ElizabethTurncombOhne Titel

Hoffentlich hat Jay schon geliefert. Beim letzten Mal hat er sich ganz schön viel Zeit gelassen. Blöder… Tolles Versteck, dass wir uns hier ausgesucht haben. Erst durch die Hecke hinter meinem Haus, dann durch das kleine Waldstück und am anderen Ende ab zur großen Erle. Und jedes Mal kratze ich mir an irgendwelchem Gestrüpp die Arme auf. Schöne…
Einmal schaue ich mich noch um und greife dann in das Astloch. Gut, er hat… Was ist das? Sein Smartphone vergessen? Ich ziehe meinen Arm aus der Öffnung. Die Lieferung ist da. Gott sei Dank. Dann betrachte ich die vielen kleinen Kratzer auf der Hülle des Telefons und drücke den kleinen wackligen Knopf an der Seite. Das Display leuchtet auf, ich brauche keinen Pin. Wie merkwürdig. Ich klicke mich durch Anrufe, Sms und Kontakte. Alles leer. Was soll das? Dann stockt mir der Atem. Wieso hat Jay Bilder von mir gemacht? Ich im Café. Ich in meinem Garten. Ich im Café. Im Café. An diesem Baum. Wieder im Café. Wieso so oft dort? Ich schaue mich um, aber kann niemanden entdecken. Was geht hier vor? Ich stopfe Päckchen und Mobiltelefon in meine Jackentasche und eile nach Hause. Zünde mir dort eine Zigarette an, öffne eine Dose Prosecco, die ich in einem Zug leere und öffne eine zweite. Diesmal spüle ich eine der Tabletten aus Jays Bündel mit runter. Dann nehme ich das Smartphone wieder in die Hand. Was für ein Spiel treibt der Idiot? Mein Kopf schmerzt.
Auf jedem Bild im Café bin ich mit einem anderen Typen zu sehen. Alles Kerle, die ich online kennengelernt habe. Was will der Fotograf mir sagen? Dass er eifersüchtig ist? Ich dachte, Jay ist schwul. Vielleicht ist er es ja gar nicht. Ich werfe noch eine Tablette nach.
Aber wenn nicht Jay, wer dann?
Ich krame meinen Laptop aus dem Zeitungsständer, schalte ihn ein und öffne das Dating-Portal “Find Someone”. Wenn jemand mich zu jedem Treffen verfolgt, dann wird er auch beim nächsten auftauchen.
Harris69, heute ist dein Glückstag. Naja, morgen.

Der Typ, der mir gegenüber sitzt, langweilt mich zu Tode. Während er von seiner spannenden Zeit bei den Pfadfindern oder so erzählt, starre ich aus dem Fenster, kippe meinen Rotwein runter und beobachte die vorbeiziehenden Menschen. Wer von euch ist es? Wo bist du Jay? Für einen Samstag Vormittag ist erstaunlich wenig los. Nur ein paar Kinder mit ihren Skateboards, eine Frau auf der Bank auf der gegenüberliegenden Straßenseite mit einem Coffee to go, der Briefträger… Aber kein Jay. Kein Typ, den ich kenne.
“Hörst du mir zu?” Eine Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Es ist der Langweiler. “Was? Ja. Ja, klar. Das klingt echt spannend.”
Ich schaue wieder nach draußen. Zu der Frau hat sich ein altes Ehepaar gesellt. Na, die werden es bestimmt nicht sein. Die Frau steht auf und schaut direkt zu mir herüber. Was glotzt du so?
Vielleicht hat mein Stalker ja heute seinen freien Tag.

Ich starre den Langweiler an, sehe wie sich seine Lippen bewegen. Für heute reicht’s.
“Du, ich muss meine Katze füttern. Ich ruf dich an.” Nicht.

Während Maunze ihren Napf leert, mache ich mich an den Abwasch. Es nervt, dass Großmutter das nicht selbst macht. Das Klingeln meines Smartphones erschreckt mich und ich lasse einen Teller fallen. Verdammte Melodie. Ich fasse mir an die Schläfe. Diese Kopfschmerzen. Etwas Spülwasser läuft mir knapp am Auge vorbei und ich greife nach dem Geschirrtuch, um Gesicht und Hände zu trocknen. Dann öffne ich die eingegangene Nachricht. Es ist ein Foto von mir im Café. Mir gegenüber der Langweiler. Was zum… Die Nummer kenne ich nicht; ich drücke den grünen Hörer. “Der gewünschte Gesprächspartner ist zur Zeit…” War ja klar. Was soll ich mit dem Bild anfangen? Wer hat es geschickt? Hat jemand die Kinder beauftragt, mich zu fotografieren? Oder das alte Ehepaar? Als ob die mit der Technik umgehen könnten. Aber die Frau mit dem Kaffee… Was will sie von mir? Warum ich?
Ich öffne den Kühlschrank, nehme zwei Dosen Prosecco heraus und setze mich in den Ohrensessel. Maunze springt auf meinen Schoß und ich streichle ihr über den Kopf. Sie hat so weiches Fell. Nach ein paar Schlücken und zwei Tabletten fühle ich mich klarer. Ich werfe das Tier von meinen Beinen und schaue mir das Bild noch einmal genauer an. Da muss doch ein Hinweis versteckt sein. Plötzlich klingelt es laut. Ich muss diese Melodie endlich ändern, Gott verdammt. Meine Schläfe pocht wie verrückt.
Eine weitere Sms. “Schillerstraße 35. 15.00. Morgen.”
Willst du mich… Ist da nicht die Grundschule? Soll ich dir Nachhilfe geben?

Der Schulhof ist verlassen. Klar, es ist Sonntag. Ich schaue mich um. Wo versteckst du dich? Was hast du vor? Steht da jemand hinter der Birke? Nur eine Mülltonne. Wo soll ich jetzt hin? Durch den Haupteingang? Verschlossen. Die Seitentür? Auch zu. Dann fällt mein Blick auf die Treppe, die wohl zum Keller führt. Noch einmal umdrehen, niemand zu sehen. Ich steige die Stufen hinab. An der Tür bleibe ich stehen, drehe mich noch einmal um und schaue nach oben. Niemand da. Ich drücke die Klinke nach unten. Offen. Volltreffer. In dem stickigen Raum ist es dunkel. Man hätte zumindest mal ein Fenster öffnen können. Ich taste mit einer Hand nach dem Lichtschalter, während die andere in meiner Jackentasche nach ein paar Tabletten wühlt. Die Glühbirne, die von der Decke baumelt, flackert kurz auf, dann ist es beinahe hell. Wenn ich mich hier so umschaue, war mir die Dunkelheit dann doch lieber. Drecksloch. Diese Schmerzen… Auf dem Tisch in der Ecke steht eine Flasche Wasser. Perfekt. Ich schlucke die Pillen runter und fühle mich erleichtert. Jetzt noch Luft reinlassen und…

Mein Schädel brummt. Ich bekomme die Augen kaum auf. Was ist passiert? Wer ist das? Woher kenne ich dich? Wieso kann ich mich nicht bewegen? Was ist das für Musik?
“Hey!”, rufe ich der Person zu, die mit dem Rücken zu mir am Tisch steht und gerade einen Schluck aus der Wasserflasche nimmt. Sie zuckt, beginnt zu husten und dreht sich zu mir um; schaut mich erschrocken an. Ihre Lippen bewegen sich, aber sie spricht zu leise. Die Musik übertönt sie. Sie greift nach etwas, das hinter ihr steht und stößt dabei ein paar Dinge auf dem Tisch um. Trampel. Dann ist es still.
Hat sie ernsthaft Radio gehört, nachdem sie mich hier… festgebunden hat?
“Wer bist du? Was soll die ganze… Was soll das hier?”, fahre ich die junge Frau an.
“I…i…ich…”, beginnt sie zu stottern.
“Du…du…du was?, stottere ich zurück.
Ihre Augen wandern hin und her, als würde sie ihren zuvor einstudierten Text suchen.
“Du… Du weißt ganz genau, warum du hier bist!”, ruft sie mir entgegen. Ich stöhnte genervt auf. Wenn ich das wüsste, würde ich nicht fragen, blöde… Ja Großmutter, ich benehme mich.
“Nein, das weiß ich nicht.” Die junge Frau sieht nicht so aus, als wüsste sie, was sie jetzt tun soll. Schön, ich weiß es auch nicht. “Warum bin ich hier?”
Sie neigt den Kopf zur Seite und schaut mich irritiert an.
“Du hast… Du hast meinen Verlobten getötet!”
Ich lege die Stirn in Falten. Habe ich?
Für zwei, vielleicht drei Minuten sehen wir uns direkt in die Augen, sie ängstlich, ich fragend. Gut, die Pillen wirken langsam, die Kopfschmerzen lassen nach. Also mal überlegen. Wer könnte dieser Verlobte sein? Da war dieser Typ damals im Ferienlager; aber wir waren zwölf. Unwahrscheinlich, dass der verlobt war.
Dann dieser Kerl bei der Abschlussfahrt in Tirol. Wie der durch den Schnee gerollt ist.
Ich muss mir ein Lachen verkneifen.
Dann damals an der Uni während der…
“Hey!”, die Verlobte fuchtelt mit ihren Händen vor meinem Gesicht herum. Meine Augen wandern hin und her, dann mustere ich sie. “Warum so ungeduldig?” – “Was?” – “Was?” Habe ich das gerade laut gesagt? Egal.
“Hör mal, ich brauch da schon ein paar mehr Infos, Liebes. Woher soll ich denn wissen, wer dein Typ ist?”
Ihre Augen werden groß und sie weicht ein paar Schritte zurück. “Wie viele hast du…”, beginnt sie und stockt dann.
Ich zucke mit den Schultern soweit es die Fesseln zulassen. “Sind das Lakritzbären?” Die Packung auf dem Tisch fällt mir erst jetzt ins Auge.
“Was?” – “Was?” Ich spiel gern Echo.
“Könnte ich einen haben?” Warum schaust du denn so fassungslos? Ein kleines Bärchen weniger in der Tüte fällt ja wohl nicht auf. Aber vielleicht auf deinen Hüften... “Ach, komm schon.”
Mit weit aufgerissenen Augen und halb geöffnetem Mund starrt die Verlobte mich an und greift dann hinter sich. Ein paar Sekunden später hält sie mir die Tüte vor die Nase. Ernsthaft? Ich sage nichts. Vielleicht kommt sie ja von selbst drauf. Kurz darauf macht es wohl Klick bei ihr. Sie greift in die Tüte und… Und…
Isst mein Lakritzbärchen!

Sie legt die Tüte wieder weg und fährt mich schmatzend an: “Jetzt erzähl mir endlich, was passiert ist!” Hmm, dieser Duft, den ihr Atem verströmt.
“Hörst du mir zu?” – Warum fragen mich das immer alle? “Ja, ich höre dir zu. Ich weiß nicht, wer dein Typ ist. Und ich habe Hunger. Bitte. Bitte, bitte.”
Einen Augenblick später stopft mir die Verlobte eine Hand voll Lakritze in den Mund, ein paar Bärchen landen auf dem Boden. Oh nein.
Während ich zufrieden kaue, wühlt sie in ihrer Handtasche und hält mir dann ein Foto vor die Nase. “Lecker!”, schmatze ich. Sie reißt das Bild wieder zurück. “Was?” – “Was? Zeig noch mal her.”
Zögernd kommt sie wieder näher.
“Ja.” – “Ja?” Sie mag das Echo-Spiel auch. Ich muss grinsen.
“Doch, den kenn ich.” – “Und?”, fordert sie.
“War ganz nett. Bisschen durch den Wind wegen so ner Blondine, die seinen Antrag nicht angenommen hat… Hey, das warst du! Ha!”
Die Verlobte fängt an zu weinen. Was ist denn jetzt los? “Was ist denn los?”, frage ich. Ich bin verwirrt. “Krieg ich noch so n Bärchen?”
“Nein!”, schreit sie laut schluchzend.
Ok, ist ja gut. Deine Bärchen. Ich hab verstanden.
“Warum hast du ihn getötet?”
Warum… Ja, warum?
“Nach ein paar Stunden wurd’s halt öde mit ihm.”
Die Verlobte lässt sich auf den Boden sinken. Ich neige den Kopf zur Seite und beobachte sie. Was stimmt denn nicht mit ihr? “Iss mal was Süßes, dann geht’s dir besser.”
Sie schaut schon wieder so fassungslos. Plötzlich gibt es einen lauten Knall. Die Verlobte springt auf und läuft zum Fenster. “Was ist denn da?”, frage ich. Keine Antwort. Wieder ein lauter Knall, diesmal zerspringt das Fenster. Die Verlobte macht merkwürdige Geräusche und fällt um. Was ist denn jetzt passiert?
Dann geht die Tür auf. “Omi!”, rufe ich.
“Liebes, ich kann nicht immer für dich aufräumen. Du musst endlich mal selbstständiger werden.”
“Ich weiß, Omi. Tut mir leid, Omi. Krieg ich noch ein Lakritzbärchen?”

7 thoughts on “Ohne Titel

  1. Was für eine geile (Tschuldigung) Geschichte! Ich liebe deinen Stil, großartiges Tempo, welch genialer Humor!
    Hast Du schon mehr geschrieben? Ich würds lesen wollen!
    Also mein Like hast du jedenfalls!
    Kritik habe ich tatsächlich keine!

    P.S. vielleicht hast du ja Lust, auch meine Geschichte zu lesen >>Glasauge

  2. WOW!! Was issen bitte das? Richtig, richtig gut! Flott und rasant geschrieben und dabei eine Dramatik versprüht die einen mitzieht. Chapeau, man konnte gar nicht aufhören zu lesen! Witzige Dialoge, die irgendwie surreal wirkten. Aber irgendwie passte dieser Mix hervorragend zusammen! TOP!

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für‘s Voting

    LG Frank ( Geschichte: Der Ponyjäger)

    1. Ich machs einfach mal ganz kurz.

      Eine komplett geile, schnelle, coole, tolle, außergewöhnliche Story.

      Super kurzweilig geschrieben und spannend.

      Komplett genial.

      Keine Kritikpunkte.

      Du hast wesentlich mehr Likes verdient.

      Liebe Grüße, Swen Artmann (Artsneurosia)

      Meine Geschichte heißt:
      “Die silberne Katze”

  3. Hallo,
    ich finde deine Geschichte wirklich klasse! Vor allem die Gedanken finde ich toll formuliert. Nur bei der Flasche habe ich mich gefragt, ob man wirklich einfach daraus trinken würde. Aber das passt irgendwie auch zum Charakter… Insgesamt finde ich es toll, dass die Geschichte plötzlich in eine ganz andere Richtung gegangen ist, als ich dachte. Das – und auch das Finale – war überraschend, hat mich aber auch sehr zum Schmunzeln gebracht. Wirklich tolle Kurzgeschichte!
    Beste Grüße
    Sandra
    (https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/gefangen-2)

  4. Liebe Elisabeth,
    Wie genial ist bitte deine Story 😂? Die Dialoge und vorallem die Gedanken deiner Figur sind der Hammer. Haben voll meinen Humor getroffen. Das hätte ich ewig weiterlesen können. Wirklich großartig 😁😁. Und das Ende, eigentlich bleiben danach soviele Fragen, aber trotzdem bin ich vollkommen zufrieden damit. Gibt es mehr von dir? Ich hab leider nur ein Like zu vergeben, hätte dir gerne mehr dagelassen! Weiter so.
    Beste Grüße
    Maddy
    P. S Meine Geschichte ist leider nicht so humorvoll, aber vllt magst du sie trotzdem lesen 😇.
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/alte-bekannte Alte Bekannte.

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