CorinnaDNathalie

 

„Frau Bergmann!“, rief die Dame am Empfangsbereich aufgeregt und lehnte sich dabei etwas über den Tresen.

 

Vier Männer und eine Frau hatten gerade den Eingang des großen Bürogebäudes betreten. Sie waren in ein angeregtes Gespräch vertieft und schienen die Frau nicht zu bemerken.

 

„Frau Bergmann!“, rief sie nun erneut, diesmal etwas lauter, und eilte der Gruppe hinterher.

 

Eine große, blonde, elegant gekleidete Frau drehte sich zu ihr um. Die beiden schienen im gleichen Alter, um die Dreißig, sein.

 

„Ja?“

 

„Ich habe Ihr Handy gefunden!“

 

Sie blinzelte kurz und wühlte anschließend in ihrer Tasche.

 

„Ich habe mein Telefon bei mir! Warum sollte das mir gehören?“

 

„Nun, es ist ein Foto von Ihnen als Bildschirmhintergrund hinterlegt.“, erwiderte die Dame vorsichtig.

 

Einer der Männer drehte sich interessiert um und lächelte schelmisch.

 

„Nathalie, welchem deiner unzähligen Verehrer könnte es denn gehören?“, neckte er sie.

 

Sie ignorierte seine Bemerkung jedoch und deutete in Richtung der Lifte, am Ende des Ganges.

 

„Wartet oben auf mich! Ich komme nach!“

 

Die Empfangsdame eilte währenddessen wieder zurück zu ihrem Platz und holte das Handy hervor. Bestimmt war das Ganze nur ein Irrtum! Wahrscheinlich war die Frau auf dem Display, nur eine Blondine, die ihr zufällig ähnelte.

 

„Frau Bergmann, sehen Sie doch!“

 

Gespannt nahm sie das Telefon entgegen und erstarrte, als sie sich lächelnd im Bikini, an einem Sandstrand, entgegenblickte. Das Bild entstand letztes Jahr auf Ibiza und außer ein paar Freundinnen hatte sie es niemanden geschickt. Wie um alles in der Welt gelangte es auf dieses Handy?

 

Verwirrt kniff sie die Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf.

 

„Ich schreibe einfach eine E-Mail an alle Mitarbeiter aus. Der Besitzer wird sich schon melden!“

 

„Nein! Das ist tatsächlich mein Telefon!“, widersprach Nathalie schnell.

 

Das war zwar gelogen, aber sie war nun neugierig geworden und wollte später in Ruhe das Telefon durchforsten.

 

„Wann und wo haben Sie es gefunden?“

 

„Es lag vorhin einfach auf der Theke. Ich weiß aber leider nicht wer es dorthin gelegt hat.“

 

„Wann war das genau?“

 

„Vor zehn Minuten circa. Vielleicht fünfzehn. Ich war nur schnell Papier holen und als ich zurückkam, lag es da.“

 

Oder auf Kaffeepause, ergänzte Nathalie in Gedanken. Es hatten sich schon mehrere Mitarbeiter beschwert, weil der Empfangsbereich die meiste Zeit unbesetzt war.

 

„Danke fürs Aufbewahren!“

 

Nathalie ließ das Telefon in ihrer Tasche verschwinden und eilte in die nächste Besprechung. Nur eine von vielen an diesem Nachmittag.

 

 

 

Endlich zu Hause angekommen, fischte sie das Handy aus ihrer Tasche. Die letzten Stunden hatte sie vor Aufregung kaum geschafft, sich zu konzentrieren. Neugierig tippte sie erneut auf den Bildschirm und sah, dass eine neue Nachricht eingetroffen war. Vorsichtig wischte sie über den Display und bemerkte, dass keine Sperre hinterlegt war.

 

Sehr merkwürdig. Sie drückte auf das Symbol, das wie ein kleiner Briefumschlag aussah und las mit Entsetzen den Inhalt der Nachricht:

 

„Hallo Frau Chief Financial Officer! Wissen deine vornehmen Freunde und Kollegen denn, dass du Eine von uns bist? Wahrscheinlich nicht, weil du schämst dich ja so sehr dafür, richtig? Feig bist du! Ich hab da aber ein paar schöne Fotos von dir, die sie interessieren könnten.“

 

Absender Anonym, keine Nummer. War so was überhaupt möglich?

 

Mit klopfendem Herzen öffnete sie die Galerie und blickte auf dutzende Bilder von ihr.

 

Manche waren Selfies, die sie zum Spaß mit ihren Freundinnen geknipst hatte, andere wiederum stammten aus ihren letzten Urlauben. Diese Bilder kannten nur eine Hand voll Leute.

 

Je weiter sie runterscrollte, desto länger lagen die Bilder in der Vergangenheit. Schließlich entdeckte sie ein Foto von ihr mit blauen Flecken im Gesicht und einem Verband um ihren Kopf. Tränen schossen ihr in die Augen und ihr ganzer Körper begann zu zittern. Das letzte Bild zeigte einen kleinen Jungen mit braunen Haaren, der auf einer Schaukel saß und fröhlich in die Kamera lachte.

 

Nathalie knallte das Telefon in die Ecke und begann laut zu schluchzen. Sie hatte so sehr gehofft, die Vergangenheit ein für alle Mal hinter sich gelassen zu haben, aber nun schien sie sie doch wieder einzuholen.

 

 

 

Etliche Stunden später lag sie reglos im Bett und zählte die Minuten auf ihrem Wecker. Sie war müde vom vielen Weinen und schaffte es doch nicht, auch nur für eine Minute zu schlafen. Für heute hatte sie sich vorhin bereits schriftlich krank gemeldet. Als der Wecker endlich sieben Uhr anzeigte, beschloss sie aufzustehen und schleppte sie sich ins Badezimmer. Sie erschrak, als sie ihr Spiegelbild betrachtete. Die Frau, die ihr mit geröteten Augen und fahler Haut entgegenstarrte, hatte wenig Ähnlichkeit mit ihr selbst. Vielleicht würde eine heiße Dusche helfen, sich wenigstens ein bisschen besser zu fühlen.

 

Sie hatte sich die ganze Nacht über den Kopf zerbrochen, wer der Besitzer des Handys war. Es waren auf dem Telefon weder Kontakte gespeichert, noch sonst irgendetwas, das einen Hinweis hätte liefern können. Kein Internetverlauf, keine Anrufliste, keine Nachrichten. Nichts. Und ein Blick auf die  SIM Karte verriet ihr, dass es sich um ein Prepaid Handy handelte.

 

Nur ein böser Kommentar auf ein Posting in einer anonymen Facebook-Gruppe, mit Leuten, die eine ähnliche Vergangenheit wie sie selbst hatten, schoss ihr wieder ins Gedächtnis. Sie hatte damals voller Stolz von ihrem neuen Leben berichtet. Im Nachhinein betrachtet ziemlich naiv. Der Verfasser versteckte sich natürlich hinter einem gefälschten Profil, das längst gelöscht wurde. Wer hier wohl feig war? Wie niederträchtig konnten Menschen sein, wenn sie solch einen Aufwand betrieben, nur um sie zu demütigen?

 

 

 

Nachdem sie sich so gut es ging zurecht gemacht hatte, stieg sie in ihr Auto und fuhr Richtung Innenstadt. Zu allem Überfluss begann es auch noch zu regnen. Sie parkte an der Seitenstraße vor dem Polizeirevier, wartete jedoch noch im Inneren des Autos. Die Minuten vergingen, doch sie schaffte es nicht auszusteigen. Nein, das hier fühlte sich falsch an. Wer auch immer der anonyme Handybesitzer war, sie wollte ihm keine Macht über ihr Leben geben!

 

Nathalie setzte den Blinker und fuhr wieder zurück in die Vorstadt. Das was sie nun vorhatte, erforderte ihren ganzen Mut. Wahrscheinlich würden ein paar Freunde und Bekannte nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen, genauso wie ihre Eltern damals. Eventuell hatte das Ganze sogar negative Auswirkungen auf ihren Job. Doch es erschien ihr trotz alle dem als die einzig vernünftige Lösung, wenn sie sich nicht länger von einem Unbekannten erpressen lassen wollte.

 

 

 

Nach mehrmaligem Klingeln öffnete eine zierliche Frau im Bademantel die Tür. Die roten Haare standen ihr wild vom Kopf und ihr Gesicht war noch leicht verknittert.

 

„Nathalie? Was machst du denn hier?“, fragte sie verschlafen.

 

„Ich brauche deine Hilfe, Sophie!“

 

Sie nickte nur und bat Nathalie anschließend in ihre Wohnung.

 

„Was ist los?“, fragte sie besorgt.

 

„Du bist die Herausgeberin mehrerer Online-Magazine.“

 

„Ja. Und?“

 

„Kannst du bitte einen Artikel über mich schreiben?“

 

Irritiert sah sie ihre Freundin an.

 

„Deshalb weckst du mich mitten in der Nacht?“

 

„Es ist halb acht Uhr morgens.“, korrigierte sie sie.

 

„Und ich würde dich nicht wecken, wenn es nicht dringend wäre. Jemand hat vor, gewisse Details aus meiner Vergangenheit zu enthüllen, und ich will dieser Person zuvorkommen, in dem ich sie selbst erzähle.“

 

„Welche Details und welche Vergangenheit? Nathalie, du machst mir langsam Angst.“

 

Sophie ließ sich auf den Hocker an ihrer Küchentheke fallen und drückte nebenbei den Knopf ihrer Kaffeemaschine.

 

„Willst du auch einen?“, fragte sie an Nathalie gewandt, die nickte.

 

„Es gibt vieles, das du nicht über mich weißt!“

 

Gespannt blickte sie auf.

 

„Mein Name war nicht immer Nathalie Bergmann. Um genau zu sein, heiße erst seit meinem zwölften Lebensjahr so. Davor war ich…“ sie räusperte sich kurz und konnte nicht fassen, dass sie das gerade jemanden erzählte.

 

„Daniel Bergmann. Und hier ist meine Geschichte“.

 

 

5 thoughts on “Nathalie

  1. Hi,
    grundsätzlich gefällt mir deine Geschichte. Aber ich hatte am Ende das Gefühl, da fehlt noch was. Auch wenn das Thema sicher heute immer noch ein gewisses Tabuthema ist, fehlt mir da ein wenig das Explosive… Das ist aber mein ganz persönliches Gefühl. Der Twist zum Schluss ist wirklich gut gelungen, ich wäre sehr gespannt auf Daniels Geschichte …

    P.S. vielleicht hast Du ja Lust, auch meine Geschichte zu lesen und ein Feedback zu hinterlassen : Glasauge

  2. Hi,
    also deine Grundidee finde ich super, aber meiner Meinung nach hätte noch mehr kommen können.
    Klar es ist eine Kurzgeschichte, aber vielleicht hättest du noch mehr ins Detail gehen können. Das ganze war mir dann doch etwas zu kurz.
    Aber ich wünsche dir weiterhin viel Spaß und Erfolg beim Schreiben! 🙂

  3. Hallo Corinna,

    Jetzt kann deine Geschichte erst richtig los gehen. Ich fand es zwar total gut, dass deine Geschichte kurz und knapp ist, aber hier hat mir was gefehlt.
    Vielleicht etwas mehr zur Vergangenheit… Woher stammen die Verletzungen? Was ist Nathalies Geschichte?

    Toll fand ich den Überraschungseffekt am Schluss, dafür gab es vorher kein Indiz… Bzw. Dachte ich, der Junge auf der Schaukel ist vielleicht ihr Sohn… Das ist aber sie selbst, oder?

    Ebenso passt gut, dass du die Geschichte nach ihr benannt hast.

    Liebe Grüße,
    Jenny /madame_papilio

    Falls du Lust auf meine Geschichte hast, freue ich mich sehr. Sie heißt “Nur ein kleiner Schlüssel”

  4. Hallo!!
    Deine Geschichte hat mir gut gefallen – besonders das Ende! Dem einen mag es zu kurz sein, ich finde jedoch, dass eigene Gedanken und Fantasien ruhig mit einfließen dürfen!
    Mein ♥️ hast du!!
    LG, Iris
    P.S. Vielleicht magst du ja auch mal meine Geschichte „Die Rache“ lesen!

Schreibe einen Kommentar