LouisaNeuanfang

Alle lachen. Alle bis auf ihn. Und mich. Ich sehe seine Enttäuschung, die sich mit Wut vermischt, gleichzeitig spüre ich, wie mir Tränen die Wange herunter laufen.

„Kat, aufwachen!“ Als ich die Augen öffne, schaue ich direkt in Ramonas genervtes Gesicht. „Komm schon, du wolltest mich mitnehmen und jetzt pennst Du einfach ewig!“ Mit einem Blick auf mein Handy stelle ich fest, dass die erste Vorlesung in 20 Minuten beginnt. Wenn wir gut durchkommen, brauchen wir 9 Minuten bis zum Campus.

„Fuck!“ Ich springe auf und haste an meiner Mitbewohnerin vorbei ins Bad. Na super, ausgerechnet heute. Normalerweise sehe ich es nicht so eng, wenn ich das ein oder andere Seminar verpasse. Auch heute steht erstmal nichts wichtiges an. Allerdings hatte Ramona mich gestern darum gebeten, sie mitzunehmen, damit sie nicht vor ihrer Prüfung noch mit dem Bus fahren muss.

Ich wollte diese Möglichkeit nutzen, um bei ihr Bonuspunkte zu sammeln. Sie hielt noch nie viel von mir, da bin ich mir sicher. Sie zog zur gleichen Zeit wie ich hier ein und von vorne herein entstand eine Art Konkurrenzkampf zwischen uns. Wahrscheinlich lag das an dem gut-aussehenden Dritten in unserer Runde: Kai ist ca 1,90m große, dunkelhaarig und suchte zwei Mitbewohner. Die Ironie entschied, dass seine Wahl dabei auf Ramona und mich fiel. Zwei, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Seitdem versuchen wir miteinander klarzukommen. Nicht so einfach, wie gedacht .

Als ich es dann tatsächlich schaffe, fünf Minuten später im Auto zu sitzen, scheint sie allerdings besänftigt. Gut so.

Nach der ersten Vorlesung habe ich zwei Stunden Zeit bis zur nächsten. Ich beschließe, die Zeit zu nutzen, um meine Hausarbeit weiter zu schreiben und mache mich auf den Weg in die Universitätsbibliothek. Meine Sachen schließe ich in eines der Schließfächer und nur mit meinem Laptop bewaffnet gehe ich zu meinem Lieblingsplatz. Um diese Zeit ist noch nicht viel los und ich lasse mich auf das gemütliche Sitzkissen sinken. Die Zeit verstreicht schnell und ich greife ins Regal, um „Psychologie für Pädagogen“ als Hilfe für meine Arbeit zu nehmen, da sehe ich aus dem Augenwinkel, wie etwas vom Buchrand gleitet und auf den Boden fällt. Das Geräusch was entsteht, als es auf dem harten Boden aufprallt, lässt mich zusammenzucken.

Mist, mein Handy. Ich hebe das Handy auf, im gleichen Moment fällt mir ein, dass sich mein iPhone in meinem Rucksack befindet. Im Schließfach. Das ist nicht mein Handy. Aber es ist fast das gleiche Modell. Zum Glück ist kein Riss zu entdecken und das Gehäuse ist durch eine durchsichtige Hülle geschützt. Das hätte gerade noch gefehlt, wenn ich das Handy eines anderen Studenten auf dem Gewissen hätte. Andererseits wäre der andere selbst Schuld gewesen, was lässt der auch sein Handy einfach rumliegen.

Ich versuche, das Handy zu entsperren, um herauszufinden, wem es gehören könnte. Vielleicht kenne ich den Besitzer ja, schließlich liegt es in dem Gang mit Pädagogik Büchern. Die Chance, dass die Person den gleichen Studiengang belegt wie ich, ist also groß.

Als mich der Bildschirmschoner anleuchtet, lasse ich das Handy beinahe fallen. Darauf ist die Kulisse zu sehen, in der ich mich gerade in diesem Moment befinde. Die Bücherei. Diese Ecke. Mein Lieblingsplatz. Und auf den grauen Sitzkissen sitze eindeutig ich. Mit meinem Laptop auf dem Schoß und ein paar Büchern und Blättern auf dem Boden verteilt. Ohne lange nachdenken zu müssen weiß ich, dass dieses Foto am letzten Wochenende entstanden sein muss. Samstags war ich bereits früh in der Bib, ich wollte so viel wie möglich schaffen und entsprechend viele Materialien hatte ich dabei. Meine enge Sporthose, sowie einen Hoodie, den ich niemals in einer Vorlesung tragen würde, verstärkten meine Vermutung, dass das Foto am Wochenende entstanden sein musste.

Mein Blut gefriert und gleichzeitig habe ich dass Gefühl, dass mein Herz so schnell schlägt, dass es gleich aus meiner Brust reißt. Wer hat einen Grund, mich zu fotografieren und vor allem, wieso mich als Hintergrund festzulegen? In mir mischt sich ein Gefühl von Angst mit dem Gefühl von Neugier. Ich stelle das Buch zurück in den Schrank und nehme mir meinen Laptop. Dann mache ich mich wieder auf den Weg nach unten. Dabei überströmt mich ein komisches Gefühl und ich schaue mich in alle Richtungen um, bevor ich mich der Dame am Infoschalter widme. „Entschuldigen Sie, hat sich heute schon jemand nach einem Handy erkundigt?“ Die Frau schaut in einigen Notizen nach, schaut mich dann aber kopfschüttelnd an. „Nein, du kannst es aber   gerne hier hinterlegen, wenn du eins gefunden hast, Liebes.“

Schon streckt sie die Hand in meine Richtung aus. „Äh, nein, ich frage für eine Freundin, die wird es sicher später herbringen, wenn sie fertig ist oben.“ Ohne, dass ich eine Sekunde nachgedacht habe, gehe ich an mein Schließfach und nehme mir meine Sachen. Dann setze ich mich in den Audimax und warte darauf, dass meine nächste Vorlesung beginnt. Ich bin 20 Minuten zu früh, aber ich hätte es keine Sekunde länger in der Bibliothek ausgehalten. Meine Gedanken kreisen dauernd um das Foto. Langsam füllt sich der Hörsaal und es wird immer lauter um mich herum. Noch bevor der Prof. Den Hörsaal betritt, finde ich mich auf dem Weg zu meinem Auto wieder. Der Weg nach Hause fühlt sich wie Stunden an.

Ich ziehe die Tür hinter mir zu und lasse mich auf mein Bett fallen. Ramona ist noch in der Uni, sie hat vorhin im Auto erwähnt, dass sie danach noch mit ein paar Leuten weg geht. Kai scheint auch nicht zuhause zu sein. Normalerweise hat er Donnerstags keine Vorlesungen, wahrscheinlich ist er gerade mit einer Errungenschaft vom letzten Wochenende unterwegs. Anders, als Ramona und ich wahrscheinlich vor unserem Einzug erhofft haben, ist Kai nicht der Typ für ernsthafte Beziehungen. Und bisher hat er uns gegenüber keinerlei Andeutungen gemacht, die etwas anderes Vermuten lassen könnten. Im Gegenteil, beinahe jedes Wochenende sehen wir eine andere Tussi mit ihm in seinem Zimmer verschwinden. Mittlerweile haben wir eine gute, freundschaftliche Basis erreicht und ich könnte ihn mir eher als besten, statt als festen Freund vorstellen.

Ich krame das Handy aus der Jackentasche, in der ich es eben habe verschwinden lassen. Immer noch hat sich nichts geändert, mein Foto ziert den gesperrten Zustand des Smartphones. Okay, vielleicht, wenn ich eine Verbindung zu dieser Person habe, gelingt es mir, den Pin herauszufinden. Und dann? Was erwarte ich mir davon?

 Ich versuche es mit meinem Geburtsdatum. Kennwort falsch. Vielleicht nur das Jahr. Kennwort falsch. 

Nachdem ich verschiedene Versionen ausprobiert habe, gebe ich das Geburtsdatum von Kai ein. Dann das von Ramona. Ich weiß nicht wieso, aber sie scheinen meine einzigen Strohhalme zu sein. Außer den beiden kenne ich niemanden aus der Gegend. Klar, ein paar Leute kenne ich aus der Uni, aus verschiedenen Kursen und mit dem ein oder anderen habe ich mich auch schon unterhalten. Aber das war es dann auch. Ich habe bisher versucht, mich aus allem rauszuhalten und niemandem zu nahe zu kommen. Nicht nach letztem Jahr. Nicht nach dem, was mit Dennis passiert ist.

Nach meinem Umzug nach Siegen habe ich mein altes Leben gelöscht und hier auf Reset gedrückt. Was viel schwerer klingt, als es in Wirklichkeit war. Es gibt niemanden, der mich vermissen könnte. Meine Familie ist quasi nicht existent. Als ich 4 Jahre alt war starb meine Mutter. Sie kämpfte lange gegen den Krebs. Long Story Short, sie hat den Kampf verloren. Und danach hat mein Vater den Kampf gegen den Alkohol verloren. Mit 16 zog ich bei ihm aus, bis dahin habe ich mich mehr um ihn gekümmert, als andersrum. Zu Weihnachten und zu Geburtstagen telefonieren wir. Er hat keine Ahnung, was in meinem Leben vor sich geht. Und meine Freunde, die brauchen mich nicht zu vermissen. Freunde. Eigentlich weiß ich doch garnicht, was dieses Wort bedeutet. Sie waren jahrelang meine einzige Anlaufstelle. Ich habe ihnen vertraut und wollte dazugehören. Wieso bin ich nicht aufgewacht aus diesem Albtraum? Wie konnte ich es so weit kommen lassen? „Nachher ist man immer schlauer“, rede ich mir ein, um die Schuld von mir abzuwälzen. Insgeheim weiß ich aber, dass ich niemand anderen für meine Taten verantwortlich machen kann und ich für den Rest meines Lebens versuchen muss, damit klar zu kommen.

Nach weiteren Versuchen, lege ich das Handy auf meinen Nachttisch. Dann gehe ich in die Küche, um mir ein Müsli zu machen. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich noch nichts gegessen habe, nachdem Ramona mich heute morgen aus dem Bett gescheucht hat.

Ich weiß, dass vielen in der jetzigen Situation so garnicht nach Essen zumute wäre. Die meisten hätten einen Knoten im Bauch und würden nichts runterkriegen. Bei mir ist das anders. Wenn ich Stress habe, esse ich. Gerade als ich froh bin, dass unser Sportstudent Kai darauf achtet, dass sich nicht zu viel ungesundes Zeug in unserer Küche befindet, höre ich hinter mir eine Tasche auf den Boden fallen. „Was machst du denn hier, keine Lust mehr?“ Kai nimmt sich ein Glas aus dem Schrank und füllt es mit Kranwasser, während er mich begrüßt. „Mir ist heute nicht nach Zuhören. Mein Kopf ist voll genug.“ Kai schaut mich zwar fragend an, stochert aber nicht weiter nach. Das ist genau der Grund, warum ich ihn so schätze. Er hält sich aus allem raus, bis man ihm um Hilfe bittet. Aber möchte ich das? Ich überlege kurz, ob ich ihn einweihe und beschieße dann, erstmal abzuwarten. Ich bin zwar neugierig, wem das Handy gehört, aber vielleicht gibt es dafür eine ganz logische Erklärung. Auch wenn mir auf Anhieb keine einfällt.

Ich setze mich mit Kai an den Tisch, er trinkt sein Wasser, ich esse mein Müsli. Dann beginnt er zu erzählen, dass er gerade aus dem Fitnessstudio kommt und dort eine neue Trainerin angefangen hat. Während er davon erzählt, wie sie bereits mit ihm geflirtet hat, schweifen meine Gedanken wieder ab.

Wie konntest Du mir das antun?“

Diese Worte werde ich niemals aus meinem Gedächtnis streichen können.

„Hallo? Hörst Du mir überhaupt zu?“ Kai wedelt mit seiner Hand vor meinen Augen herum. Fragend schaue ich ihn an. „Ich geh laufen, kommst du mit?“ Klar, er kriegt nie genug von Sport. Ich hingegen schon, sehr schnell sogar. „Ja, warte kurz, ich ziehe mich noch schnell um.“ Während ich in mein Zimmer gehe, spüre ich Kais verwirrten Blick auf mir. Normalerweise fragt er mich aus Höflichkeit, ob ich ihn begleiten will. Dass ich es wirklich tat kam aber bisher nur einmal vor, nach einem heftigen Streit mit  Ramona.

Beim Laufen kann ich mich kaum konzentrieren und ich beschließe, Kai von dem Handy zu erzählen, wenn ich bis morgen immer noch nicht weiß, von wem es sein könnte.

Auf dem Weg zurück in unsere Wohnung holt Kai die Post aus dem Briefkasten und hält mir 2 Umschläge hin. Die Rechnung von meinem Mobilfunkanbieter erkenne ich sofort, auf dem anderen Umschlag steht nur mein Vorname.

Mit einer bösen Vorahnung nehme ich den Umschlag mit in mein Zimmer, um ihn in Ruhe und für mich alleine zu öffnen.

In dem Umschlag stehen nur 2 kurze Zeilen

PIN: 5821

Wir sehen uns bald

Wir sehen uns bald. Eine Mischung aus Angst und Neugierde macht sich in mir breit. Ohne darüber nachzudenken habe ich auch schon das unbekannte Handy in der Hand und gebe die Pin ein. Zuerst öffne ich die Kontakte, leer. Auch in den Nachrichten ist kein Anzeichen dafür, wem das Handy gehört. Ich öffne die Galerie, ohne weitere Hoffnungen, etwas zu finden. Das letzte Foto im Album ist das, das mich bereits auf dem Home-Bildschirm erwartet hat. Und wäre dieses Foto nicht gruselig genug, entdecke ich noch weitere Fotos. Allesamt von mir. Die letzten zeigen mich alle auf dem Campus. In einer Vorlesung. Auf dem Parkplatz. Am Kiosk. Und noch drei weitere Szenarien in der Bücherei. Wie kann ich das nicht bemerkt haben? Scheinbar fühlt sich der Besitzer dieses Handy in der Bücherei unbeobachtet. Aber wie konnte es dann passieren, dass ich es finde? Langsam beginne ich, nicht mehr an einen Zufall zu glauben. Ich scrolle weiter durch die Fotos und was ich dann sehe, lässt mich zusammenzucken. Auf dem Handy sind noch annähernd 100 andere Fotos von mir. Nicht vom Campus, sondern aus meiner Vergangenheit. Fotos, die mir bekannt sind. Selfies von mir mit Freunden, Gruppenfotos oder Fotos aus lustigen Situationen, die geknipst wurden.

Ich erschrecke, als das Handy in meiner Hand zu vibrieren beginnt und eine Nachricht ankommt.

Mit zitternden Fingern öffne ich sie:

Unbekannt//

Erzähl jemandem von dem Handy und deine Geheimnisse verbreiten sich ! 

Wie gelähmt starre ich auf den Bildschirm und schlagartig wird mir klar, dass alles kein Zufall mehr ist. Dass der, der diese Nachricht verschickt hat, der eigentliche Besitzer des Handys, genau weiß, wo es ist. Und, dass er es nicht wiederhaben möchte. Vorerst. Meine Gedanken rasen, ich habe keine Ahnung, was ich als Nächstes tun soll. Soll ich zur Polizei gehen? Oder einfach abwarten, wohin sich dieses ganze Spiel entwickelt? Ich entscheide mich gegen beides, aus Angst, dass mein Geheimnis öffentlich gemacht wird. Hier in Siegen kennt mich niemand, keiner weiß von meiner Vergangenheit. Sollte diese raus kommen, denke ich nicht, dass ich bleiben kann. Jetzt bin ich einfach eine anonyme Studentin und fühle mich wohl. Schon wenn nur ein paar Leute Bescheid wüssten, würde niemand mehr etwas mit mir zu tun haben wollen. Keiner würde auch nur ansatzweise versuchen, sich mit mir anzufreunden und wahrscheinlich würden Kai und Ramona nicht lange überlegen, mich aus der Wohnung zu schmeißen. Die Polizei ist also keine Option. Aber einfach abwarten auch nicht. Ich muss wissen, womit oder mit wem ich es zu tun habe, der so gut über mich Bescheid weiß.

Kat//

Das ist nicht witzig, wer bist du? Man kann doch über alles sprechen. 

Ich drücke auf senden und bin neugierig auf die Antwort, habe aber auch gleichzeitig Angst davor, was mich erwartet. Einen Moment überlege ich, ob… nein, dass kann nicht sein.

Ich starre noch eine Stunde lang auf das Handy in meiner Hand, aber es tut sich nichts.

Als ich nach dem Abendessen und einem Film mit meinen Mitbewohnern wieder ins Zimmer komme, greife ich sofort nach dem iPhone. Es fiel mir schwer, sorglos mit den anderen am Tisch zu sitzen und auf Kais Vorschlag, noch einen Film zu sehen, einzuwilligen. Andererseits will ich nicht, dass irgendetwas komisch auf sie wirkt, weshalb ich jetzt froh bin, den Abend ohne Zwischenfälle hinter mich gebracht zu haben.

3 ungelesene Mitteilungen. Verdammt, vielleicht hätte ich doch zwischendurch auf das Handy schauen sollen.

Unbekannt//

Denk mal scharf nach, Kleines. Du weißt, wer ich bin. Und du wirst mich noch viel besser kennenlernen. 

Unbekannt//

Meinst du nicht, du solltest dich lieber auf mich konzentrieren? Den Film hast du doch schon zig mal gesehen!

Unbekannt//

Du fehlst mir…

Beim Lesen der zweiten Nachricht wird mir schlecht. Woher weiß er, dass ich einen Film geschaut habe? Und wie oft ich ihn schon gesehen habe? Abgesehen davon, dass ich mich inhaltlich kaum auf django unchained konzentrieren konnte, weil meine Gedanken um das Handy kreisten, hatte ich ihn tatsächlich schon mindestens sieben mal geschaut. Aber das weiß vielleicht eine Hand voll Leute, und niemand, aus meinem neuen Leben.

Aber aus meinem alten Leben, das Leben, was ich gerade versuche, hinter mir zu lassen. Aber wem sollte ich dort fehlen? Es gibt niemandem, mit dem ich positiv verblieben bin.

Ich kämpfe mich in den Schlaf, wie jeden Abend nehme ich eine Tablette zum einschlafen. Alleine gelingt mir das schon lange nicht mehr. Die Angst vor dem, was mich in meinem Traum erwartet, ist zu groß.

„Wie konntest Du mir das antun?“ Da liegt er vor mir, nackt, mit Handschellen an das Bett gefesselt. In seinem Blick die pure Enttäuschung. Und Angst. „Du hast doch nicht geglaubt, die meints ernst mit dir?“ Olivers raue Stimme ist ganz nah an meinem Ohr, bevor er mich zu sich zieht und mich küsst. „Gut gemacht, Babe.“ Um uns herum stehen bestimmt zehn weitere Menschen, alle lachen ihn aus. Er hat es nicht anders verdient, er hat Oliver einen faulen Säufer genannt. Er wendet die Augen nicht von mir ab, sieht mich verzweifelt an. Alle um uns herum beschimpfen ihn. In seinem Blick liegt die pure Enttäuschung. Dann verlasse ich den Raum. Niemand merkt es. Alle sind mit der Person beschäftigt, dessen Leben ich grade zur Hölle gemacht habe.

Schweißgebadet wache ich auf. So intensiv war dieser Traum lange nicht mehr. Alles scheint plötzlich, als wäre es erst gestern passiert, dass ich meinen Mitschüler Dennis wochenlang an der Nase herumgeführt habe, um ihn schließlich vor versammelter Mannschaft bloßzustellen. Und das alles, weil ich Oliver gefallen wollte.

Wäre ich nur nicht so naiv gewesen hätte ich die Konsequenzen vielleicht kommen sehen.

Erst am nächsten Tag habe ich erfahren, was meine Tat mit sich brachte. Nur kurz nachdem die Pein vorbei war, hatte Dennis versucht, seinem Leben ein Ende zu setzen. Nur der Umstand, dass seine Eltern ihn spontan am Morgen besucht hatten, hat verhindert, dass das schlimmste wahr wurde. Nachdem ihm das Frostschutzmittel aus dem Magen gepumpt wurde, wurde er kurzerhand nach seinem Krankenhausaufenthalt in eine psychologische Klinik eingewiesen. Seitdem hatte niemand mehr etwas gehört. Das alles war jetzt knapp 2 Jahre her und verfolgt mich immer noch.

Ohne weitere Nachrichten zu bekommen, vergeht der Freitag. Ich schaffe es, mich auf meine Vorlesungen zu konzentrieren und mich abzulenken.

Zuhause angekommen stehen meine Mitbewohner schon in der Startlöchern. „Wir gehen zu Marcels Party, sicher, dass du nicht mit willst?“ Nach meinem Kopfschütteln machen sich die beiden schnell auf den Weg und ich habe wieder Zeit, mit meinen inneren Dämonen allein zu sein. Ich bestelle mir eine Pizza und starte einen Serienmarathon, die Dramen um Meredith Grey in Grey’s Anatomie lassen meine eigenen hoffentlich ein bisschen in den Hintergrund rücken.

Die Tatsache, dass das Handy seit gestern keinen Ton mehr von sich gegeben hat, erleichtert mich. Scheinbar ist alles nur ein blöder Scherz, wahrscheinlich von meinen ehemaligen „Freunden“, die es witzig finden, mich mit meiner Schuld aufzuziehen. Von ihnen hat nie einer Verstanden, warum mich der Vorfall so sehr mitgenommen hat. Und wieso ich mich nach eine Neustart sehnte. Ich stelle mir vor, wie sie immer noch jeden Abend bei Oliver auf dem siffigen Balkon sitzen und Gras rauchen. Der Gedanke lässt mich unwillkürlich ein bisschen Schadenfreude empfinden und gleichzeitig bin ich glücklich darüber, mein Leben wieder in geregelte Bahnen gelenkt zu haben.

Das Klingeln an der Tür holt mich aus meinen Gedanken und ich öffne sie, um meine Pizza zu empfangen. Der Lieferfahrer muss neu sein. Seine Cap ist tief in sein Gesicht gezogen, als er mir die Pizza überreicht und ich ihm das Geld hinhalte. Ich habe mir angewöhnt, die Tür immer nur so weit zu öffnen wie nötig, damit niemand die Gothik-Poster sieht, die Ramona an ihrer Zimmertür hängen hat. Allerdings ignoriert er meine Hand mit dem Geld.

Im nächsten Moment merke ich, wie ich mein Gleichgewicht verliere und nach hinten stolpere, als der Mann die Tür schlagartig komplett öffnet. Ich kann mich gerade so noch auf den Beinen halten.

Die Pizza fällt mir aber durch den Schreck und die Wucht der Tür aus der Hand und landet auf dem Parkettboden. „Sag mal, gehts noch? Ich hab dir das Geld doch hinge…“, ich breche den Satz mittendrin ab. Der Lieferfahrer steht jetzt direkt vor mir und ich sehe ihm in die Augen. Schlagartig gefriert mein Blut. Diese Augen. Er hat sich verändert. Er war früher viel schmächtiger, nicht unattraktiv schmächtig, aber deutlich weniger muskulös als jetzt. Und er trägt einen Bart. Wahrscheinlich hätte ich ihn beim vorbeigehen auf der Straße nicht wiedererkannt. Aber diese Augen erkenne ich. Auch, wenn sie jetzt gefährlich und dominant zu mir runter blicken, anders als die Augen, die mich nachts in meinem Traum verfolgen und mich verzweifelt ansehen. Aber eindeutig die selben Augen.

„Na meine Hübsche, hast du mich vermisst?“, während er diese Worte sagt, drückt er mich immer weiter gegen die Wand. Es ist eindeutig Dennis, jedoch scheint er sich nicht nur optisch verändert zu haben. Plötzlich wirkt er angsteinflößend auf mich. Und genau das scheint sein Ziel zu sein, als der 20cm größere Mann seine Hand an die Wand lehnt, nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. „Dennis, was machst du hier?“, meine Worte zittern. „Ich habe dir doch geschrieben, dass ich dich vermisse. Und jetzt hole ich mir das, was mir schon längst zusteht.“ Bevor ich es schaffe, einen klaren Gedanken zu fassen, hat er mich schon an der Kehle gepackt und gegen die Wand gedrückt. Erst jetzt realisiere ich, dass er mich ganz an das Ende des Flurs getrieben hat und die Wohnungstür längst geschlossen ist. Die Rollen sind vertauscht. Jetzt bin es nicht mehr ich, die dem anderen schaden will. Sie ist da, meine Vergangenheit. Sie hat mich eingeholt.

Ich spüre, wie mir die Luft wegbleibt und nur noch soweit reicht, dass ich nicht ohnmächtig werde. Seine Hand liegt ruhig an meinem Hals und ich habe das Gefühl, dass sie wie festgemeißelt ist. Meine Versuche mich zu wehren, hat er längst abgewehrt. Ich spüre, wie mir Tränen über die Wange laufen, als ich seine andere Hand bemerke. Er schiebt damit meine Hose nach unten und greift an die Stelle, die er niemals hatte berühren dürfen. „Ich weiß genau, dass du mich auch willst, dass du mich immer wolltest. Du konntest es nur vor deinem Lover nicht zugeben! Jetzt bekommst du endlich das, wonach du dich die letzten Jahre gesehnt hast. Nur ohne Happy End für dich.“ Bei seinen letzten Worten zog er eine durchsichtige Tüte mit verschiedenen Medikamenten aus seiner Tasche. Die würden sicher reichen, um einen Elefanten zu töten. „Glaub mir, es tut auch nur kurz weh…“ Dann packt er mich in den Haaren und zerrt mich hinter sich her. Meine Zimmertür steht offen, weshalb er mich dort auf das Bett schmeißt. „Es tut mir leid, lass uns darüber reden!“ meine Stimme zittert. Die Angst in mir ist immens. Wieso habe ich mich nie gefragt, ob das Handy von ihm sein könnte? „Ich wollte nicht…“ Ich sehe ihm an, dass ihn jedes Wort von mir nur wütender macht. Seine Hand in meinem Gesicht verstärkt diese Vermutung und der Schlag lässt mich nach hinten sinken. Als ich aufwache, scheine ich nur wenige Sekunden weggetreten gewesen zu sein, aber die Medikamententüte liegt geöffnet auf dem Nachttisch und es scheinen mindestens die Hälfte der Tabletten daraus zu fehlen. Außerdem merke ich, dass meine Hände hinter meinem Rücken zusammengebunden sind. Verdammt!

Ein höllischer Schmerz zieht mich aus meinen Gedanken! Vor lauter Schmerzen sehe ich nur verschwommen, aber ich kann erkennen, was gerade passiert. Dennis kniet am Fußende meines Bettes und hält ein Messer in der Hand. Nein, er hält es nicht nur in der Hand, er benutzt es. Auf meiner Haut. Ich schreie vor Schmerzen, fürchte aber, dass mich sowieso niemand hören wird. In diesem Haus wohnen nur Studenten und die, die freitags abends zuhause sitzen, sind die Ausnahme. Das Brennen auf meinem Oberschenkel ist kaum zu ertragen. Meine Schreie vermischen sich mit meinen Schluchtzlauten, ich kann nicht anders, als zu weinen. Trotz der großen Schmerzen fallen mir immer wieder die Augen zu, meinen Körper kann ich kaum noch bewegen. Als ich es schaffe, an mir hinabschaue, erkenne ich ein handgroßes „D“ auf meinem Oberschenkel. Das Blut rinnt an meinem Schenkel hinunter und auf dem Laken breitet sich ein großer roter Fleck aus. „Damit auch jeder weiß, wem du eigentlich gehört hast.“, Dennis Stimme klingt klar und bestimmt. Gehört hast. Er redet in der Vergangenheit. „Es war wirklich spannend, dich in den letzten Wochen zu beobachten, wie du dein kleines, glückliches Leben führst. Eigentlich sollte ich dir dankbar sein. Dieser Abend, du erinnerst dich bestimmt daran, der, an dem du mein Leben zerstören wolltest? Seitdem habe ich die schlimmste und gleichzeitig intensivste Zeit meines Lebens durchgemacht. Eine Therapie nach der anderen, auch wenn ich schon länger nicht mehr in der Klinik bin. Ich wandere von einem Psychologen zum nächsten. Aber schau mich an, ich habe in jeder Hinsicht an mir gearbeitet. Jetzt gefalle ich dir doch, oder?“ Selbst wenn ich ihm antworten wollte, mein Körper bekommt keine Regung mehr zustande, geschweige denn ein Wort. „Aber letzten Monat wurde mir klar, dass ich abschließen muss, damit mein Leben weitergehen kann. Ich werde also einfach Leben gegen Leben tauschen. So einfach kann die Lösung sein! Die Tabletten werden gleich ihre volle Wirkung zeigen, aber ein paar Minuten haben wir noch. Aber keine Angst, ich sorge dafür, dass du vorher auch noch auf deinen Geschmack kommst.“ Mit diesen Worten öffnet er seinen Reißverschluss und zieht meine Oberschenkel auseinander. Sein Lächeln zeigt mir, dass er jedes Wort ernst meint. Er will abschließen. Mit mir. Endgültig.

Die Wunde, die das Messer hinterlassen hat, schmerzt schon garnicht mehr. Das wird sicher an den Tabletten liegen. Ich gebe dem Verlangen meines Körpers nach Schlaf nach und schließe meine Augen. „Noch nicht, meine Schöne! Das beste kommt doch jetzt erst!“ Sein Griff in mein Haar, mit dem er meinen Kopf nach hinten zieht, lässt mich wieder etwas zu mir kommen. Es wird nicht lange dauern, bis sie mich endgültig aus dem Hier und Jetzt holen.

Die nächsten Sekunden spüre ich, wie er mich auszieht und seine eigene Hose abstreift. Die Tränen laufen unaufhörlich mein Gesicht herunter. Ich rechne sekündlich mit seinem Körper in meinem.

Mein Ekel und meine Angst schnüren mir meinen Magen zu.

 

Dann spüre ich seinen Körper auf mich hinabfallen. Schlapp, ohne jegliche Spannung. Anders, als meine Befürchtungen es vorausgeahnt haben. Sein Kopf liegt jetzt nur wenige Zentimeter von meinem entfernt und ich sehe eine rote Masse seinen Schädel herunterlaufen. Dann sehe ich es: Dort steht sie, dort, wo grad noch der Mann war, der sich rächen wollte, mit ängstlichem Blick und sichtlich angespannt. Die Flasche in ihrer Hand ist gesplittert. „Ramona…“ sind die letzten Worte, die meine Lippen verlassen, bevor meine Augen sich erneut schließen.

3 thoughts on “Neuanfang

  1. Die Story an sich finde ich sehr gut gewählt. Bis zum Schluss geschehen Dinge, mit denen ich so, überhaupt nicht gerechnet hätte. Dein Schreibstil hat mir jetzt einfach persönlich nicht so hundertprozentig zugesagt, aber das können viele wieder ganz anders sehen. Ich vermute auch, dass du noch sehr jung bist, vielleicht. Also einfach dranbleiben! Du hast Potenzial 🙂

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