hinterhältige Schlampe. Das ist nicht DEIN Wachdienst. Mal abgesehen davon, dass hier eigentlich nichts DEIN ist sondern alles Max gehört. Es gibt hier nur eine Kleinigkeit, die DEIN ist. Und das bin ich. Ich bin DEIN Problem.“ Wieder ertönte dieses leise Lachen. Wer war diese Irre? Und warum sprach sie von Max, als würde sie ihn persönlich kennen? Erst jetzt fiel Susan auf, dass auf der Jacke der Frau das Logo des Wachdienstes prangte und die Frau eine schwarze Cargohose und die für den Sicherheitsdienst typischen Hi-Tec-Stiefel trug. Susan atmete auf. Es ging also um Geld, sie hatte es nicht mit einer Schwerkriminellen zu tun. Alle Mitarbeiter mussten einen Auszug aus dem Vorstrafenregister vorlegen und fielen bei der kleinsten Eintragung durch das Raster.

 

„Wieviel wollen sie?“ Susan versuchte, möglichst forsch zu klingen, auch wenn ihr alles andere als wohl zumute war. „Glaubst du das wirklich? Sieh mich an. Glaubst du, ich bin so eine, die das alles für GELD macht? Sieh mich an, hab ich gesagt!“ Die Frau kam zwei Schritte auf Susan zu. Susan hingegen wich weiter in die Küche zurück, bis ihr Rücken die Kante der Arbeitsplatte berührte. „Bleib stehen, du Hure.“ Susan zuckte zusammen. Vielleicht ging es doch nicht um Geld? War diese Frau vielleicht ein durchgedrehter Fan von Max? War sie ihm womöglich schon einmal begegnet und er war zu höflich, um sie bestimmt zurückzuweisen, sodass sie sich jetzt sonst was einbildete? „Was wollen sie?“ versuchte Susan noch einmal, die zu eskalieren drohende Situation auf eine sachlichere Ebene zu bringen.

„Was ich will, du dämliche Kuh? Bist und bleibst eben ne dumme Frisöse. Ha, da staunst du, was? Dachtest wohl, das weiß kein Mensch. Irrtum, Suse, Irrtum.“ Susan zuckte zusammen. Hatte die Frau sie eben Suse genannt? Niemand nannte sie Suse, nur Max. Und früher ihre Eltern. Sonst niemand. Doch. Manu. Manu? Konnte das Manu sein? Susan forschte in ihrem Gesicht nach Merkmalen, die sie an Manu erinnerten. „Na? Ist der Groschen gefallen? Dachtest du, ich würde dich ewig so weitermachen lassen? Wir waren verdammt nochmal beste Freundinnen!“

Aus irgendeinem Grund war Susan erleichtert. Vielleicht, weil die Frau nun eine Identität hatte, vielleicht weil sie annahm, Manu schon irgendwie besänftigen zu können, wie sie es immer gekonnt hatte, wenn sie ihr Unrecht getan oder sie auf irgendeine andere Art benachteiligt hatte.

„Was willst du, Manu? Gerade heute habe ich an dich gedacht.“ versuchte Susan, an Manus Menschlichkeit zu appellieren. Manu lachte bitter auf. „So? Hat dich dein schlechtes Gewissen eingeholt, du fieses Miststück?“ Susan musste schlucken. Tatsächlich konnte sie den nie erloschenen Funken des schlechten Gewissens jeden Tag in sich glimmen spüren. „Ach komm, das ist so lange her und es ist einfach blöd gelaufen. Das ist alles. Wo die Liebe hinfällt, das kann man doch nicht steuern.“

„Ach ja? Ist das so? Da ist gar nichts blöd gelaufen. Ich bin blöd gelaufen, nachdem du mir die Reifen zerstochen hast und ich deshalb 90 Minuten zu spät zu meinem Blind Date mit Max gekommen bin. Nur er war nicht mehr am Treffpunkt, weil du dich statt meiner mit ihm getroffen hast. Von wegen man kann das nicht steuern und dumm gelaufen. Du hast mich hintergangen! Und Max hast du von Anfang an belogen. Tolle Basis für eure ach so glückliche Beziehung. Hätte ich dir bloß nie erzählt, dass der Mann, mit dem ich da seit Monaten geschrieben habe, sich kurz vor unserem ersten Treffen als Max Meurer geoutet hat, damit ich nicht vor Ort umfalle, wenn er auf mich zukommt und ich ahnungslos bin! Und hätte ich ihm bloß schon vor unserem Treffen meinen wahren Namen verraten, statt so geheimnisvoll zu tun. Dann hättest du nicht einfach in meine Rolle schlüpfen können.“ Wieder drang dieses bittere Lachen aus Manus Kehle. Susan spürte, dass sie Manu dieses Mal nicht so leicht besänftigen konnte, immerhin hatte sie ja auch seit 16 Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt. Vermutlich war das Band, dass sie einst zusammenhielt, längst durchtrennt. „Max und ich sind glücklich. Zwischen euch, das wäre nie etwas geworden! Du und ich, wir sind doch grundverschieden. Du warst immer mutig und laut und lustig. Ich war schon immer eher zurückhaltend. Wenn er mich liebt, hätte er dich niemals geliebt.“ Auf Manus Stirn schwoll eine Ader an. „Was denkst du dir eigentlich? Glaubst du wirklich, dass Max dich liebt? Du bist bequem, Mensch. Du siehst toll aus neben ihm auf dem roten Teppich, bleibst brav fern von seinen Dreharbeiten und er ist 9 von 12 Monaten nicht da und kann tun und lassen, was er will. Übrigens auch mit mir.“ Ein breites Grinsen ließ Manu beinahe fröhlich aussehen. Susan gefror das Blut in den Adern. Sie wollte sich nicht auf dieses Gespräch einlassen, aber sie MUSSTE. „Was meinst du damit?“ Manu rollte mit den Augen, die einst so strahlend schön gewesen waren. „Oh bitte, Susan! Was soll ich damit meinen? Dein Mann bumst alles, was nicht bei drei auf dem Baum ist. Was dachtest du? Wenn er da mehrere Monate auf einem Dreh ist und du ihn alle zwei oder drei Wochen besuchen kommst, wird er sich schon anderweitig zwischendurch amüsieren, meinst du nicht? Und was ich besonders schön daran finde ist, dass er sich dabei mehr als großzügig erweist.“ Susan zog eine Augenbraue hoch. Bestritt Manu ihren Lebensunterhalt etwa durch Prostitution? „Nein, nicht was du denkst. Geld hab ich genug, ich verdiene hier ja gut genug als DEIN Wachdienst. Übrigens schon seit fast einem Jahr, du bist erhobenen Hauptes unzählige Male an mir vorbeigelaufen oder gefahren und hast es nicht mal für nötig gehalten, mir ins Gesicht zu gucken bei deinem abfälligen Nicken.“ Wieder dieses Lachen.

„Nein, Max bezahlt mich nicht. Er lässt mich bei sich wohnen und Teil seines Lebens sein. Manchmal reise ich zu ihm, sobald du weg bist und reise ab, wenn du schon wieder auf dem Weg zu ihm bist. Wenn er drehfrei hat, fahren wir durch die Gegend und schauen uns spontan andere Städte in der Umgebung an, übernachten in den besten Hotels und haben herrliche Tage und Nächte miteinander. Und weißt du was? Er erzählt mir sogar von dir. Wie du ihm anfangs feurige Mails geschrieben hast, als Ihr euch auf Traumpaar.de gefunden habt. Wie du ihn damit heiß gemacht hast, dass dann aber nichts dahinter war. Kein Wunder, das waren MEINE Mails! Er hat erzählt, was du alles im Bett nicht mitmachst, dass du eine langweilige Frau bist, dass ihr zum Glück kinderlos geblieben seid und er sich hat heimlich sterilisieren lassen, damit das auch ja so bleibt. Weißt du, wie toll es sich hemmungslos bumst, wenn man weiß, es können keine Kinder daraus entstehen? Und weißt du, wie schön es ist, ihm endlich all das geben zu können, was ich ihm vor 16 Jahren per Mail versprochen habe?“

 

Susan konnte nicht glauben, was sie hörte. „Blödsinn, das denkst du dir aus! Max und ich sind glücklich! Er liebt und schätzt mich.“ Susan konnte nichts daran ändern, dass ihr mittlerweile die Tränen heiß in den Augen brannten. Manu hatte schon recht, die Beziehung zu Max hatte sich tatsächlich verändert in den letzten Jahren. Früher hatte sie ihn viel besucht bei den Dreharbeiten. Manchmal war sie sogar während des gesamten Drehs vor Ort geblieben. Das war schon seit einigen Jahren nicht mehr so. Und es stimmte auch, dass er sich komisch benahm, wenn sie in außerhalb der vereinbarten Telefonzeiten anrief. Aber er erklärte das immer damit, dass er gerade am Drehen war oder ein Dinner mit dem Regisseur hatte. Und auch was das Sexuelle angeht, musste Susan ihr recht geben. Sie wusste aus ihrer Anfangszeit, dass Max eigentlich andere Vorlieben hatte. Nach und nach hatten sie diese zu Susans großer Erleichterung immer weniger ausgelebt. Susan ging bis eben davon aus, dass auch Max daran letztendlich das Interesse verloren hatte, was sie sehr begrüßte. Susan musste sich eingestehen, dass Manu einen Zweifel in ihr gesät hatte. „Was willst du? Wenn es dir gelungen ist, Max mehrere Wochen am Stück wie eine Partnerin zu begleiten, dann hast du ja mehr erreicht als ich. Dann verschwinde und mach dir mit meinem Mann ein paar schöne Tage und alles bleibt wie es ist. Aber um Himmels Willen, bring dich nicht in Teufels Küche. Leg das Messer weg.“ Manu erstarb das Lachen auf ihren Lippen. Sie kam langsam näher, das Messer bedrohlich vor sich haltend.

„Was ich will? Den ganzen Kuchen, meine Liebe. Der gehört schließlich mir. Und mach dir um die Liebe keine Sorgen. Max liebt mich. Das hat er mir gesagt. Er hat gesagt, er würde dich ja verlassen, aber das könnte er sich jetzt so kurz vor der Goldenen Kamera nicht erlauben. Außerdem wärst du labil und ohne ihn gar nicht lebensfähig. Und weißt du was? Das glaub ich ihm sogar. Du warst schon immer unsicher und nahezu bewegungsunfähig, wenn du niemanden hattest, der dir gezeigt hat, wie das Leben funktioniert. Früher war ich das, jetzt ist es Max. Aber weißt du, du lebst hier MEIN Leben. ICH könnte hier sitzen und Wein trinken, statt draußen nach einem Eindringling suchen, den es gar nicht gibt, weil die Spuren im Beet natürlich nur gefaked waren, um meine Kollegen abzulenken. Vielleicht wäre ich aber auch in Neuharlingersiel bei Max und würde jetzt gerade mit ihm zu Abend essen, während mein nackter Fuß seinen Schritt massiert…“ Ein hysterisches Lachen drang aus Manus Kehle.

Susan wurde sauer. „Du warst schon damals schamlos und aufdringlich. Max braucht eine Frau mit Klasse, die hattest du aber noch nie. Du bist ein armseliges alterndes Weib, dass seine große Chance verpasst hat, weil eine andere einfach schlauer war!“ Jetzt grinste Susan, sah sie die Verletzung, die ihre Worte bei Manu bewirkt hatten und war stolz auf ihren Teilerfolg. Aber Manu hatte nichts zu verlieren, was dachte sich diese aufgeblasene Hausfrau eigentlich? Sie machte einen Satz nach vorne und schwang das Messer. Offensichtlich selbst ungeübt, ritzte sie jedoch nur einen Schlitz in Susans Shirt. Die hielt die Luft an. Damit hatte sie nicht gerechnet, hatte völlig verdrängt, dass Manu mit dem Messer bewaffnet und offensichtlich irre genug war. Manu sah verwundert auf das Messer in ihrer Hand, selbst überrascht, nicht richtig getroffen zu haben. Diesen Moment nutzte Susan, holte mit dem Schürhaken aus und ließ ihn auf Manus Schlüsselbein krachen. Manu schrie auf. Durch die Wucht wurde der Schürhaken aus Susans Hand gerissen. Nun hatte sie gar keine Waffe mehr. Manu hatte Probleme, den linken Arm zu bewegen und rollte testweise mit der Schulter. Offenbar hatte Susan ihr Schmerzen zugefügt. Irgendwann mussten doch die Wachmänner kommen und ihr berichten, dass sie keinen Eindringling stellen konnten. Vielleicht waren sie ja mittlerweile in dem Gebüsch am Küchenfenster zugange und konnten sie hören. Susan schrie unvermittelt, so laut sie konnte. Erschrocken riss Manu die Augen auf und sprang auf Susan zu. Susan merkte einen stechenden Schmerz in ihrem linken Unterarm, den sie sich schützend vor den Leib gehalten hatte, um Manu abzuwehren. Noch ehe Susan registrierte, wie ihr warmes Blut den Arm hinabrann, spürte sie denselben Schmerz an ihrem linken Oberarm. Ungläubig starrte sie auf die Klinge, die zur Hälfte in ihrem Oberarm steckte. Sie drehte langsam den Kopf und sah Wahnsinn und Hass in Manus Augen flackern. In dem Moment wurde Susan klar, dass nur einer von beiden diese Begegnung überleben konnte. Manu warf lachend den Kopf in den Nacken, während sie das Messer aus der Wunde zog. Den Moment nutzte Susan und griff blitzschnell zum Messerblock, der rechts neben ihr auf der Arbeitsfläche stand. Sie betete, dass sie zumindest eines der größeren Messer aus dem Set erwischte, denn aus dem Augenwinkel war sie nicht in der Lage, genau zu gucken, wonach sie griff. Und sie wollte Manu keine Sekunde aus den Augen lassen.

Sie riss das Messer aus dem Messerblock und rammte es in einer fließenden Bewegung in Manus linke Seite. Sie erwischte sie kurz oberhalb des Gürtels. Die Klinge, die zwar kürzer war als die von Manus Messer, aber lang genug, um ordentlich Schaden anzurichten, versank in den Weichteilen in Manus Taille. Ein gellender Schrei löste sich aus Manus Mund. Susan hatte sie mit ihrer Attacke komplett überrascht. Das nutzte sie aus, zog das Messer aus der Wunde, nur um ein weiteres Mal zuzustechen. Diesmal traf sie Manu ein Stück weiter oben. Wieder schrie Manu und ruderte wild mit mit dem Messer um sich. Susan konnte nun die Angst in Manus Augen sehen. Manu schleuderte so wild ihren rechten Arm, dass Susan ihr Messer eigentlich nur ein Stück vor sich halten musste. Es war nur eine Frage von Sekunden, bis Manu versehentlich mit ihrem Handballen in die Klingenspitze von Susans Messer schlug. Obwohl die Klinge nur ein paar Zentimeter eindrang, ließ Manu ihre Waffe fallen und sah überrascht zu, wie das Messer über den Boden rutschte und hinter Susan am Küchenschrank zum Liegen kam. Susan überkam eine unbändige Freude. „So, jetzt stehst du blöd da, oder? Ich guck doch nicht zu, wie du mein Leben zerstörst, nach allem, was ich mir mit Max aufgebaut habe.“ Offenbar war Manu in Max verliebt und in den letzten Minuten war viel passiert. Die Zeit ließ sich wohl nicht zurückdrehen. Es gab nur einen Ausweg. Susan riss ihr Bein hoch und trat Manu in den Bauch. Damit hatte diese nicht gerechnet, war nur auf das Messer fixiert, das vor ihr schwebte und bedrohlich vor und zurück zuckte. Manu sackte zusammen und fiel auf die Knie. Zusammengekrümmt hielt sie ihre Arme vor ihren Bauch. Susan platzierte einen weiteren Tritt an Manus linker Schulter, die von dem Schürhakenangriff sowieso schon lädiert war. Manu kippte nach hinten und Susan sprang mit den Knien voran auf Manus Oberkörper und drückte sie mit ihrem Gewicht auf den Boden. Susan saß breitbeinig mit dem Messer in der Hand über ihr. „Was hast du vor? Willst du mich umbringen?“ röchelte Manu. „Das schaffst du nie, das kannst du nicht. Du bist nämlich nicht nur unglaublich dumm, du bist auch noch unglaublich feige.“

„Und was ich vor allem bin, ist unglaublich entschlossen.“ Mit diesen Worten rammte sie Manu das Messer seitlich in den Hals. Manu blickte Susan ungläubig aus aufgerissenen Augen an. „Das kannst du nicht…beste Freund…“ Blut quoll aus Manus offenem Mund. Das Röcheln und Gurgeln wurde hektischer und erstarb schließlich. Manus Kopf kippte zur Seite, der Brustkorb unter Susan hob und senkte sich nicht mehr. Es war vorbei. „Beste Freundinnen für immer – na sicher.“ Susan lächelte und küsste Manu auf die Stirn, ehe sie aufstand und langsam zur Tür ging. Sie öffnete die Tür und trat auf das Podest vor den Eingang. Die Wachleute wuselten immer noch im Garten umher. „Hallo? Könnten Sie bitte kommen? Die Frau ist hier im Haus. Schnell!“ Der ältere Wachmann, der vorher schon bei ihr im Haus gewesen war, kam auf sie zu. „Oh Gott, Frau Meurer, was ist passiert? Sie bluten ja überall!“ Mit schnellen Schritten war er bei ihr. Sofort funkte er seine Kollegen an, gab einen Zahlencode durch und bat darum, die Polizei zu verständigen. In Susan loderte kurz Panik auf. Aber egal, ob Goldene Kamera oder Oscar-Verleihung. Hier gab es eine Tote, das konnte nicht ohne Polizei vonstattengehen. Susan spürte, wie ihre Beine zitterten. In ihrem linken Arm loderte der Schmerz. Bereitwillig ließ sie sich von dem Wachmann auf die oberste Treppenstufe setzen. Als zwei weitere Wachmänner aufgetaucht waren, überließ er Susan der Obhut eines Kollegen und leuchtete vorsichtig in das Gebäude. „Sie können reingehen, sie ist tot.“ Susan sah ihm müde ins Gesicht. Er nickte kurz und betrat dann das Haus. Dann ging alles ganz schnell. Die Polizei kam, zwei Krankenwagen und natürlich jede Menge Presse. Noch während sie im Krankenwagen auf ihrem Grundstück saß und erstversorgt wurde, reichte man ihr ihr Handy und Max war am Apparat. „Mann, Suse, was ist da bei dir los? Meine Agentin hat mich eben angerufen, unser Haus war in den Nachrichten. Geht es dir gut?“

 

Susan war erleichtert und wütend zugleich. „Da war eine Frau, die hat mich heimlich fotografiert. Die war ein Fan. Irre. Mit dem Messer hat sie mich angegriffen. Sie ist gestorben.“ Susan war klar, dass das alles ziemlich gestammelt klang. Ihr Gedanken überschlugen sich. Wie sollte sie mit der Tatsache umgehen sollte, dass ihr Mann offenbar mehrere Verhältnisse unterhielt? Sie wollte nicht zu viel sagen, bevor sie sich entschieden hatte. „Wer war diese Frau?“ Susan glaubte, Anspannung in Max‘ Stimme zu hören. Das konnte aber auch Einbildung sein. Susan hätte jetzt beinahe einen Fehler gemacht und Manus Namen genannt. Rechtzeitig erinnerte sie sich daran, dass sie ja so tun wollte, als ob ihr Manu unbekannt gewesen wäre. „Eine von unseren Sicherheitsleuten. Ich weiß nicht, wie sie hieß.“ Sie sah den Wachmann, der ihr das Handy gebracht hatte, fragend an. „Manuela. Manuela Herold.“ Den Namen hatte Susan in der Form das letzte Mal in der gemeinsamen Schulzeit gehört, als sie einzeln aufgerufen worden waren, um ihre Abschlusszeugnisse entgegen zu nehmen. Etwas Wehmut erfasste sie. „Herold. Manuela Herold.“ Es folgte ein langes Schweigen, das sich anfühlte, als würde es mehrere Minuten dauern. „Hat sie…ich meine, hat sie… geredet? Irgendwas gesagt? Was sie von uns will oder so?“ Jetzt war Max‘ Unsicherheit ganz deutlich zu spüren. Susan musste sich jetzt entscheiden. Sollte sie Max mit ihren neuen Erkenntnissen über seine Treue und den Zustand ihre Ehe konfrontieren, mit allen möglichen Konsequenzen, die daraus entstanden? Immerhin könnte sie dann noch in den Spiegel schauen und erhobenen Hauptes den Rest ihres Lebens bestreiten. Ob mit oder ohne Max würde sich noch zeigen. Oder wollte sie die Augen verschließen und ihr Leben einfach genauso weiterführen, wie sie es bisher gelebt hatte, nur mit einer Lüge mehr im Gepäck? Sie sah in den Himmel, sah die Sterne in dieser klaren Frühlingsnacht über sich leuchten, die Sterne, die schon lange nicht mehr dort standen, wo Susan sie gerade leuchten sah. Sie hörte den Wind, die Blätter der alten Buche rauschten. Welche Tragödien hatten Sterne und Baum schon überdauert? Was blieb am Ende? Eine neue Epoche, ein neues Zeitalter und keine Erinnerung an vergangene Tage.

Susan konnte schon seit vielen Jahre nicht mehr aufrichtig in den Spiegel schauen. Seit sie Manu damals um ihr Date gebracht hatte. Und jetzt, wo der Zahn der Zeit zu nagen begann und sie sowieso nicht mehr so schön aussah wie in jungen Jahren, musste sie damit auch nicht mehr anfangen.

„Ach, wirres Zeug hat sie geredet. Sie liebt dich und will dich heiraten. Ein irrer Fan eben. Mach dir keine Gedanken. Ich werde jetzt ins Krankenhaus fahren und sicher ein paar Tage dort bleiben. Wenn ich entlassen werde und die Polizei mich nicht mehr braucht, komm ich zu dir an die Küste. Ich brauch dich jetzt.“

Man hörte die Erleichterung in Max‘ Stimme. „Aber sicher Suse, was immer du brauchst. Ich liebe dich. Nur dich.“ Ein Gewinnerlächeln legte sich auf Susans Gesicht.  

3 thoughts on “Mieses Karma

  1. Moin Marie,

    dann will ich mal den Anfang machen…

    WOW! Was für eine schöne Geschichte du dir ausgedacht hast. Zu erst kam sie mir etwas Überladen an Informationen vor. Aber umso mehr ich gelesen habe, umso mehr war ich davon überzeugt das es diese Informationen doch gebraucht hat. Dadurch geriet deine Geschichte etwas zu lang für eine Kurzgeschichte, aber dem Leseerlebnis schadete es keineswegs.

    Deine Art den Kampf zwischen Manu und Suse zu beschreiben ist ganz große Schreibkunst. So packend, so spannend , so detailliert. Respekt!

    Zwei Sätze haben mir besonders gut gefallen..

    „die sie irre anfunkelte und das Tomatenmesser wie eine Konfirmationskerze vor ihr Gesicht hielt.“

    Und das :

    „Sie sah in den Himmel, sah die Sterne in dieser klaren Frühlingsnacht über sich leuchten, die Sterne, die schon lange nicht mehr dort standen, wo Susan sie gerade leuchten sah. Sie hörte den Wind, die Blätter der alten Buche rauschten. Welche Tragödien hatten Sterne und Baum schon überdauert? Was blieb am Ende? Eine neue Epoche, ein neues Zeitalter und keine Erinnerung an vergangene Tage.“

    Wie du die aufsteigende Panik von Suse im Haus beschreibst, hat mich glauben lassen, ich hätte auch gerade Angst.

    Warum deine Geschichte so wenig Likes hat, keine Ahnung! 🤷🏼‍♂️
    Ich werde dir ganz sicher eins da lassen.
    Deine Geschichte bleibt im Kopf..Danke das du sie mit uns geteilt hast.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

    1. Hallo Frank,
      danke für Dein Feedback.
      Meine Geschichte ist tatsächlich deutlich länger als gewünscht. Aber als ich herausgefunden hatte, dass 15 BUCHseiten und nicht 15 Word-Seiten gemeint waren, war die Geschichte schon fertig. Ich habe dann in zwei Varianten versucht, sie passend zu kürzen, aber es blieben einfach zu viele Fragen offen. Also habe ich beschlossen, dass diese 32 Buchseiten ja kein Roman sind und damit eine Kurzgeschichte sein müssen. 😊
      Ich freue mich, dass Du sie bis zum Ende gelesen hast und sie Dir gefallen hat. Vielen Dank dafür!
      Gruß, Marie

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