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NEMESIS

 

 

 

Eine Kurzgeschichte von Tim-Florian Gerlach

 

 

 

Mein ist die Rache, redet Gott – Conrad Ferdinand Meyer

 

 

 

Für meine Eltern,

 

damit sie mir hoffentlich verzeihen, dass durch diese Kurzgeschichte mein Studium ein Semester länger dauert als geplant.

 

Joris

Seit Stunden fuhr er die gerade Landstraße entlang. Er hatte ein klares Ziel, einen Ort, an dem er zu einer bestimmten Zeit sein musste: die Koordinaten. Keine Verpflichtung zu einem Treffen mit seiner Liebsten oder sonst wem, wie man es von einer augenscheinlich stinknormalen Person, wie Joris, hätte erwarten können. Beim Rasthof Linumer Bruch, kurz hinter Berlin, hatte sich Joris dazu entschieden, die A24 zu verlassen und auf die Fehrbelliner Straße zu wechseln. Mittlerweile lagen das Havelland, Neuruppin und Brandenburg weit hinter ihm und er durchquerte die Mecklenburgische Seenplatte. Die sonst so idyllische Landschaft wurde heute von einer schweren Nebeldecke eingehüllt, die hier und da aufbrach und den Blick auf sumpfartige Kleinstseen freigab. Die Scheinwerfer des alten Opel Corsa hatten Mühe, sich einen Weg durch das Dickicht zu bahnen, und Joris drosselte das Tempo. „Verflucht…“, murmelte er, „Keine zehn Meter sieht man in der Brühe.“ Vor etwa zehn Minuten war irgendein Wahnsinniger mit einem Affentempo an ihm vorbeigeprescht und Joris hätte beinahe einen Unfall gebaut. Nervös blickte er auf seine Uhr. Fast 7:30 Uhr. Eine Angewohnheit, die er sich wohl nie abgewöhnen würde, war es, ständig, sei es während der Arbeit, beim Einkaufen oder einfach beim Faullenzen auf der Couch, unter innerem Zeitdruck zu leiden. Letztere der Aktivitäten fand aus diesem Grund auch deutlich seltener statt. Warum er sich diesen Druck machte, konnte er nicht sagen. Während er sich selbst vielleicht als pflichtbewusst oder sogar effizient bezeichnet hätte, würde seine Verflossene, Maria, diese Angewohnheit wohl eher als neurotisch bezeichnen. Ständig hatte sie etwas an ihm auszusetzen gehabt. „Hätte ich am Anfang gewusst, dass du so ein Spiesser bist, wären wir niemals da, wo wir heute sind.“ Oder „Es ist ja nicht mal die ständige Nervosität und das andauernde Gequengel, wenn ich mal zwei Minuten zu spät bin, die mich stören. Du kriegst dein Leben ja trotzdem nicht auf die Reihe, Joris.“, waren nur einige Ausschnitte aus dem Film „Beziehung – Maria“ in Joris imaginärer Videothek. Der letzte Satz war im Eifer des Gefechts aus ihr herausgebrochen, nachdem Joris den Pizzaboten zusammengefaltet hatte, weil dieser geschlagene vier Minuten und 37 Sekunden nach der vereinbarten Lieferzeit auftauchte und auch noch die Dreistigkeit besaß, nach Trinkgeld zu fragen. Als ob ich genug Geld hätte, um dich jetzt auch noch für dein Versagen zu belohnen, erinnerte sich Joris an seine damaligen Worte, immer noch das Bild seines Tür-zu-knallenden Ichs vor Augen. Maria war das furchtbar unangenehm gewesen. Händeringend war sie dem Pizzaboten bis zu seiner roten Vespa gefolgt, um ihn mit tausend Worten der Entschuldigung und einem viel zu hohen Trinkgeld zu verabschieden. Maria. Der Name war Programm. Zumindest war sie damals fest davon überzeugt gewesen, eine Heilige zu sein. Dass er genau wusste, dass die Blicke, die ihr manche Männer in ihrem Kiez in Prenzlauer Berg zuwarfen, mehr als nur zufällige Begegnungen zweier Augenpaare waren, hatte sie allerdings nicht auf dem Radar gehabt. Aber Joris schwieg. Er brauchte keinen großen Konfrontationsmoment, keine eiskalte Gegenüberstellung mit Videobeweisen. Die Gewissheit einen Menschen an seiner Seite zu haben reichte ihm. Einen Menschen, der trotz des Verlangens mit anderen Männern zu verkehren, den Weg zurück an seine Seite, in ihr gemeinsames Schlafgemach, fand, wenn auch nach billigem Aftershave stinkend. Maria hatte das Ganze wohl etwas anders gesehen, denn die Reise, die Joris für sie als Überraschung gebucht hatte, fand niemals statt. Aus einem romantischen Pärchen-Wochenende wurde ein One-Way-Ticket nach Leck-mich-Joris. Es sollte sich herausstellen, dass sich das gelegentliche Techtelmechtel mit einem ihrer Liebhaber zu „Echter Liebe“, wie sie es nannte, entwickelt hatte. Damit war sie natürlich nicht direkt rausgerückt. Joris erinnerte sich genau an die unbändige Wut, die damals in ihm tobte, als er ihr ansah, dass sie ihm das Offensichtliche verschwieg. Aber er wollte, nein, er MUSSTE es einfach von ihr hören. Schließlich platzte es nach dem vierten Glas Wein, während sie weinend ihre Koffer packte, aus ihr heraus. Zu seiner Überraschung empfand Joris nichts, als sie ihm mit verweinten Augen ein „Leb wohl, Joris“ zu säuselte und mit ihren Habseligkeiten überstürzt die kleinbürgerliche Altbauwohnung verließ. Keine Reue, keine Trauer – nichts. Auch in den Wochen danach empfand er nichts. Ab und zu kam Maria vorbei, um ihre restlichen Sieben Sachen abzuholen, doch Joris nahm kaum Notiz davon.

Eine Weile starrte er wie gebannt in die Wand aus Nebel, während ihn sein Corsa, still wie ein Segelboot, ins scheinbar Ungewisse zu tragen schien. Dann schüttelte er abrupt den Kopf, als würde er aus einem unangenehmen Tagtraum erwachen, und warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel. Durch die Rückscheibe war ebenfalls nichts als Nebel zu sehen. Er blickte lediglich in sein eigenes blaugraues Auge. Wenn er ein Detail seines eigentlich sehr gewöhnlichen Aussehens als prägnant bezeichnen müsste, würde er seine Augen nennen. Wie zwei milchige Sapphire waren sie in sein rundliches Gesicht eingelassen und funkelten gewitzt aus ihren Fassungen. Er war kein hässlicher Mann, das wusste er. Ein Model allerdings auch nicht. Alles in allem durchschnittlich. Dennoch waren seine Augen etwas, das zu Mal schon für Aufmerksamkeit, vor allem beim weiblichen Geschlecht, sorgen konnte. Sein Haar passte ihm allerdings gar nicht. Buschig und dick wucherte es in alle Richtungen und ließ sich nur schwer bändigen. Nicht selten erinnerte sein Aussehen ihn morgens an Jemanden, der zu lang im Windkanal gestanden hatte. Seine Augen wanderten vom Büschel Haare, das im Rückspiegel geradeso zu erkennen war, zurück zu seinem Auge. „Das ist jetzt alles nebensächlich“, sagte Joris zu seinem Spiegelbild, in Gedanken noch bei Maria. „Erstmal musst du dich in Sicherheit bringen. Wenn dieser Typ wirklich…“ Aber das konnte nicht sein. Es war einfach unmöglich. Niemand konnte davon wissen. Wenn es jetzt – nach all den Jahren…

Joris kniff die Augen zusammen. In der Ferne sah er etwas. Ein rotes Licht, das immer näher auf ihn zuzukommen zu schien. Er war noch tief in Gedanken versunken, als er begriff, dass es sich um eine Nebelschlussleuchte handeln musste. Joris reagierte kurz bevor es zu spät war. Er trat mit aller Kraft auf die Bremse, der alte Corsa ächzte und schlidderte auf der feuchten Straße hin und her. Mit aller Kraft versuchte er das Lenkrad gerade zu halten, doch es entglitt ihm und sein Wagen raste in den Straßengraben.

 

12 Stunden zuvor

Ein Schauer lief Joris über den Rücken als er die Hand des Fremden auf dem Weg zur Kühlschranktür streifte. „Entschuldigung…“, sagte der Fremde freundlich, der Joris den Vortritt und damit den Weg zu einer Cola aus dem Kühlregal seines Stamm-Spätis gewährte. „Keine Ursache…“, murmelte Joris, mehr zu sich selbst als zu seiner unfreiwilligen Abendbekanntschaft. Er quetschte sich an einer alten Dame, die ein paar Liter Milch und die neuste Ausgabe der Zeitschrift „Die Bunte“ in ihrem Rollator deponierte, vorbei, wich etlichen herumstehenden Bierkästen aus und erkämpfte sich schließlich den Weg zur Kasse. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es bald Acht Uhr war. Er blickte in ein bekanntes Gesicht. Denesh, der junge, indische Angestellte des Spätkaufs, schaute ihn aus wachen, dunkelbraunen Augen an, die fast von seinem Justin-Biber-Haarschnitt verdeckt wurden. „Na Joris?“, gab der kleine Mann als Worte der Begrüßung zum Besten. „Nur die Cola? Oder noch was anderes? Ne Schachtel Kippen? Parisienne Orange, oder?“ Joris musste grinsen. Er mochte Denesh. Seit mehreren Jahren kam Joris nun regelmäßig in den Laden und bisher hatte irgendwie keiner der Angestellten überhaupt Notiz von ihm genommen. So wie sonst überall auch. Joris hasste es, im Mittelpunkt zu stehen, und betrachtete es deshalb als gottgegeben, dass er die Fähigkeit besaß, in Menschenmengen und Gedrängen unterzugehen und schlicht mit der Szenerie zu verschmelzen. Einmal hatte Maria ihn in ein Fachgeschäft für jegliche Art von Musikinstrumenten gezerrt und er schmiss in üblich tollpatschiger Manier eine ganze Reihe von verschiedenen Schlagzeugtrommeln um. Der Verkäufer hatte ihn, nachdem er ihn zuerst überhaupt nicht bemerkt hatte, verdutzt gefragt, ob er gesehen habe, wo der Schuldige denn hingerannt sei. Unscheinbar schien ihm das richtige Wort für sein eigenes Auftreten zu sein. Ein Normalo, wie selbst seine besten Freunde ihn nannten, hatte eben einfach keinen Platz, um auf der großen Bühne zu stehen. Aber das war ihm ganz recht. Der Einzige, dem scheinbar nicht zu entgehen schien, wer da vor ihm stand, war Denesh, der ihn immer noch heiter anlächelte. „Ehm, ja. Ja. Parisienne Orange.“, stotterte Joris, „Soft.“, fügte er etwas verspätet, aber bemüht freundlich hinzu. Fremde, die ihn scheinbar mochten, überforderten ihn jedes Mal. Denesh drehte sich um, offensichtlich amüsiert über den perplexen Joris. Lässig entnahm er der deckenhohen Wand aus Zigarettenpackungen und anderen Tabakprodukten die orange Schachtel, scannte sie an der Kasse und legte sie neben die Cola. „Ich habe Maria lange nicht mehr gesehen.“ Joris erstarrte, in der Bewegung, mit der er gerade sein Portemonnaie aus seiner Hosentasche ziehen wollte, und blickte auf. Er bemerkte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. „Ja…“, sagte Joris halblaut, „Sie hat nen‘ Neuen.“, fügte er kurz angebunden hinzu. Denesh, dem die Situation alles andere als unangenehm zu sein schien, lies ein „Jaja, so sind sie, unsere Frauen, nicht wahr? Kaum sind sie da, sind sie auch wieder weg. Man denkt, man hat sie endlich fest im Griff, und schon reißen sie sich wieder los.“, von sich, den Blick dabei nicht von Joris abwendend. Joris mühte sich ein gequält-grinsendes Nicken ab und klatschte einen Zehner auf die Theke. Als er sich mit einem „Stimmt so, schönen Abend dir noch Denesh.“, aus der Affäre ziehen wollte, hielt er inne, als der junge Inder seine Stimme erneut erhob. „Du, glaub mir. Ich kann ein Lied davon singen. Wenn ich erstmal von meiner Alten auspacke, dann vergisst du die Sorgen um Maria ganz schnell.“ Nach einigem hin und her, vielen gekünstelten Lachern von Joris und einigen deutlich zu privaten Geschichten von Denesh schaffte Joris es endlich, sich mit einem Wink auf die immer größer werdende Schlange zu verabschieden. „Joris wir sind ein Herz und eine Seele. Auf dich ist immer verlass. Komm bald wieder.“, rief ihm Denesh noch als Verabschiedung nach, bevor Joris sich hastig umdrehte, um aus dem Laden zu gehen. Gedanklich immer noch in der äußerst unangenehmen Situation gefangen, blieb er an einem Zeitungsständer stehen. Die Schlagzeile auf einem der Klatschblätter posaunte irgendetwas über die Trennung von zwei Joris völlig Unbekannten rum. Kopfschüttelnd wollte er sich umdrehen und weitergehen, als es plötzlich rumste. Der Fremde vom Kühlschrank hatte anscheinend kein so langes Gespräch mit Denesh wie er gehabt und wollte, ebenso wie Joris gerade den Laden verlassen, als sie in Kollision gerieten. Beide bückten sich und ihre Hände trafen sich erneut an der Colaflasche, die während des Zusammenpralls aus Joris Armen gefallen war. Abermals durchfuhr Joris ein kalter Schauer und er blickte dem Fremden ins Gesicht. „Sorry, Simon. Mensch wir beiden werden aber auch einfach nicht warm miteinander, oder?“. Seine freundlichen Worte spiegelten sich nicht in dem eiskalten und durchdringenden Blick wider, den er Joris dabei zuwarf. „Kommt nicht mehr vor.“, entgegnete Joris und wandte sich zum Gehen, als ihn plötzlich der Schock traf. „Wie haben Sie mich gerade genannt?“ Der Fremde starrte ihn weiterhin durchdringend an und verzog beim Sprechen keine Miene: „Simon. Ich dachte, Denesh hatte sie so genannt.“ „Joris. Ich heiße Joris.“, ein Gemisch aus Angst und Verwirrung machte sich in ihm breit. Nur ein Zufall, dachte er, nur ein Zufall. „Kann ich jetzt bitte meine Cola haben?“, fügte er gereizt hinzu und deutete auf die Plastikflasche, die der Fremde immer noch in den Händen hielt. Der Fremde gab ihm die Flasche und Joris stürmte in die kühle Berliner Abendluft. Der Rosenthaler Platz war um diese Zeit ein einziges Getümmel, doch Joris, der von seiner Gabe Gebrauch machte, schlängelte sich eilends durch die Menge. Simon. Ein Zufall, nichts weiter, versuchte er sich in Gedanken zu beruhigen. Doch eine Stimme tief in seinem Kopf entgegnete gehässig: Ach, ein Zufall, ja? Joris und Simon klingen tatsächlich ziemlich ähnlich. Er schüttelte den Kopf in der Hoffnung, auf andere Gedanken zu kommen, und stürmte, gerade noch rechtzeitig, in die Straßenbahn. Joris steuerte die letzte Ecke des Wagons an, um möglichst einer erneuten, unverhofften Begegnung zu entgehen. Dort angekommen stierte er durch die vollgeschmierte Scheibe auf die vorbeirauschenden Lichter und Menschen, die völlig sorgenlos ihren Feierabend zu verbringen schienen. Erst als die mechanische Stimme der Tram-Durchsagen den Namen seiner Haltestelle verkündete, riss er sich aus seinen Gedanken und wankte benommen aus der Bahn. Die hundert Meter bis zu seinem Haus vergingen wie im Flug. Er passierte einige Jugendliche, die auf einer Parkbank an der Ecke des Volksparks am Weinberg mit leeren Dosen auf Tauben warfen, beschleunigte seine Schritte und stand schließlich auf der Schwelle seines Hauses. Während Joris in seinen Taschen nach den Schlüsseln kramte, ging das Licht im Hausflur bereits an und einer seiner Nachbarn kam ihm mit dem Öffnen der Tür zuvor. Im Vorbeigehen ließ er ein „Guten Abend“ verlauten, doch Joris war in Gedanken noch im Späti und ignorierte die nett gemeinte Geste. In seiner Wohnung angekommen, atmete er tief durch. Als er seine Jacke aufhing, bemerkte er, dass seine Hände zitterten. Seit Jahren hatten sie nicht mehr gezittert. Das letzte Mal wahrscheinlich, als er die Nachricht von IHREM Tod damals empfing. Seine Atmung beschleunigte sich. Das Parkett knirschte unter seinen Füßen, als er kurz ins Wanken geriet. Fast wäre er gestürzt, hätte er sich nicht in letzter Sekunde an der Ecke des riesigen Standspiegels im Eingangsbereich seiner Wohnung abstützen können. Er blickte in sein eigenes, kreidebleiches Gesicht. Der Spiegel war fast deckenhoch und wurde von einem massiven goldenen Rahmen umschlossen, in welchem seine Finger die Spuren der jahrelangen Abnutzung spüren konnten. So einfach lässt du dich nicht aus der Bahn werfen, Joris., dachte er, seine Atmung langsam kontrollierend. Der Typ kann gar nicht wissen, wer du bist. Keiner kann das. Und jetzt beruhig dich. Für einige Sekunden musterte er sich noch im Spiegel und beschloss dann, in die Küche zu gehen. Der geflieste Raum wurde vom warmen Licht einer einzelnen, provisorisch angebrachten Glühbirne beleuchtet, die über dem kleinen Zwei-Personen-Küchentisch baumelte. Seit Jahren hatte er keinen Alkohol mehr getrunken, doch darüber dachte er nicht nach, als er sich ein Glas billigen Kochwein einschenkte. Der erste Schluck erinnerte ihn daran, warum er aufgehört hatte zu trinken. Er mochte den Geschmack nicht. Eigentlich hatte er nie sehr viel getrunken, selbst in seiner Jugend nicht. Der Wein brannte im Rachen, doch Joris leerte das Glas beinahe mit einem Schluck. Er fühlte, wie sich eine angenehme Wärme in ihm breit machte, und setzte sich auf einen der klapprigen Holzstühle, die um den Küchentisch gruppiert waren. Sein Blick schweifte über den Kühlschrank, an dem lauter Bilder durch spießige Kühlschrankmagneten befestigt waren. Bilder, Erinnerungen. Erinnerungen, die nie wiederkommen würden, und für den Rest ihres Daseins dazu verdammt waren, nichts als Kummer und Unbehagen in ihrem einzigen Betrachter zu verursachen. Trotzdem hatte Joris es nie übers Herz gebracht sie abzunehmen. Maria und er auf dem Teufelsberg. Maria, wie sie einen frisch gebackenen Kuchen aus dem Ofen holte. Ein Blumenstrauß, den Joris Maria zu irgendeinem Jubiläum überreicht hatte. Erst nach dem Essen, zu welchem er sie an diesem Abend einlud, war er mit der Sprache herausgerückt, dass der Blumenstrauß natürlich nicht das einzige Geschenk war. Mit einem Grinsen hatte er ihr damals ein Armband überreicht, welches für einen Mann mit Joris´ Einkommen definitiv zu teuer war. Ein schöner Abend, erinnerte er sich. Melancholisch, den Ärger mit dem Fremden aus dem Späti schon fast vergessen, erhob er sich, goss sich ein zweites Glas Wein ein und schlurfte ins Wohnzimmer. Zehn nach Acht. Mist die Tagesschau ist schon fast vorbei. Er stellte das Glas Wein auf dem Couchtisch ab und lümmelte sich ausnahmsweise in die Ecke der samtigen Couch. Er hatte sich nicht geirrt. Jan Hofer wechselte gerade zum Wetter, als er die Tagesschau einschaltete. Er seufzte und schaltete wieder ab, rollte sich zusammen und schloss für einen Moment die Augen. Die Welt um ihn herum begann langsam zu verschwinden. Er reckte und wälzte sich hin und her, bis ihn die Dunkelheit allmählich überkam.

RRRRIIIING. Joris schoss schweißgebadet hoch. Er musste eingeschlafen sein. 22:15 Uhr. Verschlafen rieb er sich die Augen und versuchte, sich an seinen Traum zu erinnern. Maria war darin vorgekommen. Denesh saß mit ihr auf einer Bank, beide lachten und rauchten Parisienne Orange, ihren Blick immer auf Joris gerichtet. Doch da war noch jemand gewesen. Ein Mann. Ein Mann mit eiskaltem und durchdringendem Blick. Der Fremde. „Ich weiß es, Simon. Ich weiß es, Simon.“, sagte er immer und immer wieder. Joris erinnerte sich, dass er versucht hatte, vor ihm wegzulaufen, doch die Stimme wurde immer lauter. In seinem Traum war er gerannt. Immer weiter, ohne Ziel. Nur weg. Weg von dem Fremden. Die Stimme schien in seinem Kopf zu sein und wurde allmählich weiblicher, bis sie gänzlich die Stimme einer Frau zu sein schien. Nicht die Stimme Marias. Es war IHRE Stimme. „Wie konntest du, Simon? Ich habe dich geliebt. Wie konntest du?“, hatte die Stimme immer und immer wiederholt. Die Worte wurden lauter und lauter, bis sie fast zu Schreien wurden. Joris, der immer schneller rannte wurde fast wahnsinnig, bis RRRRIIING. Abermals klingelte es. Es war seine Haustür. Joris wurde aus dem lebhaften Nachbeben seines Traums gerissen und stolperte etwas bedröppelt zur Tür. Wer klingelt um diese Uhrzeit?, fragte er sich, auch wenn es eigentlich nur eine Möglichkeit gab. Nachdem er durch den Türspion blickte, stellte er fest, dass seine Vorahnungen sich bestätigt hatten: Es war Maria.

Kaum hatte Joris den Schlüssel im Schloss umgedreht, stürmte Maria auch schon in die Wohnung. „Hallo Joris. Keine Sorge ich will nur kurz die Kaffeemühle abholen.“, sagte sie, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Joris, der augenscheinlich überfordert mit diesem stürmischen Auftritt war, sammelte sich kurz und lief Maria, die mittlerweile das Wohnzimmer erreicht hatte, hinterher. Bevor er den großflächigen Raum mit dem Stuck an der Decke jedoch betreten konnte, kam Maria ihm schon wieder entgegen, in ihren Händen die Kaffeemühle. „Ich habe das Weinglas gesehen. Seit wann trinkst du wieder?“ „Ach das war nichts. Nur heute. Heute war… Naja. Du kennst das, manchmal hat man solche Tage.“ Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke. Das erste Mal seit langem. Joris hatte fast vergessen, wie es war, sich in ihren grünen Augen zu verlieren. Ihre braunen Haare fielen elegant um ihr schmales Gesicht, doch sie lächelte nicht das Lächeln, das er ihr früher so häufig entlockt und welches sein Herz jedes Mal zum Hüpfen gebracht hatte. „Willst du ein Glas mittrinken?“, platzte es nach einer Weile aus ihm heraus. Sobald die Worte seine Lippen verließen, hasste er sich bereits dafür, sie ausgesprochen zu haben. Dennoch hatte er gerade das Bedürfnis, jemandem seine Sorgen mitzuteilen, auch wenn er Maria niemals erzählen konnte, was ihn tatsächlich beschäftigte. Maria öffnete kurz den Mund, sah ihn weiter mit ihren smaragdenen Augen an und sagte schließlich: „Joris… Anselm wartet unten im Auto und… er wird ohnehin nicht begeistert sein, wenn ich länger als irgend nötig bei dir bin. Also?“ Anselm? Wer ist Anselm?, dachte Joris und sprach diesen Gedanken auch aus: „Was ist mit Jona?“ „Wir haben uns vor ein paar Wochen getrennt. Ich habe Anselm dann durch Zufall beim Joggen kennengelernt.“, entgegnete sie kurz angebunden und war schon auf dem Weg zur Tür, als Joris sich ein Herz fasste: „Ich vermisse dich, Maria.“ Sie blieb, den Rücken zu ihm, wie angewurzelt, stehen. „Warum machst du es mir jedes Mal so schwer, Joris? Merkst du nicht, wie mich das mitnimmt?“, entgegnete sie und er realisierte, während sie sich allmählig zu ihm umdrehte, dass ihre großen Augen sich mit Tränen füllten. „Es war deine Schuld, Joris. Deine Schuld allein. Ich habe so lange mit mir gerungen.“ Er spürte, wie sein Hals trocken wurde, wollte etwas erwidern, doch seinem Mund entwich nur ein Krächzen. Maria musterte den stocksteifen Joris noch einige Sekunden, drehte sich anschließend um und verließ die Wohnung in ähnlich stürmischer Manier, wie beim Eintreten. Einen Moment lang verharrte Joris in seiner Pose, doch beschloss dann zum Wohnzimmerfenster zu gehen, um einen letzten Blick auf Maria zu erhaschen. Und auf Anselm, dachte er. Was ist das überhaupt für ein Name? Anselm? Lächerlich. Er blickte durch das schmutzige Fenster in die dunkle Berliner Nacht. Seitdem Maria nicht mehr bei ihm wohnte, war auch der Sauberkeitszustand seiner Wohnung drastisch gesunken. Bei näherem Hinsehen bemerkte man, dass die auf den ersten Blick ordentliche Wohnung in vielen Ecken eingestaubt und mit Spinnennetzen verhangen war. Für Joris, der ein ordnungsliebender Mensch war, eher untypisch. Er hatte jedoch nie die Kraft gefunden, den makellosen Zustand seiner Wohnung, zu welchem ihn Marias Gegenwart regelmäßig angespornt hatte, wiederherzustellen.
Da war sie. Hastig entfernte sie sich und steuerte einen schwarzen Pickup an, der an der Ecke zur nächsten Straße parkte. Als sie das Auto fast erreicht hatte, stieg auf der Fahrerseite plötzlich ein Mann aus. Joris kniff die Augen zusammen, um erkennen zu können, wen er da vor sich hatte. Es musste Anselm sein. Der Mann ging um den Pickup herum und öffnete Maria die Tür des Wagens. Manieren hat er anscheinend, gestand sich Joris in Gedanken ein. Plötzlich, ohne Vorwarnung, drehte sich der Mann um und sah direkt in Joris Richtung. Ein Schlag durchfuhr ihn. Der Mann sah ihn direkt an. Es kam ihm so vor, als könne er, obgleich der großen Distanz zwischen ihnen, seine Augen, seinen Blick genau erkennen, wenn nicht sogar spüren. Das dritte Mal an diesem Abend, lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken. Er kannte den Blick, die Statur des Mannes, seinen Gang. Den eiskalten, durchdringenden Blick würde er überall wiedererkennen. Als der Mann sich umdrehte und in seinem Pickup verschwand, setzten sich die Ereignisse des Abends allmählig zu einem Gesamtbild in Joris Kopf zusammen. Wieder zitterte er. Diesmal allerdings am ganzen Körper. Er war sich sicher, dass der Mann, der eben mit Maria ins Auto gestiegen war und sie jetzt, weiß Gott wohin fuhr, der Mann aus dem Späti war. Er hat dich Simon genannt, dachte Joris und seine Beine wurden wackelig. Entspann dich!, versuchte er sich in Gedanken zu beruhigen. Bei der ganzen Nummer kann es sich immer noch um eine unmögliche Aneinanderreihung von Zufällen handeln. Nein. Er ist es. Er ist es und er weiß es. Joris warf dem Pickup einen letzten Blick zu, bevor dieser um die Ecke bog, und rannte ins Badezimmer. Das eiskalte Wasser, mit welchem er sein Gesicht benetzte, stärkte seine Sinne. Seine Hände strichen sich das durch die Nässe fast schwarze Haar aus der Stirn und abermals blickte er in sein eigenes Gesicht, welches aschfahl aus dem Spiegelschrank zurückblickte. Wer ist der Typ?, fragte sich Joris in Gedanken, trocknete sein Gesicht kurz ab und verließ das Badezimmer. Auf einmal traf ihn eine Erkenntnis: Was hat Maria gesagt? Sie hatte ihn „zufällig“ kennengelernt? Beim Laufen? Joris schnaubte bei dem Gedanken und erinnerte sich, dass Anselms Statur nicht gerade zu der eines Läufers passte. Wenn Anselm, falls der Typ überhaupt wirklich so heißt, weiß, wer ich bin, dann muss er mich, nach all den Jahren gefunden haben. Trotz der Entfernung. Angst machte sich in ihm breit: Maria war in Gefahr. Auf der Suche nach seinem Handy sprintete er ins Wohnzimmer und fand es schließlich in einer Falte des Sofas. Es musste ihm beim Schlafen aus der Tasche gefallen sein. Es war ein altmodisches Tastenhandy. Joris war nie auf die Idee gekommen, sich eins dieser neumodischen Smartphones zu kaufen, auch wenn ihn alle seine Freunde dafür verurteilten. Selbst gegen Whatsapp hatte er sich ewig gewehrt, ließ in seinem Widerstand allerdings nach, nachdem ihn seine Freunde, angeführt von Maria, zu einem interventionsähnlichen Abend empfingen, um ihm klarzumachen, dass die Applikation unglaublich viele Vorteile mit sich bringe. Er hatte schnell klein beigegeben, und im Stillen war er darüber auch froh.

Schreib mir, wenn du gut angekommen bist, ok?, wollte er zuerst schreiben, überlegte dann aber, dass, falls die ganze Sache ein riesiges Missverständnis war, die Nachricht absolut komisch wäre. Nach kurzen Überlegungen kam er zu keinem besseren Text als: „Schon zuhause?“ und sendete die Textnachricht kurzerhand ab. Zehn Minuten vergingen. Dann fünfzehn, dann zwanzig, dann eine halbe Stunde. Joris lief im Wohnzimmer auf und ab und wurde beinahe wahnsinnig. Nachdem er den persischen Teppich, der sein Wohnzimmer zierte, bestimmt hundertmal überquert hatte, beschloss er, Maria anzurufen. Mit zittrigen Fingern tippte er ihre Nummer, die Joris auch nach all der Zeit noch auswendig konnte, in sein Handy, hielt es an sein Ohr, und wartete. Nichts als das elektronische Piepen drang aus dem Handy in Joris Gehörgang, bis schließlich eine mechanische Stimme verkündete: „Der Vodafone-Teilnehmer ist derzeit nicht erreichbar…“ Joris seufzte und hätte beinahe sein Handy gegen die Wand geworfen. Er wusste, dass Maria ihre Mailbox nicht abhörte. Das war schon zu ihren gemeinsamen Zeiten ein beliebtes Streitthema gewesen. Trotzdem hinterließ er ihr jetzt eine Nachricht: „Hey, Maria. Ich weiß es klingt komisch. Aber… Aber kannst du mich vielleicht sobald es geht zurückrufen?“ Er atmete tief durch. Er hasste dieses Warten. Was, wenn Maria schon etwas zugestoßen ist? Andererseits hätte Anselm ihr schon längst etwas antun können, wenn er Maria wirklich seit ein paar Wochen schon trifft, überlegte Joris. Wieder verging etwas Zeit, in der Joris seine Wohnung, wie ein eingesperrter Tiger, der vergebens nach einem Ausweg aus seinem Käfig suchte, durchstreifte. Abermals rief er sie an und hinterließ ihr eine weitere Nachricht. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es bald 1:00 Uhr nachts war. Weitere Anrufe folgten. Joris, dessen Nachrichten immer hysterischer wurden, überlegte fieberhaft, was er noch machen könnte. Die Polizei einschalten? Nein. Was soll ich denen denn erzählen? ,Guten Abend, ich glaube, der neue Freund meiner Exfreundin ist ein Psychopath und sie ist in Gefahr!´ Trotz allem entlockte ihm dieser Gedanke ein flüchtiges Grinsen. Dann kam er auf die Idee: ihre Wohnung.

Maria hatte ein eisernes Gesetz: Wenn sie einen Mann nicht über einen Monat kennt, geht sie niemals mit in seine Wohnung. Joris hatte das nie hinterfragt, sie hatte ihm aber irgendwann erzählt, dass sie einen Krimi gelesen hatte, in welchem eine Frau unvorsichtig mit zu einem One-Night-Stand nach Hause gefahren war. Anschließend wurde sie nicht nur vergewaltigt, der Täter rasierte dem Opfer obendrein die Haare ab. Joris hatte sich damals über ihre irrationale Angst lustig gemacht. Heute jedoch sah er sich selbst mit der Angst vor einem absolut unmöglichen Zufall konfrontiert. Sie muss in ihrer Wohnung sein, wenn sie ihre Prinzipien nicht über den Haufen geworfen hat, dachte Joris. Noch während er diesen Gedanken entwickelte, war er schon auf dem Weg zu seiner Wohnungstür, drehte jedoch kurz vor dem Öffnen der Tür nochmal um, um seine Jacke mitzunehmen. Beim Verlassens seiner Wohnung streifte er sich die Jacke über, nahm beim Durchqueren des Treppenhauses immer zwei Stufen auf einmal, doch hielt schlagartig auf der Treppe inne. In seiner Jackentasche vibrierte etwas, und sein Handy konnte es nicht sein. Das hielt er nämlich noch in seiner Hand. Einen Moment lang stand er verwirrt auf dem Absatz der letzten Treppe, beschloss dann, der Vibration auf den Grund zu gehen und steckte seine freie Hand in die rechte Tasche, aus der der Reiz zu kommen schien. Joris Hand zuckte kurz zurück, als sie die kalte, schlanke Form zufassen bekamen. Es war ein Smartphone. Ganz ohne Zweifel. Seine Vermutung bestätigte sich, als er das Gerät aus der Tasche nahm und ungläubig unter die Lupe nahm. Es war nicht Marias Handy, das wusste er, und sein eigenes ja sowieso nicht. Das Gerät summte und vibrierte nach wie vor und beim Aktivieren des Bildschirmes bemerkte Joris, dass in dem Telefon ein Wecker klingelte. Ein Wecker mit dem Titel „Nemesis“. Nemesis?, fragte sich Joris, während er versuchte sich zu erinnern, woher er den Begriff kannte. Wie kommt das Handy in meine Tasche?, überlegte er weiter, den Wecker schaltete er unterdessen durch Betätigen eines schmalen Schalters an der langen Seite des Mobiltelefons ab. Auf einmal klingelte das Telefon abermals. Wieder ein Wecker. Der gleiche Titel: „Nemesis“, gestellt auf 1:35 Uhr. Kurzentschlossen drückte Joris den Wecker abermals weg und beschloss, das Handy zu entsperren, um möglicherweise einen Hinweis auf den Besitzer zu erlangen. Zu seiner Überraschung war das Handy nicht durch einen Code gesichert und er gelangte direkt in die Benutzeroberfläche des Smartphones. Dort angekommen, öffnete er erst die Applikation mit dem Titel „Kontakte“. Nichts. Komisch, dachte Joris. Welche Person hat denn keine einzige Nummer eingespeichert und keine Anrufe in ihrem Rufverlauf? Bei näherer Untersuchung fiel Joris auf, dass das Handy sowieso keine Apps außer der Standardapplikationen, die bereits beim Kauf in der Software enthalten sind, installiert hatte. Merkwürdig. Vielleicht sind Fotos drauf?, überlegte Joris, war sich aber nicht sicher, ob er damit nicht etwas zu weit gehen würde und das Handy eventuell lieber bei der Polizei abgeben sollte. Plötzlich vibrierte das Handy erneut und wieder flammte die Botschaft über den Bildschirm des Mobiltelefons auf. „Nemesis“, gestellt auf 1:40 Uhr. Jetzt reichte es Joris und er öffnete die Weckerapplikation. Ein Blick reichte, um festzustellen, dass die Person, wer auch immer sie sein mochte, im Zwei-Minutentakt den Wecker mit der immergleichen Botschaft auf dem Handy gestellt hatte. Nemesis. Nemesis. Nemesis. Irgendwas soll mir hier mitgeteilt werden., überlegte Joris kurz und entschied sich dann dazu, im Internet herauszufinden, worum es sich handelt. Was ihn erwartete, ließ sein Herz für einen Moment aussetzen. Er überflog die Zeilen spärlich: Nemesis – griechische Rachegöttin. Nemesis – Ausgleichende Gerechtigkeit. Nemesis – Blutrache. Joris merkte, wie sich seine Nackenhaare langsam aufstellten, als das Handy in seiner Hand plötzlich vier kurze Male vibrierte. Vor Schreck über die erneute Vibration hätte er es beinahe fallengelassen, beruhigte sich jedoch schnell und bemerkte, dass mehrere Nachrichten eines unbekannten Absenders den Reiz ausgelöst hatten. Mit zitternden Fingern öffnete er die Nachrichten. Die vier Nachrichten waren alle zeitgleich eingetroffen. Bei dreien handelte es sich um Bilddateien, die Joris erst öffnen musste, bevor er sie sehen konnte. Die andere Nachricht war ein kurzer Text. Der Unbekannte schrieb Folgendes: „Nemesis – Bist du schnell genug, Simon? Die Zeit läuft.“ Der Nachricht waren mehrere Zahlen und Buchstaben beigelegt. Geografische Koordinaten, wie Joris schnell feststellte. Er taumelte, als er die Nachricht immer und immer wieder in seinem Kopf las, und musste sich setzen. Simon. Da steht Simon. Schwarz auf weiß. Auf einmal wurde Joris klar, dass nichts, was an diesem bisher turbulenten Abend passiert war, zufällig geschehen war. Der Fremde, Anselm, wie er jetzt mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit wusste, der ihn angerempelt hatte und Simon genannt hatte. Das musste der Moment gewesen sein, indem er Joris das Handy zugespielt hatte. Der Fakt, dass Maria die Kaffeemühle abgeholt hatte, hatte es Joris nur erleichtert, die Zusammenhänge zu verstehen. Sein Herz raste inzwischen und er musste sich am Geländer der hölzernen Treppe festhalten, um nicht im Sitzen umzukippen. Aber warum? Wer ist der Kerl? Woher kennt er mich? Da ihn diese Fragen mehr und mehr verwirrten, beschloss er auf der Suche nach Antworten, sich die Bilddateien anzusehen. Zögerlich öffnete er das erste Bild und verfluchte sich direkt dafür, es getan zu haben. Tränen stiegen ihm in die Augen, als er die Bilder sah. Er hatte nicht erwartet, ihr Gesicht jemals wiederzusehen. Nie hätte er es übers Herz gebracht, ein Bild von ihr mit in sein neues Leben zu nehmen, sein neues Leben, das dem Vergessen und dem Verarbeiten hatte dienen sollen. Das Bild zeigte Joris. Doch Joris war nicht allein. Eine blonde Frau war an seiner Seite. Das Bild zeigte die Beiden, wie sie an einem Tisch in einem Restaurant saßen und sich in die Augen sahen. Joris, dessen Gesicht mittlerweile tränennass war, öffnete mit zittrigen Fingern das nächste Foto. Eben hatte er noch gedacht, dass es schlimmer nicht gehen könne, doch was er nun sah, war wie ein Faustschlag direkt in die Magenkuhle. Das Bild zeigte eine Todesanzeige. „Eva Marquardt.“, hieß es dort. Gefolgt von den Geburts- und Todesdaten, ließ die Anzeige einen der für Todesanzeigen üblichen Sprüche verlauten. „…, dass du dich für diesen Weg entschieden hast, werden wir nie verstehen.“ Bei diesem Satz löste sich eine einzelne Träne aus seinem rechten Auge, kroch bis zu seiner Nasenspitze und tropfte geräuschlos auf den Smartphonebildschirm. Joris, der dadurch aus seinen Gedanken gerissen wurde, blickte zur Decke des hohen Eingangsbereichs seines Hauses und versuchte so, den Tränenfluss zu stoppen. Zwecklos. Seit Jahren hatte er nicht mehr geweint. Und jetzt, wo es endlich wieder so weit war, wollte er gar nicht mehr aufhören. Mittlerweile flossen die Tränen fast rinnsalartig seine glattrasierten Wangen hinab und er wischte sich fast sekündlich mit dem Ärmel über die Augenpartie. Einige Augenblicke starrte er ins Leere, bis er beschloss, dass er sich das dritte angefügte Bild angucken müsse, um mehr über Anselms Motivation zu erfahren. In der Tat wusste er genau, was diese war, nachdem er sich dazu aufgerafft hatte, endlich das Foto zu laden. Doch was er hier sehen sollte, überstieg seine kühnsten Vorstellungen des Horrors: Das Bild zeigte Maria. Sie war gefesselt und offensichtlich betäubt, so hoffte Joris zumindest, da ihre Augen nach oben gerollt waren. Ihr Mund war mit einem alten, weißen Lappen geknebelt und sie lag in einem kistenartigen Raum. Ein Kofferraum?, schoss es Joris durch den Kopf. Aber Anselm war mit einem Pickup unterwegs gewesen. Über das Foto war mit roten Buchstaben eine weitere Botschaft geschrieben: „Nemesis – Wie du mir, so ich dir.“ Plötzlich waren Joris Sinne wieder klar. Seine Trauer wie weggeblasen. Er wusste, was zu tun war. Urplötzlich. Anselm hat mir doch Koordinaten geschickt. Was stand da noch? Irgendwas wie „Bist du schnell genug Simon?“ oder sowas. Er zögerte keinen Moment, verließ Hals über Kopf den Hausflur, rannte auf die Straße und sprang in seinen alten Opel Corsa. Ein letzter Blick auf die Uhr verriet ihm, dass das es gerade zwei Uhr war.

 

Sechs Stunden später

Joris öffnete langsam die Augen. Er wusste nicht, wo er war. Der Geruch von verbrennendem Öl stieg in seine Nase und allmählich kamen die Erinnerungen zurück. Ein rotes Licht. Es kam immer näher. Immer näher bis… Joris zuckte vor Schmerz kurz zusammen, als er seinen Kopf zu ruckartig bewegt hatte. Verdammt, dachte er. Er musste sich eine Gehirnerschütterung beim Aufprall im Straßengraben zugezogen haben. Ihm war schlecht. Alles drehte sich und er öffnete benebelt die Autotür, setzte einen Fuß nach dem anderen auf den Boden, wühlte sich durch den Airbag, der durch den Unfall aufgegangen war, und stand schließlich auf. Er blickte sich um. Noch war keine Hilfe gekommen. Alles nebelig. Dabei war er so kurz vor den Koordinaten gewesen. Ein Blick auf seine Motorhaube, unter welcher schwarzer Qualm hervortrat, gab ihm Aufschluss über die Quelle des Benzingeruchs. Benommen taumelte er paar Schritte zurück und bemerkte, dass das rote Licht des anderen Autos immer noch durch die dicke Nebeldecke stach. Die wenigen Schritte, die Joris sich nun auf das fremde Fahrzeug zubewegte, reichten, um sein eigenes Auto im Nebel verschwinden zu lassen, so dass das einzige Indiz für dessen Existenz lediglich der wabernde schwarze Qualm war, der sich mit dem Nebel vermischte. Er steuerte auf das fremde Vehikel zu, um den Fahrer ausfindig zu machen, und stockte, als er es genauer unter die Lupe nahm. Die Fahrertür stand offen, doch das Fahrzeug sah nicht so aus, als sei es verunfallt. Vielmehr erweckte die ordentliche, fast akkurate, Parkposition den Anschein, dass das Fahrzeug vorsätzlich mitten auf der Straße abgestellt worden war. Was Joris, der sich beim Gehen die Hüfte halten musste, allerdings viel mehr zum Stutzen brachte, war, dass es sich bei dem Fahrzeug nicht um irgendein Auto handelte. Es war das Fahrzeug, welches ihn vorher im Nebel knapp gestreift und überholt hatte. An der Fahrerseite angekommen, beugte sich Joris in den Fahrzeuginnenraum, um nach Hinweisen auf den Verbleib des Fahrers zu suchen. Der Innenraum war leer. Fast klinisch sauber. Keine Kaffeebecher, keine leeren Flaschen im Fußraum, keine Schokoriegelverpackungen in den Seitenfächern. Alles in allem hätte das Auto frisch aus dem Werk sein können, wenn es nicht diesen eigentümlichen Geruch versprühen würde. Nicht der typische Autogeruch war es, der nun den Platz des immer stärker werdenden Feuergeruchs einnahm, sondern der Geruch nach Parfüm. Kein Frauenparfüm, dachte Joris. Wer auch immer den Wagen gefahren ist, muss vorher einen Douglas ausgeraubt haben. Die starke Reizüberflutung durch die schnell wechselnden Gerüche löste ein Gefühl des Schwindels in Joris aus und der Boden gab einen Moment unter seinen Füßen nach. Er verlor das Gleichgewicht und fiel mit dem Gesicht voran in den fremden Wagen, konnte sich aber in letzter Sekunde am Lenkrad festhalten, bevor er um ein Haar auf die Schaltkonsole gefallen wäre. Er rappelte sich auf und wollte sich gerade aus dem Inneren des Wagens zurückziehen, als ihn ein ungutes Gefühl beschlich. Er war nicht allein. Er spürte die Präsenz einer zweiten Person. Der Urheber des Parfümgestanks?, schoss es ihm durch den Kopf und seine Nackenhaare stellten sich auf. Immer noch halb auf den Fahrersitz gesunken, nahm er plötzlich eine Bewegung im Rückspiegel des Wagens war, wollte herumwirbeln und das Fahrzeug verlassen, als es auch schon zu spät war. Er spürte ein leichtes Piksen, als ihn die Spritze in den Hals traf. Er wollte sich wehren, doch die Hände seines Angreifers waren stark und sein Griff fest. Joris spürte, wie ihm der Spritzeninhalt langsam durch die Adern strömte, und merkte, wie seine Glieder schwerer und schwerer wurden. Als würde er durch Morast schwimmen, ruderte Joris verzweifelt mit den Armen, in der Hoffnung wieder Kontrolle über seine Motorik zu erlangen. Als er merkte, dass sein Sichtfeld immer kleiner wurde, gab er auf und ergab sich dem Betäubungsmittel. Mit letzter Kraft öffnete er noch einmal die Augen, um das Gesicht des Unbekannten zu sehen. Bevor die Welt vollständiger Dunkelheit wich, war das letzte was Joris sah, Anselms grinsendes Gesicht, als dieser sich über ihn beugte und mit rauer Stimme raunte: „Bis später, Simon.“

 

Später

Die Dunkelheit hatte ihn verschluckt. Die Welt schien für immer verschwunden und Joris trieb durch den ewigen Strom aus allesverschlingendem Schwarz in die Leere. So wie die Nacht sich täglich ihren angestammten Platz zurückerkämpft, die Sonne verdrängt und die Welt in pechschwarze Stille hüllt, so war auch das Licht aus Joris Wahrnehmung verschwunden. Doch das gnädige Licht der Sterne blieb aus und Joris verschmolz mit der unendlichen Weite des schwarzen Nichts, gefangen auf einer Irrfahrt ohne Sinn und Zweck. Sein Körper schien nicht mehr aus Materie zu bestehen, zumindest konnte er ihn nicht sehen. Falls ich überhaupt sehen kann., dachte Joris. Da veränderte sich etwas in der schweren Decke aus Schwärze. Joris konnte nicht sagen, ob der helle Punkt, der seine Sinne zu stärken schien, nah oder fern war. Der weiße Fleck wurde immer größer und Joris erlangte allmählig seine Empfindungen zurück. Geräusche, visuelle Reize, Gerüche – Sein Gehirn spielte verrückt. Und dann: Schmerzen. Sein Kopf fühlte sich an, als hätte ihn jemand mit einem Baseballschläger bearbeitet. Die Schwärze war nun fast vollständig verschwunden und wich mehr und mehr einem ungeordneten Gewimmel verschiedenster Reize. Durch den lauter werdenden Hall hörte Joris entfernt eine Stimme. „Hey. Aufwachen. Wach auf, Simon.“ Auf einmal durchfuhr ihn ein scharfes Brennen auf der linken Seite seines Gesichts, welches offensichtlich wieder Form und Gestalt angenommen hatte. Wieder und wieder ruckte der brennende Schmerz durch sein Gesicht und mit jedem Brennen wurde die Welt um ihn herum klarer. Die Dunkelheit wich dem grellen Licht einer Glühbirne, die Joris, der seine Augen zu öffnen versuchte, dazu zwang, diese immer wieder zuzukneifen. Als er seine Hand heben wollte, um seinen Augen die Möglichkeit zu geben, sich an die neue Lichtquelle zu gewöhnen, bemerkte er, dass seine Hände mit Kabelbindern an die Lehne des Stuhls gefesselt waren, auf dem er saß. Es handelte sich um einen billigen Plastikklappstuhl. Bei näherer Untersuchung seiner Situation stellte er fest, dass auch seine Beine an den Stuhl gefesselt waren und das dieser mit mehreren Schrauben im Boden befestigt war. Seine weitere Umgebung konnte Joris immer noch nicht erkennen, da die Glühbirne ihn unablässig blendete. Klatsch. Wieder durchfuhr in das Brennen und er erkannte, dass die Schmerzen durch Ohrfeigen ausgelöst wurden, die ihm ein großer Mann in regelmäßigen Abständen zu geben schien. Der Mann. Anselm. Joris Erinnerungen kamen zurück und ihm brach der Schweiß aus. „Sie mal an, wer uns da mit seiner Anwesenheit beehrt.“, sagte Anselm, der sich so vor die Glühbirne stellte, dass Joris sein Gesicht für einen Moment erkennen konnte. Eine weitere Ohrfeige folgte. Der Schmerz trieb Joris die Tränen in die Augen. Er wollte schreien, bemerkte dann aber, dass sein Mund mit irgendetwas vollgestopft war. „Keine Sorge. Keine Sorge. Du wirst schon noch zu Wort kommen, Joris.“, Anselm kicherte auf. „Ach, Verzeihung. Joris? Simon? Ich habe dich nie gefragt, wie ich dich eigentlich nennen soll.“ Ohne dem weiterhin geknebelten Joris auch nur die Möglichkeit einer Antwort zu geben fuhr er fort: „Naja, spielt vermutlich sowieso keine Rolle mehr.“ Er ging in die Hocke und Joris starrte abermals in die eiskalten Augen seines Gegenübers. „Weißt du, wer ich bin?“, fragte Anselm mit einem diabolischen Lächeln. Joris konnte nichts als dumpfe Laute durch den Knebel von sich geben, bis Anselm ihm grob den Knebel, der sich als dreckiger gelber Lappen entpuppte, aus dem Mund riss. Joris atmete tief durch. Der gammelige Geschmack, den der Lappen hinterließ, wurde durch den Anblick des gelben Fetzens noch stärker. „Was hast du mit Maria gemacht, Anselm?“, presste der nach Luft schnappende Joris zwischen zwei tiefen Atemzügen hervor. Statt eine Antwort zu geben, presste Anselm ihm den Lappen wieder in den Mund, diesmal tiefer als vorher. Joris musste würgen und eine einzelne Träne vermischte sich mit dem Schweiß, der mittlerweile seine Stirn herunterlief. „Pass mal auf. Wenn du etwas gefragt wirst, dann antwortest du mir und stellst mir gefälligst keine Gegenfragen, ja?“ Anselm kam Joris nun so nahe, dass sich ihre Gesichter fast berührten. Ein bekannter Geruch stieg Joris in die Nase und er merkte, wie er eine Gänsehaut bekam. Der Parfümgeruch. Ich hätte es wissen müssen. Er hat auf mich gewartet und mich an den Koordinaten abgefangen. Durch den Unfall habe ich ihm sein Spiel nur erleichtert., schoss es Joris durch den Kopf. „Also meinen Namen scheinst du ja zu kennen. Wir haben alle Zeit der Welt.“, fuhr Anselm fort. „Aber gut, dass du fragst.“ Er entfernte sich einige Meter und Joris wurde abermals durch das Licht der Glühbirne dazu gezwungen, zu blinzeln. Er hörte das Ratschen von Metallringen auf einer Stange. Ein Vorhang. Nachdem er sich an das Licht gewöhnt hatte, versuchte er Anselm im Raum ausfindig zu machen. Seine Augen suchten und fanden ihn schließlich etwa fünf Meter von ihm entfernt. Tatsächlich hatte Anselm einen Vorhang zur Seite gezogen. Einen Plastikvorhang, wie man ihn aus Fabriken oder Fleischereien kennt. Was sich dahinter verbarg, ließ Joris seinen momentanen Zustand, seine Schmerzen, den ekligen Geschmack, einfach alles, vergessen, und sein Herz fast explodieren. Maria. Wie er, war sie auf einen klapprigen Stuhl gefesselt. Ihr fehlte das Bewusstsein und bei näherem Hinschauen sah er ein Rinnsal Blut, das aus ihrem Mundwinkel zu kommen schien. Nun versuchte er, mit dem letzten bisschen seiner verbliebenen Kraft gegen die Fesseln anzukämpfen. Maria ist bewusstlos. Bewusstlos oder tot? Er konnte den Gedanken nicht zu Ende führen, weil sich die Frage erübrigte. Durch mehrere starken Ohrfeigen brachte Anselm die ebenfalls geknebelte Maria wieder zu Bewusstsein. Auch sie schien einen Moment orientierungslos zu sein, fing sich jedoch schnell, als sie den gefesselten Joris sah. Auch sie kämpfte gegen die Kabelbinder an und versuchte, durch den Knebel zu schreien. Ein erneuter Schlag ins Gesicht vereitelte weitere Widerstandsversuche und Maria sackte zurück in den Stuhl. „Zu dir komme ich später noch.“, hörte Joris Anselm sagen und er spürte, wie sich eine unbändige Wut in ihm breit machte. Anselm, der sich inzwischen wieder ihm zugewandt hatte, fuhr in seiner Rede fort: „Wie du siehst, sind wir nicht allein. Ich glaube, heute Abend müssen ein paar Dinge gesagt werden. Ein paar, wie sagt man so schön, Offenbarungen, gemacht werden.“ Bei den letzten Worten verfinsterte sich seine Miene. „Du solltest ja mittlerweile festgestellt haben, dass ich weiß, wer du bist. War, verdammt nochmal, nicht leicht dich zu finden. Von Hamburg nach Berlin ist er geflüchtet. Du hast wohl gedacht, hier wärst du sicher.“ Einen Moment lang schwieg er. „Ich weiß, was du gemacht hast. Ich weiß alles, Simon. Mir musst du heute Abend gar nichts beichten. Aber…“, fuhr er mit einer Kopfbewegung in Richtung Maria fort, „Ich habe das Gefühl, zwischen euch Turteltäubchen gibt es einige Unklarheiten. Einige Dinge, die gesagt werden müssen.“ Er stand nun genau zwischen ihm und Maria und das Licht der Glühbirne fiel auf ihn herab wie auf einen Zirkusdirektor, der die Vorstellung eröffnet. Auf einmal änderte sich seine Mimik und er kam erneut auf Joris zu. „Fangen wir doch folgendermaßen an.“ Er seufzte und Joris sah, dass dem eben noch tückisch grinsenden Mann Tränen in den Augen standen. Die folgenden Worte presste Anselm unter offensichtlicher Kraftaufwendung hervor: „Wer war Eva?“ Joris Herz machte für eine Sekunde einen Aussetzer. Anselm kann nicht ER sein. Nein, unmöglich. Aber was, wenn…? Auch diesen Gedanken konnte Joris nicht zu Ende führen, da Anselm plötzlich einen Schrei verlauten ließ: „Wer, verdammt? Sag´s ihr. Mach schon.“ Er zerrte Joris den Knebel mit zitternden Fingern aus dem Mund und packte ihn am Kragen. Auch Joris hatte inzwischen wieder angefangen zu zittern. „Anselm. Lass Maria gehen. Lass sie gehen. Sie hat nichts mit der Sache zu tun.“ Anselm zögerte keine Sekunde. Er stopfte den Lappen wieder in Joris Mund und wandte dabei noch mehr Gewalt an als vorher. „Nichts damit zu tun?“, kreischte Anselm hysterisch. „Nichts damit zu tun, dass ich nicht lache. Du wirst schon sehen. Ich hoffe du weißt, was Nemesis heißt? Meine Botschaft solltest du ja bekommen haben.“, fügte er mit einem gemeinen Grinsen hinzu. „Blutrache, Simon. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Was du mir genommen hast, werde ich dir nun auch nehmen.“ Er ist es. Kein Zweifel. Ich habe ihm etwas genommen? Das kann nur Einer sein. Evas Ehemann., fieberte Joris in Gedanken und ihm graute es vor dem, was noch passieren würde. „Aber gut.“, setzte Anselm seinen Monolog fort, „Eigentlich hatte ich gehofft, nicht dazu kommen zu müssen, aber du lässt mir keine Wahl.“ Joris hatte keine Ahnung, wovon Anselm sprach, und folgte angespannt jeder Bewegung seines Peinigers. Er verschwand für einen Augenblick aus dem Blickfeld, tauchte jedoch zügig wieder auf. „Weißt du, Simon? Du hast dich bestimmt gefragt, warum ich jetzt erst komme. Warum erst nach all den Jahren?“ Wieder kniete er sich hin, sodass sie auf Augenhöhe miteinander redeten. „Es braucht natürlich Vorbereitung. Expertise. Planung. Zeit. Wie rächt man sich überhaupt? Mord? Folter? Beides?“ Bei den letzten Worten entblößte der Entführer seine perlweißen Zähne und sein Mund formte erneut ein Lächeln. „Ich könnte dir gar nicht sagen, in wie vielen Online-Foren ich nach den effektivsten Verhörmethoden gesucht habe. Ich hätte vorher nie gedacht, dass es wirklich eine Szene dafür gibt.“ Er lachte stürmisch auf. „Aber wieso auch nicht? Wir Menschen sind von Grund auf krank. Das ist das, was ich aus all dem lernen konnte. Wir zeigen es nur nicht, weil wir uns dafür schämen. Mir ist das egal. Die Leere, die Eva in mir hinterlassen hat, kann ich nur füllen, wenn ich meinen inneren Krankheiten freien Lauf lasse, meine Perversionen ausleben.“ Er umkreiste den Stuhl, auf dem Joris mit rasendem Atem und ängstlichem Blick saß und sprach weiter: „Säure auf die Fingernägel? Eklig. Messer? Schmutzig. Und dann habe ich irgendwann gemerkt, dass sich die meisten darin einig sind, dass Strom die sauberste und effektivste Methode ist, um jemanden zum Singen zu bringen.“ Er klopfte Joris auf die Schulter, worauf dieser zusammenzuckte und sich auf seinem Stuhl zu winden begann. „Elektroschocks mein Freund. Richtig kontrolliert, kannst du dein Opfer damit stundenlang bearbeiten, ohne dass äußerliche Schäden auftreten. Kein Risiko auf Verbluten, verstehst du?“ Wieder legte er eine kurze Pause ein. „Aber wie schockt man jemanden, ohne ihn direkt zu töten? Autobatterie mit Starthilfekabel? Nein. Ich habe was viel besseres.“ Er zog ein unförmiges Metallgerät hervor, welches er bisher hinter dem Rücken gehalten hatte. „Das hier ist selbstgebaut. Der Strom wird dabei von Geräten erzeugt, die sie normalerweise in Australien und den USA für Alligatoren verwenden. Also pass auf, Simon: Ich leg dir das gleich um den Hals. Mit dem Regler hier kann ich dann entscheiden, ob du nur ein leichtes Kitzeln spüren sollst, oder ob ich dein Gehirn wie ein Spiegelei braten will.“ Er grinste noch breiter. „Kleiner Spoiler: Du wirst hier nicht gekitzelt werden.“ Joris wand sich in seinen Fesseln, doch bewegte die Kabelbilder kein Stück. Hektisch versuchte er, sich zu wehren, als ihm Anselm den schweren Metallgurt um den Hals legte. „Konzentration, Simon. Ich gebe dir erstmal eine kleine Kostprobe.“, sagte Anselm und drehte den Regler der Fernbedienung nach oben. Sobald die Finger den Regler auch nur berührten, durchfuhr ihn ein Schmerz, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Wie tausend Nadeln bohrte er sich in seinen Hals und breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Seine Muskeln verkrampften sich und sein Kopf wurde durch den plötzlichen Impuls in den Nacken gerissen. Sein Schädel drohte beinahe zu explodieren und er spürte, wie sich Schweiß, Rotz und Tränen in seinem Gesicht zu vermischen begannen. Seine Augen wurden weit aufgerissen und er fürchtete fast, den schimmligen Lappen zu verschlucken. Der Schmerz war so intensiv, dass Joris das Gefühl für Raum und Zeit verlor. Allmählich verschwamm die Umgebung und die Schwärze hüllte ihn erneut ein.

Er flog über einen breiten Fluss hinweg. Leicht wie eine Feder ließ er sich vom Wind tragen und nahm dabei keinerlei Notiz von seiner Umgebung. Körperlos überquerte er kleine Städte und Dörfer, Seen und Berge, Wüsten und Meere, Planeten und Galaxien. Seine Fantasie schien ihm einen Streich zu spielen, denn die Dinge, die er sah, konnte man nicht in Worte fassen. Farbexplosionen in einem Gemisch aus Schwärze und absoluter Helligkeit. Empfindungen, die Gestalt angenommen hatten und als Wörter neben ihm durch die Luft sausten. Milliarden von Sternen, die vor seinen Augen zu riesigen Sonnen wurden und zu schwarzen Löchern implodierten. Pure Größe. Seine Sinne begannen zu verschmelzen. Gerüche wurden zu Geschmäckern, Glück wurde flüssig, die physikalischen Gesetze schienen aufgehoben, bis – Die Situation änderte sich abrupt. Die Welt begann wieder Gestalt anzunehmen. Er befand sich in einem Restaurant. Er kannte das Restaurant. Hier hatte er Eva kennengelernt. Plötzlich trat eine Person in die wenig besuchte Gaststätte und näherte sich der Bar. Joris sah, wie er selbst das Restaurant betrat. Er verharrte weiterhin körperlos in der Schwebe und beobachtete die Geschehnisse. Die Welt schien in doppelter Geschwindigkeit abzulaufen. Als würde er einen altmodischen Stummfilm anschauen, sah er sich dabei zu, wie er mit schnellen Schritten die Bar ansteuerte, um etwas zu bestellen. Der Barkeeper erfüllte ihm seinen Wunsch und sein Ich sah sich einige Minuten später einem Gin Tonic gegenüber. Plötzlich gab es einen Zeitsprung. Die Bar war voll. Joris suchte nach seinem Ich und wurde schnell fündig. Es stand am anderen Ende der Bar und war offensichtlich tief in ein Gespräch mit einer Frau verwickelt. Eva. Sie lachte über irgendetwas, das er gesagt hatte, und legte die Hand auf seinen Oberschenkel. Sie beugte sich vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er sah, wie sein Ich verlegen lachte, sich dann verstohlen umschaute, ihre Hand ergriff und gemeinsam mit ihr die Bar verließ.

Auf einmal begann sich das Umfeld wieder zu verändern. So schnell, wie das Wirrwarr aus Lichtern, Formen und Farben der Bar gewichen war, so schnell verdunkelte sich das Geschehnis nun wieder. Die Bar, das Restaurant, die Menschen zerliefen, als hätte man einen Eimer Wasser über ein frisch gemaltes Kunstwerk geschüttet, und mündeten in einem gemeinsamen Strom. Das kaum noch erkenntliche Mobiliar der Bar verschwamm und hinterließ nichts als Dunkelheit in Joris´ Vorstellung. Abermals verschluckte ihn das Nichts.

Klatsch! Von der erneuten Ohrfeige, die Anselm dieses Mal mir der Rückseite seiner rechten Hand ausgeführt hatte, wurde Joris aus seinem Flashback gerissen und zurück in die Realität katapultiert. Sein Kopf war dem Explodieren nahe. Er versuchte erst gar, nicht seine Augen zu öffnen, da er spüren konnte, dass das Licht seine Schmerzen nur noch verschlimmern würde. Jemand lachte: „Mensch Simon, ich habe gedacht du hältst ein bisschen mehr aus.“ Er konnte nicht sehen, wo Anselm war, wusste aber, dass er sehr nah bei ihm sein musste, weil dessen betörender Parfümgeruch seine Kopfschmerzen verstärkte. Langsam versuchte Joris, sein linkes Auge zu öffnen, blinzelte hektisch, doch schaffte tatsächlich, es einen kleinen Spalt offen zu halten. Erst jetzt bemerkte er, dass sein Kinn auf die Brust gesunken war. Der Metallring um seinen Hals schnitt in sein Fleisch, doch ihm fehlte die Kraft, seine unangenehme Position zu verändern. „Der Regler war nur bis zu Hälfte aufgedreht, mein Freund.“, eröffnete ihm Anselm, der mittlerweile wieder vor ihm kniete. „Wir versuchen es jetzt nochmal. Willst du Maria erzählen, wer Eva war?“ Mit diesem Worten zog er dem wehrlosen Joris erneut den fauligen Stofffetzen aus dem Mund und gab ihm die Möglichkeit zu antworten. Der faulige Geschmack des Lappens blieb diesmal aus. Vielleicht habe ich meine Geschmacksnerven durch den Schock verloren?, dachte Joris angsterfüllt, bevor ihm wieder einfiel, dass er diesem Raum vermutlich sowieso nicht lebend verlassen würde und seine Geschmacknerven deshalb keine große Rolle mehr spielen würden. Als Joris nun zu sprechen versuchte, richtete er sich nicht an Anselm, dessen Blick er bewusst mied, sondern sprach, mit versagender Stimme, zu Maria: „Maria. Es tut mir leid, dass ich dich mit hier reingezogen habe. Ich hatte keine Ahnung, dass nach all den Jahren noch etwas passieren könnte.“, begann Joris. Er konnte nicht sehen, was sich in Maria abspielte, dafür war sein Blickfeld zu sehr eingeschränkt durch Anselm, der nun kerzengrade und angespannt vor ihm stand und seinen Worten lauschte. Joris konnte nicht deuten, was in seinem, inzwischen zu einer wahnsinnigen Fratze verzogenen, Gesicht vor sich ging. Er fuhr mit zitternder Stimme fort: „Ich hätte von Anfang an mit offenen Karten spielen sollen, Maria. Ich bin, wie du mittlerweile schon weißt, nicht der, für den du mich hältst. Mein echter Name ist Simon…“ Weiter kam er nicht, denn plötzlich brach Anselm aus seiner eissäulenartigen Statur aus und brüllte: „Komm zum Punkt. Das weiß sie sowieso alles schon. WER WAR EVA?“ „schon gut, schon gut.“, antwortete Joris hastig und sammelte seine Gedanken. „Eva war… Eva… Sie war meine große Liebe. Meine große Liebe vor Dir, Maria.“ Einen Moment herrschte Stille in dem kargen, spärlich beleuchteten Raum. Sie wurde lediglich durch das Tropfen des Gemischs von Körperflüssigkeiten unterbrochen, welche sich mittlerweile in kleinen Bächen von Joris Gesicht den Weg bis zum Boden bahnten. „Sie hat mich unglaublich geliebt. Gott, war sie verliebt.“, durchbrach Joris die Stille. „LÜÜÜGEEEN!“, schrie Anselm plötzlich und packte Joris am Kragen. „Ich war ihr Ehemann. Sie hat dich nie geliebt, Simon. NIE! Mir reicht´s jetzt. Ich habe das Gefühl, dass du noch eine kleine Kostprobe vertragen kannst.“ Joris wollte schreien und bäumte sich mit aller Kraft auf, um das Unausweichliche zu verhindern. Seine Anstrengungen nützten ihm nichts. Bevor er sich versah, hatte Anselm ihm erneut den Knebel in den Rachen gestopft und die Fernbedienung in den Händen. Man hätte meinen können, dass man sich an Schmerzen gewöhnen kann, doch als Anselm den Regler erneut drehte, kam es Joris wieder so vor, als hätte er noch nie so starke Schmerzen gespürt. Impulsartig pumpte der Schmerz durch seine Nervenbahnen und sein Körper begann sich erneut zu verkrampfen. Verzweifelt nach Luft ringend, den kribbelnden Schmerz verfluchend, wurde Joris dazu gezwungen, zwischen immer neuen Wellen des Schmerzes seinen Kopf in den Nacken zu pressen, bis er wieder tief in eine Erinnerung gezogen wurde.

Das Geschwirr aus bunten Lichtern und Sinneseindrücken, die zu verschmelzen drohten, blieb aus. Für einen, diesmal sehr kurzen, Moment verweilte Joris in völliger Dunkelheit, bis er die Augen öffnete. Der Raum, Anselm und Maria waren verschwunden. Du Umgebung hatte sich völlig verändert. Diesmal schwebte er nicht über dem Geschehen, sondern beobachtete alles aus der ersten Person. Er sah sich um: Er befand sich auf einem breiten Bett und sah aus einem großen Schiebefenster direkt auf die Baustelle der Hamburger Elbphilharmonie. Ein Hotel? Ja, ganz sicher, dachte Joris, nachdem er feststellte, dass der Raum keinerlei Hinweise auf ein Privatleben zeigte. Keine Familienfotos, keine Kunst.  Außerdem war die Einrichtung typisch für ein Hotel. Ein Bett, eine kleine Sitzecke, zwei Nachttische und ein Seitengang, der den Weg zu Ankleide, zur Eingangstür und zum Badezimmer der Suite freigab. „Simon, ich liebe dich.“, ließ eine Stimme hinter ihm auf einmal verlauten. „Ich kann ohne dich nicht leben!“, fuhr die Stimme fort. Ohne dass Joris die Bewegung hätte kontrollieren können, drehte sich der Körper, aus dessen Sicht er das Geschehen verfolgte, schlagartig um. Er sah eine Frau. Schlank lag sie da und wurde lediglich von einer Decke verschleiert, die ihr geschickt die weiblichen Rundungen fiel. Die Frau hatte Tränen in den Augen. Abermals konnte Joris nicht kontrollieren, was als nächstes geschah. Ohne Vorwarnung sprach sein Körper mit seiner Stimme: „Du hast mich belogen, Eva.“ Er hörte, nein, vielmehr spürte er die Wut seines Wirts, als er fortfuhr. „Du liebst mich, ja? Du hast einen EHEMANN, verdammt! Wie verantwortungslos kann man eigentlich sein? Du machst mich wahnsinnig. Wie lange treffen wir uns nun schon? Ein halbes Jahr? Und ich Idiot frage mich nicht mal, warum wir uns immer nur in irgendwelchen sündhaft teuren Hotelzimmern treffen, anstatt dass wir uns wie normale Menschen Zuhause treffen.“ Er spürte, wie die Kehle seines vermeidlichen Körpers trocken wurde. Er wollte fortfahren, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er drehte sich zurück und stierte weiter auf die hellbeleuchtete, halbfertige Elbphilharmonie. Er spürte die Hände der Frau, die sich aufgerichtet haben musste, auf seinen Schultern, und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. „Er hat mir nie etwas bedeutet, Simon. Bitte glaub mir doch. Ich wollte ihn sowieso verlassen. Ich dachte einfach, dass es nicht notwendig sei, dir von ihm zu erzählen.“, sagte die Stimme in einem Ton, der vielleicht aufmunternd klingen sollte. In ihm, in seinem Vergangenheits-Ich, schienen die Worte allerdings nichts als Zorn zu wecken. Plötzlich setzte sich sein Körper in Bewegung. Er konnte ihre Berührung nicht ertragen. Unsanft stieß er sie von sich und stand auf. Auch er war unbekleidet, wie Joris in diesem Moment feststellte. Jetzt lief er allerdings zu dem Haufen aus Kleidungsstücken, der auf einem der beiden Loungestühle lag, die die Sitzecke bildeten, und begann sich anzuziehen. In der Bewegung drehte er sich zu ihr um. Da war sie. Ein Bild göttlicher Vollkommenheit präsentierte sich ihm. Sie kniete zusammengesunken im Bett, doch Joris konnte nicht umhin, die engelsgleiche Statur ihres Körpers zu bewundern. Ihre langen Haare legten sich verspielt um die glatte Haut der Schultern und endeten da, wo das Kissen, mit welchem sie sich nun bedeckte, nur erahnen ließ, was sich darunter befand. „Du verstehst es nicht, oder? Du hast mich belogen. Die ganze Zeit dachte ich, dass ich der Einzige für dich wäre. Ein halbes Jahr!? Das ist doch nicht normal.“ Mittlerweile war er fast vollständig angezogen. Unbeholfen zog er sich, auf einem Bein hüpfend die letzte Socke an und schlüpfte in seine Schuhe. „Joris bitte. Ich kann nicht ohne dich leben…“, begann die Frau erneut und Joris hörte an ihrer brechenden Stimme, dass sie den Tränen nahe war. „Ach Quatsch. Erzählst du deinem Mann das Gleiche? Er sei der Einzige für dich? Du kannst ohne mich nicht leben? Ich glaub dir kein Wort.“ Er packte seine Jacke und war schon fast bei der Zimmertür, als sie ihn von Hinten packte und ihn umdrehte. In ihrer stürmischen Umarmung versuchte sie ihn zu küssen, und Joris spürte, wie ihr Körper den seinen berührte und ein flammendes Gefühl sein Inneres für einen Moment auf den Kopf zu stellen drohte. Erneut stieß er sie weg. „Du kannst nicht ohne mich leben?“, wiederholte Joris Körper. „Tja, Pech für dich, das musst du jetzt wohl. Ruf mich bloß nicht an.“ Ohne ein weiteres Wort verließ er stürmisch das Hotelzimmer, wobei er es sich nicht nehmen ließ, die Tür zu knallen. Die Welt verdunkelte sich für Joris, den stillen Beobachter, erneut und er verfiel abermals in einen Zustand der komatösen Leere.

Durch einen Schwall eiskalten Wassers wurde Joris wieder in die Gegenwart befördert. Anselm hatte sich diesmal anscheinend dafür entschieden, den malträtierten Joris anders, als mit einer Ohrfeige zu wecken. Unsanft wurde Joris vom Strom seiner Erinnerungen zurück in die eiskalte Realität gespült. Das letzte bisschen Kraft schien Joris durch den Elektroschock verloren gegangen zu sein, denn kaum war er aufgewacht, sackte er in sich zusammen, den Metallring ignorierend, der sich nun schmerzhaft in seine Schulter bohrte. „Ich muss wohl nicht deutlicher werden, dass das hier kein Spiel ist.“, ließ Anselm verlauten, der keine Spur seines sonst oft als Stilmittel verwendeten Spotts mehr in seiner Mimik widerspiegelte. „Also, du warst gerade dabei, unserem Zufallsgast des Abends von deiner Liebe zu Eva zu erzählen und wie du mir alles nahmst, was ich hatte.“, sagte Anselm und entriss Joris brutal den Knebel. Den Kopf weiterhin auf seiner Schulter, versuchte sich Joris zu sammeln. Der Flashback, den die Schmerzen in ihm ausgelöst hatten, geisterte ständig vor seinem inneren Auge umher und ließ ihn keinen klaren Gedanken fassen. Während er dieses Mal sprach, wandte er sich an Anselm. Seine Zunge war schwer und nuschelnd sagte er: „Anselm… Du musst mir glauben. Ich hatte keine Ahnung von deiner Existenz. Ich… Ich schwöre es dir.“ Die letzten Worte presste Joris hervor und er bemerkte, wie er das letzte Bisschen seines verbliebenen Speichels dabei herausschleuderte. Anselm verzog keine Miene, sondern stierte ihn aus hasserfüllten Augen, durchdringend an. „Als sie…“, fuhr Joris fort und seine Stimme drohte zu versagen, „Als sie mir von dir erzählte, brach ich jeglichen Kontakt zu ihr ab. Sie sagte…“ Joris spürte, wie sich unter seine Schmerzen und seine Erschöpfung ein weiteres Gefühl mischte: Trauer. „Sie sagte, sie könne ohne mich nicht leben.“ Den letzten Satz sagte er so leise, dass er meinte, Anselm hätte ihn niemals verstehen können. Im nächsten Moment war er sich allerdings sicher, dass Anselm jedes seiner Worte genauestens verfolgt hatte. Sein Gesicht verfinsterte sich. „Wie ich sehe, lernst du nicht aus deinen Fehlern, Simon. Sie hat mich geliebt, mich allein.“, sagte er und seine Stimme drohte, sich zu überschlagen. Mit Wahnsinn in der Stimme fuhr er fort: „Die Schuld des Betruges, zu dem du sie gezwungen hast, hat sie in den Suizid getrieben!“ Joris fehlte die Kraft, ihm zu widersprechen und sich zu wehren, als Anselm ihm ein letztes Mal den Knebel in den Mund presste. Er fing an zu winseln, als Anselm die Fernbedienung erneut hob. „Aber das wird dir durch ein bisschen Strom sicherlich noch klar werden.“ Das letzte, was Joris vernahm, war Maria, die vergeblich durch ihren Knebel gedämpfte Schreie von sich gab, als Anselm den Regler erneut aufdrehte.

Flashback. Die Umgebung verschwamm und wich abermals einer neuen Szenerie. Er befand sich auf dem Beifahrersitz eines Autos. Bei näherer Betrachtung wurde ihm klar, dass es sich um seinen Corsa handeln musste. Das Auto bewegte sich nicht. Joris blickte auf den Fahrersitz und sah sich selbst. Er sah, wie sein Ich steif, wie ein Brett, beide Hände am Lenkrad, dasaß und in die Ferne starrte. Sie befanden sich auf einem verlassenen Waldweg. Plötzlich änderte sich die Körperhaltung des Erinnerungs-Joris und er begann wie wild auf das Lenkrad einzuprügeln. „Fuck, fuck, fuck!“, schrie er immer wieder. Joris wollte sein eigenes Ich beruhigen und fragen, was passiert sei, als er feststellte, dass er abermals körperlos war und seinem nichtexistierenden Mund dementsprechend kein Geräusch entweichen konnte. Er bemerkte, dass sein Ich hemmungslos zu schluchzen begonnen hatte. In der rechten Hand hielt es sein Handy, schleuderte dies jedoch im selben Moment gegen die Windschutzscheibe, sodass es abprallte und dorthin viel, wo Joris Schoß hätte sein sollen, wenn er über einen Körper verfügt hätte. Der Bildschirm war durch den Aufprall nicht beschädigt worden und Joris konnte die Nachrichten darauf unschwer erkennen. „Sie haben 27 verpasste Anrufe von Marquardt, Eva und zwei verpasste Anrufe von 0172/212364089. Wenn Sie wünschen, diese Personen zu kontaktieren…“, ließ eine der automatischen SMS seines Telefonanbieters verlauten. Doch diese Nachricht schien ihm nicht der Grund für die Verzweiflung seines imaginären Ichs zu sein. Eine weitere Nachricht kam dafür viel eher infrage: „Simon, wir kennen uns zwar nicht, aber ich bin Evas beste Freundin. Ich weiß nicht, ob es dich interessiert, aber ich glaube, ich muss es dir irgendwie mitteilen. Eva ist tot. Sie hat sich gestern Abend das Leben genommen. Tut mir leid, dass ich dir das so mitteilen muss, aber anders habe ich dich erreicht. Sie hat mir kurz vor ihrem Tod von eurer Affäre erzählt. Bitte ruf mich an, sobald du kannst.“ Der Absender dieser Nachricht war die Telefonnummer, die zwei Mal versucht hatte, Joris zu erreichen. „Ich bin ein Idiot!“, schrie sein Ich neben ihm plötzlich auf und trommelte sich mit den Faustballen gegen die Stirn, raufte die Haare und warf sich zurück in den Fahrersitz. Auf einmal vibrierte das Handy erneut, doch sein Besitzer würdigte den sich verändernden Bildschirm keines Blickes. Die neue Nachricht ließ folgendes verlauten: „Ihr Anruf mit 0172/212364089 dauerte 2 Minuten und 54 Sekunden. Informieren Sie sich jetzt über ein Sparparket mit unbegrenzten Anrufen unter…“. Offenbar schien sein Ich die unbekannte Nummer zurückgerufen zu haben, um sich Gewissheit über die Situation zu verschaffen. Während sein Ich neben ihm von Schluchzern durchschüttelt wurde, wurde der unsichtbare Joris durch den Sitz des Autos scheinbar in den Boden gezogen. Um ihn herum bildeten sich schwarze Wände und kurz darauf fand er sich im Nichts wieder.

Diesmal brauchte es keine Gewaltanwendung durch Anselm, um Joris aus seinem Zustand der Ohnmacht zu reißen. Er erlangte das Bewusstsein selbstständig wieder und war im Vergleich zu den vorherigen Stromschocks recht schnell wieder in der Lage, seine Augen zu öffnen, auch wenn sich an seinen Schmerzen nichts geändert hatte. Jeder Muskel seines Körpers fühlte sich an, als hätte er ihn sich gezerrt, und sein Kopf veranlasste ihn dazu, seine Augen nur einen millimeterbreiten Spalt zu öffnen. Seine Gliedmaßen hingen schlaff an ihm herunter und lediglich die Kabelbinder hinderten ihn daran, vom Stuhl zu fallen. Maria winselte immer noch, doch nun erhob Anselm seine Stimme. „Mensch, du zeigst ja ein bisschen Resistenz.“ Offenbar hatte er wieder die Kraft dazu gefunden, zu grinsen, denn dem, was von Joris noch übriggeblieben war, präsentierte sich erneut das Zahnpasta-Werbungs-Grinsen seines Peinigers. „Du kriegst jetzt noch eine Chance, hier die Wahrheit zu sagen, Simon. Ansonsten wirst du nicht mehr der Einzige sein, der hier leidet.“, sagte er nun mit ernst werdender Stimme. Joris nickte erschöpft und wusste nicht, ob Anselm die halbherzige Geste hatte deuten können, doch dieser riss ihm auch schon den Lappen aus dem Mund. Joris überlegte fieberhaft, was das Beste war, das er nun sagen konnte. Sag das, was ihn zufrieden macht Joris. Du weißt, dass sie sich umgebracht hat, weil sie dich geliebt hat und nicht mit der Trennung leben konnte. Das wird er aber nicht hören wollen. Dann wird er auch Maria foltern. Mit zitternder, dumpfer Stimme begann Joris: „Du hast Recht, Anselm.“ Wenn du ihr hier lebend rauskommt, ist noch genug Zeit, um Maria die Wahrheit zu erzählen., dachte Joris, sich selbst beruhigend. „Ich… Ich habe sie belästigt. Sie hat einmal einen Fehltritt begangen, als sie betrunken war, und ist mit mir gegangen. Ich habe mich unsterblich in sie verliebt und ihr…“ Seine Stimme versagte. Anselm trat näher auf ihn zu und ihre Gesichter berührten sich erneut beinahe. „Ja, erzähl weiter!“, sagte er mit vor Wut zitternder Stimme. „Ich habe ihr aufgelauert und ihr hinterherspioniert… Als ich gemerkt habe, dass das nichts bringt, habe ich ihr ein schlechtes Gewissen eingeredet, was sie letztendlich… Letztendlich in den Selbstmord trieb…“, presste Joris, indem sich nun ebenfalls Zorn aufbaute, zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Seine Schmerzen hatte er fast völlig vergessen. „Bist du jetzt zufrieden, Anselm?“, schrie er nun fast. Zu seiner Überraschung huschte tatsächlich der Anflug eines ehrlichen Lächelns über Anselm Gesicht. „Ja bin ich. Bin ich in der Tat, Simon. Sehr zufrieden.“ Er drehte sich um und ging einige Schritte auf und ab. Joris, der nun davon ausging, dass die Qualen der vergangenen Stunden, die Tortur, nun ein Ende finden würden, entspannte sich in seinem Sitz. Sofort spürte er die Schmerzen wieder und die Kraft, mit der er eben noch geschrien hatte, schien ihm nun ewig weit weg zu sein. „Aber, Simon…“, fuhr Anselm fort. „Nemesis. Ich werde nie wieder mit Eva sprechen können. Eva ist tot. Deinetwegen Simon. Nur deinetwegen.“ Er bleckte erneut die Zähne. Joris, dem keine Kraft blieb, um etwas zu erwidern, sackte noch weiter in seinem Stuhl zusammen. „Ich habe dir doch am Anfang versprochen, dass ich dir das nehmen werde, was du mir genommen hast.“ Bevor Joris realisierte, was Anselm meinte, stopfte dieser ihm auch schon wieder den Lappen in den Mund. „Die Vorstellung beginnt, Simon.“ Während Anselm sich umdrehte, stellte der halbohnmächtige Joris fest, dass Anselm eine Handfeuerwaffe aus seinem hinteren Hosenbund zog. Aus der Hosentasche nahm er einen weiteren Gegenstand, der sich als Schalldämpfer entpuppte. Joris versuchte nun verzweifelt seinem Körper die letzten Kraftreserven zu entziehen, doch bemerkte, wie sein Blickfeld immer kleiner wurde und sich die Schwärze erneut breitmachte. Das Letzte was er sah, bevor er in Ohnmacht viel, war, wie der Killer den Schalldämpfer auf die Waffe montierte und sich der nun mit ihren Fesseln kämpfenden Maria näherte, um sein grausames Werk zu vollenden.

 

 

 

One thought on “Nemesis

  1. Okay wow. Was soll ich sagen? Vielleicht zu aller erst einmal – großartig!
    Kurz mal vorweg :
    Mein Herz hast du bereits bekommen, bevor deine Geschichte begonnen hat.
    Ich sollte dies aber nicht bereuen, wie es sich mit deinem letzten Satz bewies. 😉
    „Ein Semster länger“… und du hattest mich auf deiner Seite 😂👌🏻
    Joris is btw ein sehr schön gewählter Name. Liest sich gut und bleibt im Kopf.
    Als du den „ständig inneren Zeitdruck“ beschrieben hast, habe ich Parallelen zu mir selbst aufgebaut und somit an Sympathie für deine HP gewonnen. Die Portraitbeschreibung deiner HP ist dir besonders gut gelungen, wie ich finde.
    Dein Schreibstil verfügt über einen richtigen Schreibflow, der mir persönlich sehr gut gefällt. Einmal hast du geschrieben, dass „die Welt um ihn herum langsam zu verschwinden begann“.. genauso war es für mich just in dem Augenblick des Lesens auch für mich. Du hast auch das Böse deiner Geschichte wirklich sehr diabolisch und grausam darstellen können. Durch Gedankengut deiner Figuren hat man diese richtig nachempfinden können. „Anselm? Was ist das überhaupt für ein Name? Lächerlich.“ das hat mir wirklich gut gefallen.
    Auch das Schmerzgefühl, du hast es so beschrieben, dass ich kurz glaubte mich selbst zu erinnern, da es so real und authentisch geschrieben war. Einfach Weltklasse!
    Ich glaube zu bemängeln hätte ich lediglich 2 Rechtschreibfehler?! 😂🤷‍♀️
    Demnach – dran bleiben!!!
    Herzlich – die Lia 💚🌿

    Vielleicht hast Du ja auch mal Lust, meine Geschichte (was sich liebt, das hackt sich) zu lesen und mir mal dein Feedback zu geben! Würde mich riesig freuen!:)

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