Jo BrianMona Lisas Schrei

 

Mona Lisas Schrei

Es kracht unter meinen Füßen.

Ein unangenehmes lautes Geräusch, das ich noch aus meiner Studentenzeit nur zu gut kenne. Immer, wenn ich nachts volltrunken durch die Altstadt getorkelt und ein leeres Bierglas zertrampelt habe, hat es genauso gekracht. Es gefällt mir irgendwie, mich daran zu erinnern. War eine schöne Zeit damals. Heute bin ich nur ein alter Zausel. Ich torkele zwar wieder, aber nicht, weil ich besoffen bin, sondern weil meine Beine mich nicht mehr so gut tragen. Und so fällt mir das Bücken natürlich schwerer als früher. Der Rücken knackst dabei und hört sich an wie viele kleine Steinchen in einer verbeulten Blechbüchse.

Im Halbdunkeln kann ich es nicht gleich erkennen, was da direkt vor der Tür auf dem Boden liegt. Auch die Augen haben nämlich ein wenig nachgelassen. Na ja, eigentlich sehe ich ohne Brille kaum noch was. Erst unmittelbar davor erblicke ich es richtig: Ich habe ein Handy zertrampelt. Allerdings sind die Dinger ja inzwischen so stabil und ich mittlerweile so abgemagert, dass ich hoffe, es nicht zerstört zu haben, wobei mir das völlig egal sein könnte, weil es mir ja noch nicht einmal gehört: dieses scheinbar herrenlose Handy.

Ich hebe es auf und sehe, dass es tatsächlich keinen Schaden genommen hat. Nur ein kleiner Kratzer im Panzerglas auf dem Display. Die kleinen Dinger sind wirklich anders als früher ganz schön robust. Was mich dagegen extrem wundert, ist die Tatsache, dass das Handy noch nicht einmal gesperrt ist.

Ungewöhnlich, denke ich, wo doch heute jeder sein Handy besser hütet als die eigene Wohnung, mit Passwörtern aus abenteuerlichen, hieroglyphischen Zahlen- und Buchstabenkombinationen, dass es einem geradezu schwindelig wird. Bei meinem muss hingegen ein gewöhnlicher Fingerabdruck genügen. Einen Code mit mehr als zwei Zeichen könnte ich mir ohnehin nicht merken. Schließlich weiß ich noch nicht einmal meine eigene Telefonnummer auswendig. Der Besitzer dieses Exemplars scheint dasselbe Problem zu haben. Noch nicht einmal der Bildschirmschoner ist aktiviert. Stattdessen blicke ich auf eine wüstenähnliche Landschaft. In ihrer Mitte prangt groß und selbst für mich Blindschleiche deutlich sichtbar die Uhrzeit.

Es ist 9:43 Uhr.

Eigentlich hatte ich nur die Post hereinholen wollen wie jeden Morgen. Ich greife also noch kurz mit der rechten Hand in den Briefkasten. Meine Finger sind recht lang – wie kleine unansehnliche Spinnenbeinchen und mittlerweile auch genauso dünn. Ich schlängele sie durch den Schlitz, taste den Boden ab. Auch heute ist nichts drin. Der letzte Brief ist vor etlichen Wochen gekommen: ein hübsch verpacktes anwaltliches Schreiben. Mein Sohn – oder war es meine Ex-Frau? –, hatte mich wieder einmal verklagt. Ich weiß schon gar nicht mehr, worum genau es dieses Mal geht. Irgendwann verliert man eben den Überblick.

In der linken Hand halte ich noch immer das Handy fest. Ich kehre zurück ins Haus und schaue mir erneut das Hintergrundbild an. Was für ein ungewöhnlich hellroter Erdboden in dieser trostlosen Landschaft, in der weit und breit nichts weiter ist als trockenes Gestrüpp!

Es ist 9:45 Uhr.

Im Wohnzimmer lasse ich mich schwer auf einen Sessel fallen. Früher bin ich kilometerweit gejoggt, jetzt genügt ein Gang zum Briefkasten und ich fühle mich wie nach einem Marathon. Erschöpft greife ich zu meiner Brille, setze sie auf und schaue wieder aufs Display.

Was soll ich nun mit diesem Handy?, überlege ich. „Und warum hat es ausgerechnet vor meiner Haustür gelegen?“, frage ich mich mit krächzender Stimme. Das ist immer so, wenn ich lange nicht mehr gesprochen habe. Dann muss die Stimme sich sozusagen erst wieder warm reden. Mein letztes Gespräch mit der Kassiererin im Supermarkt liegt Tage zurück.

Vorsichtig gleite ich mit dem Zeigefinger über den Bildschirm und wäge ab, ob ich mich durchs Menü klicken oder es lieber lassen sollte. Wäre das nicht ein Eingriff in die Privatsphäre eines anderen? Oder gar eine grobe Verletzung des Datenschutzes? Andererseits: Wer sollte das hier schon kontrollieren?

Ich bin schließlich auf meinem Grundstück. Damit wäre eine solche Kontrolle schlicht Hausfriedensbruch! Da steht es mir also zu, wenigstens mal zu schauen“, ermuntere ich mich laut selbst und wische die ausgetrocknete Landschaft mit dem Daumen nach rechts. Auf der neuen Seite erwartet mich dieselbe scheußliche Szenerie.

Was für ein einfallsloser Pinsel!“, sage ich und wische weiter nach rechts. Doch auch hier dasselbe Gebilde – allerdings entdecke ich am unteren Rand ein kleines Symbol mit den beiden Buchstaben ML. Ich tippe darauf. Sofort öffnet sich eine Galerie mit zwei Foto-Ordnern. Auf dem einen sehe ich das Foto von einem Blatt Papier, auf dem in Handschrift die Buchstaben ML und JJ stehen, darunter die Zahl 45. Auf dem zweiten Ordner steht nichts, darunter nur die Zahl 1. Ich berühre den ersten Ordner, in Sekundenschnelle poppen 40 oder 50 Fotos auf. Mein Blick bleibt am ersten hängen.

Mein Herz macht einen Satz. Es pocht wie ein abgewürgter Jeep aus den 40ern. Ich befeuchte meine ranzigen Lippen mit der Zunge. Ein kaltes Bier wäre jetzt gut. Der junge Mann auf dem Foto lächelt, sein Körper durchtrainiert vom vielen Sport. Er strahlt. Seine Augen glänzen.

Wie zum Teufel kommt mein Bild in dieses gottverdammte Handy?“, höre ich mich mit gepresster Stimme hervorstoßen.

Meine Hände zittern, mehr als ohnehin schon. Mein Zeigefinger tippt die nächsten Fotos an. Ich sehe mich: jung, ausgelassen, unbeschwert – und immer wieder dieses alles überstrahlende Lächeln auf den Lippen. Gerade möchte ich runterscrollen, als das Handy zeitgeich anfängt zu vibrieren und zu klingeln. Es ist kein klassischer Klingelton; das Ding singt: Es ertönt Musik, eine alte Schnulze aus den 60ern. Ausgerechnet! Auf Kitsch haben meine Ohren schon immer allergisch reagiert. Das Handy singt zunehmend aufdringlicher und lauter. So kommt es mir jedenfalls vor. Meine Fotos sind vom Display verschwunden. Stattdessen blicke ich auf einen eisblauen Hintergrund, aus dem zwei Buchstaben herausstechen: ML.

Mein Puls gerät völlig aus dem Takt. Ich fühle, wie er unregelmäßig schneller und dann wieder langsamer wird. Gefühls-Tango nennt man so etwas wohl. Eigentlich müsste ich jetzt drangehen. Eigentlich. Ich lasse es aber weiter klingeln – nicht, weil ich nicht dran gehen will, ich möchte sogar. Aber ich kann nicht. In meinem Kopf spuken noch immer diese Jugend-Aufnahmen von mir herum. Sie tanzen dort wild wie in einem Karussell außer Kontrolle, während die unausstehliche Schnulze unbeirrt weiterplärrt. Irgendwann wird sie aufhören, hoffe ich inständig. Dann werde ich das Handy dorthin zurücklegen, wo es herkommt. Oder noch besser: Ich werde es einfach entsorgen, es in den Müll werfen, in einem See versenken, bloß weg!

Doch ML singt weiter. Der schmierige Balladenheini bohrt sich mit seiner öligen Stimme tief in mein Gehirn.

Es ist 10:13 Uhr.

Ich drücke auf das rote Telefonhörer-Symbol. Doch kaum habe ich aufgelegt, setzt das Lied von Neuem an. Wieder drücke ich den Anrufer weg. Nach dem vierten Durchlauf schließlich – ich kenne mittlerweile jedes einzelne Wort des Liedtextes – drücke ich auf Grün, schweige und lausche dem Schlag meines pochenden Herzens.

Am anderen Ende der Leitung herrscht ebenfalls Stille.

Hallo?“, sage ich nach einer Weile, leise, aber bestimmend. Zumindest versuche ich, es zu sein.

Hallo!“ kommt es zurück.

Die Stimme des Mannes klingt heiser, schmeichelhaft umschrieben. Aber eigentlich ist sie nur alt und versoffen. Für einen kurzen Augenblick kehrt wieder Ruhe ein.

Es gibt diese stillen Momente, in denen die Welt zum Stillstand kommt und nichts Greifbares passiert, die aber gerade wegen ihrer scheinbaren Bedeutungslosigkeit so erschreckend betäubend sind. Am liebsten würde ich auflegen. Aber ich kann nicht. Und das beunruhigt mich. In diesem Schweigen liegt ein bedrohlicher Sog, dem ich mich nicht entziehen kann.

Wie geht es dir?“, lässt sich die Stimme nach einer kurzen Pause vernehmen.

Eine fühlbare Spannung liegt zwischen uns. Sie ist wie ein schwerer übergroßer Krake, der all seine Beine um meinen Hals geschlungen hat, um mir die Luft abzuschnüren. Ich japse nach Sauerstoff.

Wie geht es dir?“, wiederholt der Mann seine Frage, die dieses Mal alles andere als eine Frage ist.

Wer sind Sie?“, frage ich leise, aber längst nicht mehr bestimmend.

Der Mann lacht. Seine Stimme hat mir schon nicht gefallen. Sein Lachen jedoch widert mich geradezu an. Es klingt wie ein künstliches, überlautes Echo, das immer und immer wieder von einem trockenen Husten abgelöst wird. Mein alter Jeep gerät ins Straucheln. Er stolpert unbeholfen. Mein Mund zittert. Das macht er immer, wenn ich wütend bin. Und das bin ich jetzt – nicht auf den Mann, sondern auf mich. Ich hätte das Handy eben nicht aufheben sollen!

Da hört das widernatürliche Lachen so plötzlich auf, wie es begonnen hat.

Erinnerst du dich an Mona Lisa?“, erkundigt sich die Stimme in die Stille hinein.

Ich lasse das Handy fallen. Nein, das stimmt nicht: Ich schmeiße es vor Schreck bewusst auf den Boden. Wie erstarrt schaue ich es an. In meinen Ohren höre ich immer wieder diesen einen Satz in mir nachhallen:

Erinnerst du dich an Mona Lisa?“

Mona Lisa!

Was für eine Frage! Ich habe nie aufgehört, an sie zu denken.

Mona Lisa!

Mein Herz schlägt lauter. Übertönt wird es nur von meinem Puls. Beide poltern so asynchron, dass mich ihr Beat vollkommen verrückt macht. Es ist eine unrhythmische Melodie, die selbst einen Tauben um den Verstand bringen würde.

Mona Lisa!

Ich sehe sie wie so oft vor meinem geistigen Auge. Ich sehe ihr hellblondgefärbtes Haar, das sie immer schulterlang getragen hat. Ich sehe ihr Lächeln, ihre strahlend weißen Zähne mit der kleinen niedlichen Zahnlücke, ihre braunen Augen, die mich anschauen, in meinen versinken – und das in jeder einzelnen Nacht seit fast 30 Jahren. Sie steht dann an meinem Fenster und schaut nach draußen in den Garten auf die vielen roten Tulpen, die sie so geliebt hat.

Wie schön sie ist, denke ich. Doch ich wende mich von ihr ab. Mein Blick fällt wieder auf den Boden. Ich hebe das Handy auf, halte es an mein Ohr und lasse mich fallen in das überlaute Schweigen.

Sind Sie noch dran?“, frage ich.

Natürlich bin ich das. Hat es dir die Sprache verschlagen, Jojo?“

Seit Jahren hat mich niemand mehr so genannt. Wenn ich es mir recht überlege, hat mich so nur einer genannt: mein alter Studienkollege und bester Freund Bert – der einzige, den ich je hatte.

Wie Pech und Schwefel sind wir damals durchs Leben gegangen. Wir waren mehr als Freunde, wir waren Gleichgesinnte. Er, der leicht Unterlegene – tollpatschig war er, aber herzensgut und oft viel zu naiv. Ich dagegen war das genaue Gegenteil und deswegen ergänzten wir uns perfekt. Wir hatten viele gemeinsame Träume, wollten nach der Facharzt-Ausbildung zusammen eine Praxis eröffnen.

Es hat eine Weile gedauert, dich zu finden. Ein cleverer Schachzug war das, den Namen deiner Frau anzunehmen, weit weg zu ziehen. Das hätte ich an deiner Stelle auch gemacht. Du bist schon immer der Gerissenere von uns beiden gewesen, Jojo.“

Ja, wir waren eine Einheit. Es gab nichts, was der eine ohne den anderen gemacht hätte, eine Zeitlang zumindest.

Eine Menge Spaß hatten wir zwei, stimmt‘s?“

Bert lacht. Es ist aber nicht mehr das Lachen, an das ich mich erinnern kann. Es ist lediglich ein hohles, leeres Glucksen. Es klingt unnatürlich.

Ja, das hatten wir“, antworte ich.

Und?“, will er wissen. „Kannst du dich an sie erinnern?“

Der Wind peitscht gegen meine Fensterscheibe. Ich blicke in den Garten und sehe, wie die Tulpenblätter dem Wind trotzen. Bert atmet mehrmals tief ein und aus. Ich höre jeden einzelnen Zug.

Rauchst du? Und seit wann? Du bist doch immer so dagegen gewesen!“

Er lacht kurz auf. Es ist ein zynisches Lachen.

Ja, das war ich. Aber danach war alles anders, Jojo.“

Danach.

Wieder bricht Schweigen über uns ein. Ich schmecke wie so oft das schale Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Trauer.

Danach hat er gesagt und dabei so viel Bitterkeit in dieses Wort gelegt.

Danach löste sich mein Leben auf. Es zerplatzte wie eine schöne bunte Seifenblase und mit ihr all meine Träume. Ich verschwand in ein neues Leben, das ich mir wie eine zweite Haut überstülpte. Besonders geschmeidig war sie allerdings nicht. Sie schuppte! Ich verlernte zu schlafen, brach das Medizinstudium ab, wurde Krankenpfleger, heiratete und betrog meine Frau von Anfang an – nicht mit irgendwelchen Geliebten, sondern mit Alkohol. Nach drei Jahren zog Luana aus und nahm unseren Sohn mit. Seitdem bin ich endlich treu: Ich gehe keine Nacht ohne Wodka ins Bett und stehe keinen Morgen ohne Bier auf. Abstinent bin ich nur ein halbes Jahr gewesen: während meiner Krebstherapie, bei der Saufen streng verboten war.

Du hast sie verbluten lassen, Jojo, einfach so, wie ein Stück Vieh, und es hat dich überhaupt nicht gekümmert!“

Berts Stimme bricht. Ich höre das Feuerzeug, mit dem er sich eine weitere Zigarette anzündet. Er nimmt einen tiefen Zug.

Tabea hieß sie. Wir nannten sie Mona Lisa, weil sie in jedem Sommersemester nach Paris fuhr, um die Mona Lisa zu bewundern. Sie studierte wie wir Medizin. Verliebt waren wir beide von Anfang an in sie, Bert genau wie ich. Richtig geliebt hatte aber nur er sie. Für mich war es nicht mehr als ein Wettkampf. Und sie interessierte sich auch nicht sonderlich für ihn. Er war einfach nicht der Typ, dem Frauen hinterherrannten. So war das Buhlen um sie ein Kinderspiel für mich. Eines Tages wurden wir ein Paar, allerdings nur heimlich. Sie wollte nicht, dass die Freundschaft mit Bert daran zerbrach. Niemand sollte je von uns erfahren. Während Bert sich also an meiner Schulter ausweinte, ging ich mit Mona Lisa ins Bett. Mein Interesse ebbte allerdings schlagartig ab, als sie schwanger wurde. Der Zauber verflog. Ich begehrte sie nicht mehr.

Eines Morgens ging ich mit Mona Lisa zu dem Feld, auf dem wir uns immer trafen. Es war eine wüstenähnliche Landschaft, auf der weit und breit nichts war als ein bisschen Gestrüpp auf hellrotem Boden. Die Sonne war gerade aufgegangen und schickte ihre ersten schwachen Strahlen. Wir legten ein weißes Laken auf die Erde. Sie zog ihre Hose aus. Laut schrie sie auf, als ich mit der Zange in sie eindrang.

Anschließend brachte ich sie nach Hause.

Am selben Abend packte ich Hals über Kopf meine Sachen und verließ das Land. Sie starb kurze Zeit später. Das erfuhr ich von Bert in einem unserer letzten Telefongespräche. Danach brach ich auch mit ihm. Mona Lisas Schrei dagegen nahm ich mit – für immer.

Ich habe sie geliebt, Jojo. Und das hast du gewusst!“ Bert reißt mich aus meinen Erinnerungen. „Du wolltest nur eine Trophäe. Sie hat mir alles erzählt von euch und was du mit ihr gemacht hast.“

Ich stehe auf, gehe mit dem Handy am Ohr in die Küche und hole mir ein Bier aus dem Kühlschrank. Das eiskalte Getränk erfrischt mich angenehm. Ich wische mir den Schaum vom Mund, kehre zurück ins Wohnzimmer und stelle mich ans Fenster. Tapfer trotzen die roten Tulpen dem tosenden Wind.

Was willst du von mir?“, frage ich ihn.

Bert hustet und zieht an seiner Zigarette.

Du hast mich um mein Lebensglück gebracht. Und nun ist es an der Zeit, dass du die Rechnung begleichst, Jojo.“

Du kannst mir glauben, dass ich alles andere als glücklich gewesen bin und es auch jetzt nicht bin.“

Das weiß ich. Und das ist auch nur gerecht. Aber es ist noch lange nicht das Ende von allem. Jeder ist für seine Taten verantwortlich. Du hast sie auf dem Gewissen und musst dafür bezahlen.“

Bert legt auf. Der Garten bereitet sich auf den Sommer vor. Ich entdecke ein Vogelnest auf einem der Bäume. Es scheint verwaist.

Mein Blick fällt wieder zurück aufs Handy. Ich tippe die Ordner mit den Fotos an, zuerst ML und JJ: genau 45 Bilder, auf denen ich mich als junger Mann sehe, alleine am Strand, in der Natur, gemeinsam mit Mona Lisa und Bert. Auch den zweiten Ordner, auf dem nur ML steht, öffne ich jetzt. Es befindet sich ein einziges Bild darin, das ein glückliches Paar zeigt: Mona Lisa und Bert liegen sich in den Armen, lachend vor einer kleinen Hütte in den Bergen.

Es ist 12:26 Uhr.

*

Seit geschlagenen zwei Stunden sitze ich nun hier in diesem kargen Zimmer. Der Wind pfeift draußen unbarmherzig laut und erinnert mich an eine Melodie, die aus dem Takt geraten ist. Mir ist kalt.

Ich weiß, dass ich jetzt nicht mehr sicher bin“, bekräftige ich zum wiederholten Male. „Er hat mir zwar nicht direkt gedroht. Aber ich kenne ihn noch von früher. Wenn er sich mal in Rage geredet hat, ist er einfach unberechenbar“, berichte ich dem schmächtigen Polizeibeamten. Ich erzähle ihm von Bert. Und zum ersten Mal spreche ich auch von Mona Lisa. Ich entleere mich sozusagen wie ein vollgesaugter Blutegel. Danach fühle ich mich wie ein ausgehöhlter Presssack: erschlafft, aber federleicht.

Er hat recht. Ich muss endlich einen Schlussstrich ziehen.“

Der Polizeibeamte nickt. Es ist kein zustimmendes Nicken. Es ist ein gelangweiltes, vielleicht auch ein genervtes. Ich kann es nicht genau einschätzen. Wie sollte ich denn auch? Ich kenne den Mann ja nicht. Leidenschaftslos tippt er auf seiner Tastatur, löscht, schreibt. Hin und wieder schaut er auch zu mir auf. Es ist ein flüchtiger Blick aus blassen, leeren Augen, dann nickt er wieder und tippt weiter. Das geht nun schon eine ganze Weile so. Zwischendurch verlässt er immer wieder den Raum und kommt mit einem Papierausdruck oder einer Tasse Kaffee zurück.

Was ist denn nun?“, platzt es aus mir heraus.

Der Polizist hört endlich mit dem Tippen auf. Er dreht den Monitor zu mir hin.

Tabea Zirken haben wir ja wie gesagt in unserem System gefunden, Herr Huzenberg“, antwortet er mit ausdrucksloser Stimme und zeigt mit dem Finger auf den Verweis auf der aufgerufenen Seite.

Schauen Sie doch selbst: Sie ist vor 28 Jahren gestorben. Todesursache: Blutvergiftung nach einer bakteriellen Infektion. So steht es in den Akten.“

In seinen Augen blitzt erstmals ein leiser Anflug von Regung auf.

Aber Ihren Freund, den finde ich nicht.“

Ich ziehe an meiner Zigarette. Meine Kehle kratzt.

Ich sagte Ihnen doch bereits mehrfach, dass er Bert Marental heißt. Er hat mit mir damals Medizin studiert und lebte in Berlin. Das ist das Einzige, was ich noch von ihm weiß.“

Ich übergebe ihm das Handy.

Schauen Sie es sich noch einmal durch. Es gehört sicher ihm. Damit hat er mich heute angerufen. Darauf sind Fotos von uns dreien und eins mit ihm und Mona Lisa.“

Der Staatsdiener nimmt es in die Hand und schüttelt den Kopf.

Herr Huzenberg, Sie haben es mir doch vorhin schon gegeben. Ich habe mir alles angeschaut, all die Fotos. Ich habe auch die Telefonnummer überprüft.“

Streng sind seine Augen auf mich gerichtet. Ich zünde mir die mittlerweile sechste Zigarette an.

Und?“, frage ich. „Können Sie anhand der Fotos und der Nummer denn nicht ermitteln, wo er ist?“

Ich sauge den Rauch tief in meine Lunge ein.

Doch, natürlich kann ich, Herr Huzenberg“, entgegnet er. Sein Ton verschärft sich zunehmend. Dann beugt er sich kaum merklich mit dem Oberkörper zu mir hin.

Es ist auf Ihren Namen registriert, Herr Huzenberg. Es ist Ihr Handy. Ich habe auch die letzten Gespräche überprüfen lassen. Sie haben in den vergangenen 32 Tagen kein einziges Telefonat damit geführt. Weder Sie haben jemanden damit angerufen, noch hat Sie jemand angerufen. Und auf all den Fotos sind einzig und allein nur Sie und Frau Zirken zu sehen, niemand anderes!“

Er sagt das mit einer gewissen Sanftheit, die sich aufdringlich aus seinen harten Worten herausschält. Sie perlen aber an mir ab wie schwere Regentropfen. Auch die Strenge in seinem Blick ist einer Wärme gewichen, die mich wiederum frösteln lässt. Seine Lippen deuten ein zaghaftes Lächeln an, als er mir das Handy zurückgibt.

Es ist 17:37 Uhr.

One thought on “Mona Lisas Schrei

  1. Hi Jo, ich habe deine Geschichte gern gelesen, weil mir der Stil gut gefiel. Ich habe keine Ahnung, warum sie nicht öfter gelesen wurde. Sie ist mehr Wert, als die 4+ und deshalb bekommst du von mir ein Like.
    Vielleicht interessiert dich auch meine Geschichte, “Aimee`s Lächeln”
    Liebe Grüsse, Minka

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