lillyhessanticRoulette

Roulette

Die zweitwichtigste Sache, die er aus seinem alten Leben vermisste, waren seine Sneakers.
Ein Indianersprichwort, nie über jemanden zu urteilen, bevor man nicht eine Meile in seinen Schuhen gelaufen war, kam ihm in den Sinn, als der unnachgiebige Schaft seiner geschnürten Budapester ihm den Fuß zusammendrückte.
Er ahnte, dass er nicht allein war, als der Nachhall seiner Ledersohlen von den kahlen Betonwänden der leeren Tiefgarage sich anders anhörte als sonst.
Gefüllter. Weniger hohl.
Als gäbe es mehr Gegenstände, die die Schallwellen reflektierten.
Er drehte sich auf dem Absatz um und lauschte. Doch es drückte ihm nur dieselbe warme, nach ausgelaufenem Öl und Benzin stinkende Feuchtigkeit entgegen, wie jeden Tag, wenn er nach der Arbeit als letzter das Büro verließ.
Kopfschüttelnd setzte er seinen Weg zum Auto fort. Die Nachwirkungen des Unfalls und die Gedächtnislücken schienen noch immer ihren Tribut zu fordern, und der Stress der Arbeit half nicht, die Regeneration zu beschleunigen. Dabei dachte er nicht an seine körperlichen Wunden – die Abschürfungen, Rippenbrüche, selbst nicht den Milzriss – die alle verheilt waren, als wäre er Wolverine mit seinem unzerstörbaren Adamantiumskelett. Die anderen, nicht sichtbaren, trotzten resistent einer Heilung.
Statt wie erhofft zu einer schnelleren Verschorfung der seelischen Wunde zu führen, hatten sich die internationalen Videokonferenzen, die wegen der Zeitverschiebung erst spätabends endeten, die Boardmeetings und die Produktentwicklungsanalysen wie ein Abkleben mit einem Pflaster ausgewirkt, das den erwünschten Prozess eher verlangsamte. Der Schmerz pochte noch immer in seiner Seele, unverändert, als hätte er ein eigenes Herz-Kreislaufsystem, das ihn mit frischem Blut versorgte. Vielleicht hätte er doch auf Doktor Rheinhagen hören und sich mehr Zeit mit der Rückkehr lassen sollen als die wenigen Wochen.
Die Schwüle in der Garage schien zuzunehmen und ein Schweißtropfen rollte ihm den Nacken entlang in den Hemdkragen. Außer seinem Wagen standen alle Parkboxen so leer da wie die geräumten Supermarktregale in Cuba, wo er letztes Jahr Urlaub gemacht hatte, als die Welt noch in Ordnung gewesen war.
Er drückte die Fernbedienung, und der Verriegelungsmechanismus seines Porsches quiekte auf, begleitet vom Aufleuchten der Scheinwerfer. Mit Schwung warf er die Computertasche auf den Beifahrersitz und drehte den Zündschlüssel.
Das sonore Vibrieren des Motors verschluckte alle Geräusche. Oder war da doch etwas?
Er fuhr aus der Parkbox und hob seinen Fuß vom Gaspedal, als das elektrische Tor der Ausfahrt sich in Zeitlupe hob.
Nun war es nicht zu überhören. Das Geräusch.
Es kam aus seiner Tasche und klang wie das erstickte Klingeln eines Handys, das versuchte, Lagen von Material zu durchdringen, um gehört zu werden.
Das konnte nicht sein.
Sein Telefon hing zu Hause am Ladekabel, wo er es am Morgen vergessen hatte. Im Badezimmer neben der Duftkerze mit ätherischen Ölen, die Emilia ihm wegen der entspannenden Wirkung gekauft hatte, und deren weißer und ungebrauchter Docht Hinweis darauf gab, was er von dem therapeutischen Effekt hielt. Er machte sich eine mentale Notiz, ihr zuliebe die Kerze wenigstens kurz anzuzünden und den Docht zu schwärzen.
Hatte er sich getäuscht? Hatte das Handy die ganze Zeit unbemerkt in seiner Computertasche gelegen?
Er öffnete mit einem Griff das vergoldete Schnappschloss und wühlte blind in der Tiefe der Lederfächer, dem vibrierenden Impuls folgend. Seine Hand glitt über den Boden des weichen Kalbsleders, über trockene Krümel, Überbleibsel der geöffneten Butterkekspackung von vorgestern, die sich unangenehm unter seine erst frisch gekürzten Fingernägel schoben. Es musste dort irgendwo sein.
Ganz am Boden, verdeckt unter der Brieftasche und der Tageszeitung, griff seine Hand nach dem vibrierenden Gerät. Er zog es heraus, warf einen Blick auf das Display – unterdrückte Nummer – und betätigte die Annahmetaste. Doch der Anrufer hatte bereits aufgelegt und das Klingeln erstarb.
Er ließ das Dunkel hinter sich und fuhr aus der Ausfahrt, bevor das träge Tor sich wieder senkte, und stoppte den Wagen.
Seine Gedanken rasten. Er war sich sicher gewesen, das Telefon nicht dabei zu haben, und auch sein Testanruf vom Festnetz des Büros war ins Leere gegangen, ohne dass es um ihn herum geklingelt hätte.
Sein hohlwangiges Spiegelbild starrte ihm auf dem dunklen Glas entgegen und entsperrte den Bildschirm durch die Gesichtserkennung. Doch anstatt auf der Startseite zu landen, öffnete sich ein Foto.
Vor Schreck flutschte ihm das Telefon aus den mittlerweile feuchten Fingern, direkt in die Ritze zwischen Mittelkonsole und Fahrersitz.
Panisch schob er seine Hand in den viel zu engen Spalt, ratschte sich die Haut an einem Plastikvorsprung auf, aber bekam das Handy schließlich zu fassen.
Er starrte auf den Screen.
Sein Herz beschleunigte in einen Sprint und drohte, ihm aus dem Hals zu springen. Weitere Schweißperlen bildeten sich unter seinem Haaransatz, und eine rollte ihm juckend die Stirn hinab, wo sie von seiner buschigen Augenbraue aufgefangen wurde.
Das konnte doch nicht sein?
Ihm wurde übel. Die thailändische Hühnersuppe vom Mittag kündigte mit würzigem Kokosgeschmack die Rückkehr nach oben an, und er schluckte hart.
Sein Puls zerteilte die Sekunde in hundert kleine Untereinheiten, während Entsetzen ihm mit klammen Fingern die Kehle zuschnürte, und er versuchte, Luft durch die Verengung zu pressen.
Sein Gesicht lachte ihm vom Bildschirm entgegen, umgeben von einer strahlenden Aura rot glühenden Lichts einer im Meer untergehenden Sonne, wie ein feuriger Racheengel, der auf seiner Swan 56 direkt aus der Hölle zu segeln schien.
Sein Gesicht, doch nicht er. Das blaue Shirt mit dem aufgebleichten Chlorfleck unter dem Kragen war der Beweis.
Quer über das Foto in blutroten Lettern, feucht glänzend, wie frisch aufgepinselt, zwei Wörter.
Ich weiß!
Er strich über die Schrift und betrachtete seinen Finger, in Erwartung, die Farbe an seiner Haut kleben zu sehen.
Wie Blut an seinen Händen.
Ein Glucksen, das ein Lachen hätte werden sollen, entschlüpfte seinen Lippen. Natürlich blieben seine Finger trocken. Er drohte durchzudrehen.
Der Bildschirm vibrierte, doch es war nur das Zittern seiner Hand, dessen Bewegung sich übertrug, und er nahm die andere zu Hilfe, um sie zu stabilisieren.
Er starrte auf das lachende Gesicht seines Bruders.
Sein Gesicht.
Nur ein Zwilling konnte verstehen, was eine endgültige Trennung bedeutete. Es war, als hätte er seinen Körper in zwei Teile geschnitten und eine Hälfte verbrannt, bis nur noch Staub und Asche übrig blieb. Wie von seinem Bruder, der eine Hälfte von ihm mitgenommen hatte.
Erinnerungen, wie ein Tsunami, der alles mit sich riss, was sich ihm in den Weg stellte: Bublés Version von Fly me to the Moon, Marcs mitsingende Stimme, immer einen Halbtonschritt zu tief, zusammengeknülltes Kaugummipapier im Fußraum, die Kurve, das dumpfe Plopp, das das Lösen der Radmuttern angekündigt hatte, und kratzende Gebüschzweige, die unter dem tiefergelegten Fahrwerk des Sportwagens geschrammt waren. Dann nur noch das Blau des Himmels, Fly me to the moon
Er blinzelte.
Ich weiß!
Einem Impuls folgend, drehte er das Telefon um und sah seine Ahnung bestätigt. Die tiefe Beule und halbmondförmige Schramme am unteren Rand des grauen Gehäuses, die von einem Fall auf den geriffelten Natursteinboden in Mutters Küche rührte und an die Fahne eines fernen Landes erinnerte, identifizierte den Besitzer des Handys, als würde es ein Namensschild tragen.
Den Namen seines Bruders. Marc Hauser.
Jetzt sein Name.
Das Bild war eine Nachricht.
Doch wer schickte sie?
Und was bezweckte die Person?
Anstatt nach Hause zu fahren, hinaus an den Stadtrand, wo Emilia ihn in der Gründerzeitvilla erwartete, bog er mechanisch stadteinwärts nach links.
Während er sich durch den dichten Feierabendverkehr schlängelte, die rot auflinkenden Bremslichter ein Meer wütender Glühwürmchen in der anbrechenden Dämmerung, graste sein Hirn alle Optionen durch, ohne eine brauchbare Erklärung zu finden. Er kehrte zurück zum Start, wie ein fehlprogrammierter Scanner, um die gleiche Schleife zu ziehen, als würde das wiederholte Denken eine andere Lösung liefern.
Woher kam das Telefon, das seit dem Unfall als verschollen galt und selbst im brennenden Wrack des Wagens nicht gefunden worden war? Wer hatte es ihm wann in die Tasche gesteckt?
Es musste jemand aus der Firma gewesen sein, denn er hatte den ganzen Tag im Büro gehockt, Berichte gelesen und Gespräche geführt, bis sich ihm der Speichel in zähen Flocken in den Mundwinkeln gesammelt hatte, und seine Zunge nicht mehr in der Lage gewesen war, die für die Aussprache der Wörter notwendigen Bewegungen zu vollziehen. Er hatte geklungen, wie ein Alkoholiker, der sich Mühe gab, sein Trinken zu verschleiern.
Carolina.
Seine Sekretärin fiel ihm als Erstes ein, die gute Seele, sie würde weiter wissen.
Er parkte das Auto im eingeschränkten Halteverbot, schaltete das Warnblinklicht ein und klingelte Sturm an ihrer Haustür. Die Gegensprechanlage sprang mit einem Rauschen an. »Mach auf.«
Er machte sich gar nicht die Mühe, auf den Lift zu warten, und rannte an einem Doppelbuggy vorbei, die Treppe ins Dachgeschoss hoch. So würde Carolina sein pochendes Herz, das selbst die Kinder im Erdgeschoss hören mussten, auf die körperliche Aktivität und die Atemlosigkeit zurückführen.
Sie trug diesen purpurfarbenen Lippenstift, der sich mit dem Rotton ihrer Haare biss. Das Bild fühlte sich noch immer ungewohnt an auf ihrem für gewöhnlich ungeschminkten Gesicht, und er versuchte, sich zu erinnern, wann es begonnen hatte. Wobei die neue Frisur ihm allerdings gefiel und sie jünger machte.
Der Blick, mit dem sie ihn an der offenen Tür empfing, ließ in stutzen. Derselbe merkwürdige Ausdruck, mit dem sie ihn seit dem Unfall bedachte, wenn er plötzlich aufsah und sie beim Beobachten erwischte.
Fragend, abwartend, herausfordernd.
Der dann genauso schnell verschwand und sich in ihrer üblich freundlichen Miene auflöste wie die Kreise eines ins Wasser geworfenen Steins.
Er hatte es anfänglich auf die Gehirnerschütterung und den folgenden Gedächtnisverlust zurückgeführt, der es ihm erschwerte, sich an Details und Einzelheiten zu erinnern. Hatte er ihren Geburtstag vergessen? Nein, der war erst in einem halben Jahr im November. Oder war ihr eine Gehaltserhöhung versprochen worden, dessen Erinnerung zusammen mit dem Autowrack in Flammen aufgegangen war?
Doch wie sie schweigend und ohne eine Miene zu verziehen im Türrahmen lehnte, wusste er, er hatte es missinterpretiert.
Wie konnte ihm das entgangen sein?
Der Duft von Himbeere, der sie stets umgab, wehte ihm entgegen, als er sich an ihr vorbei drängte und in die Wohnung stürmte. Sie wirkte nicht überrascht, fast als hätte sie ihn erwartet.
Eine Celloversion des Adagios d‘Albinoni hallte aus verborgenen Lautsprechern, und auf der Arbeitsplatte in der Küche stand eine geöffnete Flasche Wein, dessen Korken zerbröselt und in mehreren Teilen danebenlag.
Er ließ sich wortlos auf einen Stuhl fallen. Seine Beine zitterten und fühlten sich an wie wabbelige Lakritzstangen.
Sie starrte ihn aus dunklen Augen an, die in der Schummerigkeit der Küche pupillenlos erschienen, und wandte sich zur Spüle, wo sie ihr rosafarbenes Kaugummi in ein Küchenpapier spuckte. Ihr Blick fuhr über sein Gesicht. Sondierend. Forschend.
Erst dachte er, das Klicken käme aus der Küche. Doch es war das Geräusch in seinem Kopf, als die Steinchen sich nahtlos zusammensetzten und ein logisches Bild ergaben.
Der Lippenstift. Die Blicke. Die neue Frisur.
»Du warst das«, sagte er nur.
»Was?«
»Du hast das Handy in meine Tasche gelegt. Wo hast du es her? Ich habe es vermisst.«
»Hast du das?« Ihr Ton war kühl und passte zu ihrer Miene.
»Was soll das? Hast du zu viele Psychothriller gelesen?«
»Du bist nicht Marc.« Der Satz schwebte in der Luft, eine Rauchwolke, die sich nicht auflösen wollte. »Matthias.«
Er schwieg. Kalkulierte seine Optionen. Überschlug ihr Anliegen.
»Du hast nach dem Unfall seine Identität angenommen, hast dir sein Leben übergezogen wie einen neuen Pulli. Was für ein Glück, in der gleichen Firma als flippiger Creative Director gearbeitet zu haben, sonst hätte das nie funktioniert, und du wärst sofort aufgeflogen auf dem Geschäftsführerposten. Und wie praktisch, dass mit deiner Existenz auch die Spielschulden gestorben sind.« Sie verzog die Lippen zu einem höhnischen Grinsen. »Ja, ich weiß von deinem Laster und den Schulden. Aber jetzt gehört dir auch Marcs Hälfte der Firma. Du bist ein Betrüger. Hintergehst die Welt und die arme Emilia.«
Das Lachen entschlüpfte ihm, bevor er es aufhalten konnte. »Emilia? Du wagst es, über Emilia zu reden?«
»Ich werde dich anzeigen.«
»Was willst du anzeigen? Mein Erbgut? Du machst dich lächerlich. Und warum hast du es nicht getan, und mir stattdessen in dieser Psychoaktion das Telefon in die Tasche gesteckt? Was willst du?« Es machte keinen Unterschied, er nahm niemandem etwas weg. Matthias war alleinstehend und kinderlos gewesen, keiner würde ihn vermissen. Er war jetzt Marc, und keiner konnte das Gegenteil beweisen. Auch sie war sich nicht sicher, sonst würde sie ihn nicht weiterhin so anstarren, diese lächerliche Farbe auf den Lippen.
Die Einzige, die sie in ihrer mütterlichen Weisheit auseinanderhalten konnte, lag neben seinem Bruder friedlich in der Familiengruft. Marc und er waren eine Einheit gewesen, das Naheste, was sie auf der Welt besessen hatten. Eine Zelle, geteilt in zwei. Wo begann das Ich, und wo endete das Du, wo das Meins und wo das Deins? Er hätte alles für Marc gegeben, und er wusste, sein Bruder hatte es genauso empfunden.
Sie schwieg.
Er verstand es jetzt. Den Blick. Die Reaktion. Die Wut.
Ihr Verhalten, als er sie nach dem Unfall wie eine jahrelange Mitarbeiterin behandelt hatte. Die Gehirnerschütterung – musste sie sich getröstet haben. Doch als sich keine Anzeichen einer Wiederherstellung der Erinnerung zeigten, hatte sie es vermutlich gewusst.
Keine Erinnerung an die Affäre.
Marc, warum hast du mir nichts erzählt? Wir waren doch eins …
Aber was war das Ziel dieser Konfrontation? Ein Weiterführen der Affäre mit dem anderen Bruder? Geld? Oder handelte es sich nur um eine nicht zu Ende gedachte Aktion einer verletzten Frau, die keinen anderen Ausweg aus dem Dilemma ihrer Gefühle wusste? Fast tat sie ihm leid.
»Beweis es mir, dass du es bist.« Fordernde Worte, doch Carolinas Augen sprachen eine andere Botschaft, verdächtig glänzend, ein See voller Schmerz, der drohte, überzulaufen.
Sie wirkte wie ein Tier, getrieben von der Meute der Verzweiflung, und er wusste in diesem Moment, dass ihr einziges Ziel das Provozieren einer Reaktion gewesen war. Undurchdacht und impulsiv. Doch anstatt zu beruhigen, hinterließ der Gedanke einen alarmierenden Nachgeschmack, und zum ersten Mal, seitdem er Carolina kannte, hinterfragte er ihren Geisteszustand. Doch was wusste man wirklich über eine Person, die man flüchtig in der Personalküche und bei der jährlichen Weihnachtsfeier traf, auch wenn das über viele Jahre geschah? Sie war Marcs persönliche Sekretärin, sein Wachposten, den jeder wie bei einem Grenzübergang passieren musste, der in sein Büro wollte.
Carolina sog scharf die Luft ein, als würde sie zum Sprechen ansetzen, und überlegte es sich dann anders. Sie entließ den Atem in einem Seufzer, und er konnte Weißwein und Himbeerkaugummi riechen.
…zusammengeknülltes Kaugummipapier im Beifahrerfußraum, Fly me to the Moon …
Seine Gedanken überschlugen sich, als der Verdacht aufkeimte. Er blinzelte, um seine verschwommenen Erinnerungen in klare Konturen zu zwingen, und sah tatsächlich Sterne – seltsamerweise in der Konstellation des Großen Wagens, ein Kasten mit Deichsel, ohne Räder – als die Wahrheit in seinem Kopf explodierte und er verstand.
Mechanisch griff er nach dem Telefon – dem aus seiner Tasche mit der Beule in Form einer Fahne – und wählte die altbekannte Nummer. Ein statisches Rauschen, als die Verbindung sich aufgebaute.
Räson, Überlegung, Konsequenzen – all das besaß keine Bedeutung mehr. Sein raffiniert ausgearbeiteter Plan des Identitätstausches, der bisher mit der Präzision und Verlässlichkeit des Uhrwerks seiner Daytona Cosmograph abgelaufen war, würde vermutlich scheitern. Vielleicht aber auch nicht, denn seine Fingerabdrücke waren mittlerweile überall, und ein Zuordnen nach all den Wochen schwierig.
Aber das war jetzt egal. Er war bereit, alles zu riskieren, seine Bemühungen zu opfern. Selbst wenn er bestraft würde und sich umsonst geknechtet hatte: Das wochenlange Zwängen in diese beklemmenden Budapester, tägliches Hören von Sinatra Remakes und das Einfügen in eine stabile Lebenstruktur mit Ehefrau, gegen die er, Matthias, sich sein ganzes Leben mit selbstzerstörerischem Freiheitsdrang aufgelehnt hatte.
Sie waren gleich – und doch so anders gewesen.
Er würde weiterhin an seiner neuen Identität festhalten. Doch sollte es auffliegen – Marcs Leben zusammen mit diesen Schuhen abzustreifen und einer Strafe entgegenzusehen, bedeutete nichts im Vergleich zu dem Wissen um die Identität der Person, die für alles verantwortlich war. Für den Schmerz, den unwiderrufbaren, durch nichts gutzumachenden Verlust.
Carolina hatte sich verzockt und sein Wesen nicht in die Rechnung einkalkuliert. Poker war nicht sein Spiel, bluffen nicht sein Metier.
Alles oder nichts. Es war Roulette.
Rien ne va plus – er setzte immer alles auf ein Feld. Die rote neunzehn. Eine Eigenart, für die er im Leben teuer bezahlt hatte. Was glaubte sie denn, woher seine Spielschulden rührten?
Marc hätte Emilia niemals für Carolina verlassen, und es gab nur einen Grund für das Schweigen seines Bruders, ihn nicht ins Vertrauen gezogen zu haben: Er hatte die Affäre bereits beendet.
Rache und Schmerz, die alten Triebfedern.
»Du warst es. Du hast die Radmuttern abgeschraubt. Und der falsche Bruder ist gestorben«, sagte er zu Carolina, das Telefon noch immer am Ohr, als am anderen Ende der Leitung jemand abnahm und sich mit dunkler Stimme meldete.
»Der Polizeinotruf, guten Abend.«

8 thoughts on “Roulette

  1. Moin Moin,

    eine richtig tolle Kurzgeschichte die du dir da ausgedacht hast. Du benutzt einen richtig guten Wortschatz und dein Plot ist super detailliert geschrieben. Deine Bildsprache ist sehr lebendig und ob es nun ein Adamantiumskelett, oder eine thailändische Hühnersuppe ist, ich konnte sie sehen!

    Du magst verschachtelte Sätze, kein Problem..ich nämlich auch! Deine Geschichte habe ich in einem Rutsch gelesen! TOP!

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für’s Voting!

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

  2. Hey, deine Geschichte hat mir gut gefallen!
    Zwischendurch ist es ein wenig holpri´g und dann kommen plötzlich Sätze wie: “Er blinzelte, um seine verschwommenen Erinnerungen in klare Konturen zu zwingen, und sah tatsächlich Sterne – seltsamerweise in der Konstellation des Großen Wagens, ein Kasten mit Deichsel, ohne Räder – als die Wahrheit in seinem Kopf explodierte und er verstand.”
    Davon bin ich total begeistert!

    1. Hallo

      Ich gratuliere dir ganz herzlich zu deiner Geschichte.

      Sie ist wirklich großartig.

      Du hast mich mit deiner Geschichte komplett geflasht und begeistert.

      Kompliment.
      Die Handlung hat mich überzeugt und dein Talent ist nicht zu übersehen.

      Die Grundidee ist gut gewählt und ordentlich dargestellt. Die Charaktere waren super gewählt und glaubhaft.
      Die Dialoge realistisch und das Finale spannend und überraschend zugleich.

      Und noch was.
      Etwas, das mir stets wichtig ist:

      Deine Rechtschreibung und Grammatik ist vorbildlich.
      Du hast viel Arbeit und Energie in diese Geschichte gesteckt.

      Dem zoll ich meinen Respekt.
      Großartig.

      Man spürt deutlich, wie sehr dir die Geschichte am Herzen liegt.

      Das überträgt sich auf den Leser.

      Und das ist Kunst.

      Ich wünsche dir und deiner Geschichte alles Gute und viel Erfolg.

      Und ich hoffe, dass du es ins EBook schaffen wirst.

      Mein Herz hast du natürlich sicher.
      Und mein Like auch 🙂

      Ganz liebe Grüße und pass auf dich auf.

      Swen Artmann (Artsneurosia)

      Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen.

      Meine Geschichte heißt:

      “Die silberne Katze”

      Vielen, vielen Dank.

      Swen

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