philipbreuersRUBIN’S VASE

Eine verschwommene Gestalt lag hinter dem Spiegel. Entzerrt im Nebel der glatten Oberfläche waren seine Gesichtszüge unerkennbar und dennoch im Takt mit jeder Bewegung die er ausführte. Er wusste, dass die Beschlagenheit sich im laufe der Zeit in erkenntliche Klarheit verwandeln würde. Roman Lowe war sich an diesem morgen zuerst nicht sicher ob er diese Gestalt hervor holen und ihr in die Augen schauen wollte. Doch dann wischte entschlossen mit der Handfläche über die glatten Spiegel und erkannte sich… 

 

“Geld ist die Wurzel allen Übels aber was ist das nicht” an diesen Spruch seines Vaters musste Roman Lowe fast jeden morgen denken, wenn er in seine geleaste S-Klasse stieg um zur Arbeit zu fahren. Er war sich bis zum heutigen Tag nicht sicher, wie viel Prozent Talent und wie viel Prozent pures Glück er dem Titel “geschäftsführende Agenturleitung der Werbeagentur TEST DESIGN GmBH” in seinem ereignisreichen Lebenslauf zu verdanken hat. Bestimmt eine recht ausgeglichene Mischung aus beidem Komponenten je nach dem was man am Ende des Tages als “Talent” definiert. Denn mit dem bloßen, Anfang der Neunziger, gelernten Schriftsetzer-Handwerk war man kaum fähig, dreißig Jahre später eine renommierte Agentur im Großraum Stuttgart zu leiten und vor allem im erbitterten Konkurrenzkampf der Region über Wasser zu halten. Lowe’s einladendes Charisma gepaart mit rhetorischer Raffinesse kaschierten ausreichend oft sein stagniertes Know-How über Grafikdesign – “schwätza kann der Mo!” würde man in seiner Wahlheimat Baden-Württemberg sagen. Doch es war eben diese zwischenmenschliche Professionalität die TEST DESIGN GmBH zu einem Aushängeschild der stuttgarter Designszene hievte. Ob Mercedes, Bose, Kärcher, Wüstenrot, Axel Springer oder das SWR – Roman Lowe trieb in einigen Chefetagen exzellente Kundenakquise über die Jahre. Und am Ende waren es nicht die zehntausend Euro mehr oder weniger die einer Unternehmensführung in dieser Liga bewegten TEST DESIGN’s Dienstleistung in Anspruch zu nehmen. Lowe’s suggerierte Vertrauenswürdigkeit und Greifbarkeit waren oft das Zünglein an der Waage, denn wenn sich mal wieder ein Schnellschuss priorisierte, war ein adäquater Designchef der am Freitagabend um 9:00 noch erreichbar ist, ein Ass im Ärmel. Lowes Familienleben musste in den letzten Jahre natürlich bittere Abstriche machen. Zwar hatten sich seine Frau Saskia und seine Kinder, Tom und Lea daran gewöhnt, dass der Papa es nie vor acht Uhr zum Abendessen Heim schaffte. Selbst im Urlaub konnte Lowe sein Privatleben von den einprasselnden Fragen aus dem stuttgarter Buero isolieren. Oft lief er an den tunesischen oder südfranzösischen Stränden auf und ab um seinen Mitarbeiter hektische Anweisungen zu machen und einige Brandherde zu löschen. Saskia Lowe hatte sich schon lange und resigniert mit solchen Unannehmlichkeiten abgefunden. Allerdings waren es weniger die Häufigkeit seiner geschäftlichen “Abstecher” sondern dass er seelenruhig und ohne Protest die Dreistigkeit mancher Kunden und Kollegen hinnahm. Aber auch Saskia Lowe musste irgendwann der unromantischen Realität ins Auge blicken, dass mit einem erfolgreichen Agenturchef als Ehemann verheiratet zu sein, auch hieß gewisse Kompromisse in Kauf zu nehmen. Als Selbstständiger ist man zwar “selbst” aber auch eben “ständig”, doch solange Geld keines dieser Kompromisse war (und das war es wirklich nicht), konnte Saskia Lowe, die seit der Geburt ihres zweiten Kindes nie wieder arbeiten war, kaum lamentieren. Doch auch sonst waren die Grenzen zwischen Privatleben und Beruf im Alltag der Lowes nicht nur gravieren verschwommen, in gewisser Weise hatte der Job so gut wie alle Bereiche ihres Lebens monopolisiert, sodass von klarer Differenzierung nicht mehr die Rede sein konnte. Die wenigen Freund- und Bekanntschaften die Roman und Saskia Lowe pflegten, gebaren aus kollegialen Verhältnissen zu internen Mitarbeitern, oder Mitarbeiter und Vertreter externer Partner. Zu den den beiden Elternpaaren in Niedersachsen hatte man einen verhaltenen Kontakt der sich irgendwie obligatorisch an fühlte.  

 

Lowes Wagen gleitete ueber die Straßen der Stuttgarter Innenstadt wie ein Tanz auf dem Asphalt und es fühlte sich an als wolle der Mercedes eine Metapher auf sein jetziges Leben verkörpern. Er dachte an das Meeting in einer halben Stunde. Passanten und Gebäude huschten wie vage Visionen an ihm vorbei und nichts an diesem Morgen schien neuartig wenn doch ihm die Gewohnheit einen Sinn von Unbehagen spüren ließ.

 

Es war kurz nach acht als Eric Hildebrandt seinen Skoda Octavia VRS in der Tiefgarage des Agentur Gebäudes von TEST DESIGN zum Stehen brachte und den letzten Schluck Kaffee aus einem Pappbecher ächzend runter schluckte. Die Nachrichten im Radio leiteten zum heutigen Wetterbericht über, doch Hildebrandt war zu desinteressiert um es wieder an zu schalten, nachdem er den Schlüssel aus dem Schloss zog. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht um acht zur Arbeit zu erscheinen. Zwar gab es in der Agentur offiziell eine geregelte Gleitzeit, die allerdings insofern hinfällig war, dass angesammelte Überstunden eben nicht gesammelt wurden sondern als “Ehrenstunden” verkamen. Jene unzählige und mühsam geopferte Überstunden waren in gewisser Weise auch ein lautloses Fundament der Agentur im durchtriebenen Schaffensprozess der letzten Jahre. Und auch wenn der Gesetzgeber für die Einführung von elektronischen Zeiterfassungsmethoden plädierte, war allen bei Test Design klar, dass eine Stempeluhr oder ähnliches nichts weiter als eine Verballhornung darstellen würde. Hildebrandt war seit drei Jahren Art Director bei Test Design. Ihm gefiel mehr das Zusammensein unter kreativen Gleichgesinnten als das reine tägliche Geschäft und oft genug fantasierte er über nie gewagte Abzweigungen in seinem fünfundzwanzigjährigen Leben, die ihn vielleicht auf höhere Sprossen der Karriereleiter platziert hätten. Die weiße S-Klasse seines Chefs Roman Lowe rollte anmutig auf den fest zugeschriebenen Parkplatz direkt neben dem Tür zum Ausgang. Hildebrandt hatte sich immer über die Eigendynamik auf Firmenparkplätzen gewundert und dass nicht nur der Chef sondern auch jeder andere Mitarbeiter sich immer wieder dieselbe Parklücke als Stammplatz heraussuchen. Die Ankunft seines Chefs war für Eric Hildebrandt ein ungefördertes Signal, aus dem eigenen Auto aussteigen zu müssen -es waren eben doch noch die kleinen undefinierbaren Signale die man sich lieber sparen wollte. Er hatte ein gutes Verhältnis zu seinem Chef. Klar, es wurde noch gesiezt, aber Hildebrandt schätzte Lowes extrem entspannte und respektvolle Art und Umgangston sowie seine ansteckende Leidenschaft für Exzellenz und Ästhetik. Hildebrandt war sich schon bewusst, dass die Agentur seinem feinem Auge und seiner technische Begabung, einige Perlen im Haus internen Portfolio zu verdanken hat. Zwar schmückte sich Lowe beim Kunden Pitch gerne mit fremden Federn, aber das war ihm relativ gleichgültig solange für die Mitarbeiterzufriedenheit und eine angemessene Bezahlung gesorgt wurde. Reich werden würde er, solange nichts ungewöhnliches passierte, mit diesem Job nicht. Die Medienbranche und so auch TEST GmBH war im Gegensatz zu den großen Industriefirmen kein Goldesel. Allerdings durfte man den Schnick-Schnack drum nicht außer Acht lassen: VIP-Ticket beim Vfb Stuttgart, Backstage Karten zu den Fantastischen Vier, Grand-Loge im Grandls auf dem Cannstatter Wasen oder Firmenfeier im Perkins Park – die Belegschaft auf diesem Niveau zu bespaßen lag natürlich an Lowe’s gut gepflegte Kontakte mit diversen Veranstaltern die zum Größten Teil auch Kunden waren. Dennoch hatte man immer als Mitarbeiter das Gefühl, dass die Agentur gerne alle Lebensbereiche vereinnahmen möchte. Die Seriosität im Büro wurde wie von Zauberhand bei ausschweifenden Partys zur surrealen Ausgelassenheit. Aus Kollegen wurden Freunde und oft waren es die einzigen Menschen mit denen man sich umgab.

 

Lowe betrat schwungvoll das Büro der Agentur. Die Einrichtung war wie man sich vorstellen konnte ausgesprochen edel und markierte deutlich den Anspruch an Design und Ästhetik. Die weite stuttgarter Aussicht erstreckte sich durch die hohen Glasfronten, auf langen, glänzenden Holz Tischen saßen die Mitarbeiter vor ihren silbernen Macs und die Sessel und Ledersofas gegenüber versuchten den Eindruck von Gemütlichkeit zu erwecken. ,,Morgen..na ein gutes Wochenende gehabt”, fragte Lowe gut gelaunt und nickte den am Schreibtisch sitzenden Mitarbeiter zu. Die Atmosphäre im Raum änderte sich schlagartig. Nicht, dass die Kollegen plötzlich unter Anspannung standen, doch die Schwätzchen über die Tische hinweg wurden verhalter. Am Kaffeeautomat in der Küche wurden Wochenendberichte eingestellt und am Arbeitsplatz weiter führt und das eine oder andere Smartphone verschwand rasch in der Schublade. “War gut! Ich hoffe bei ihnen auch!”, meinte Laura Baumann, einer der Grafikdesigner. “War war entspannt! Danke! Wetter hat zum Glück dieses Mal mitgemacht”. Lowe marschierte zum Kaffeeautomaten. “Hat jemand das Stuttgart Spiel gesehen – Katastrophe Leute! Das wird schwer mit dem Klassenerhalt wenn das so weitergeht. Vor Allem weil manche Kampagnen so nicht mehr weiterlaufen werden wenn die absteigen.”

Das Montag-Morgen Meeting verlief ausgesprochen locker. “Das muss wohl ein Agenturchef der netten Sorte sein.”, dachte sich Nina Wagner-Braun und machte sich eifrig Notizen um bei den neuen Kollegen einen ersten positiven Eindruck zu hinterlassen. Es war ihr erster Tag bei ihrer neuen Arbeitsstelle. Die zwei Tage Probearbeiten vor einer Woche waren schon sehr zufriedenstellend allerdings konnte man mit dem Briefing, in dem es darum ging sich eine Kampagne für einen fiktiven Kunden auszudenken, wenig in Berührung mit echtem Arbeitsalltag von TEST GmBH kommen. Die Kollegen waren allerdings ganz nett und gleich per Du. Nur dieser Eric hatte auf ihrer Wahrnehmung ein leicht befremdliches Bild hinterlassen. Seine überaus hilfsbereite Art beim Einlernen hatte sie als verschleierten Flirtversuch gedeutet und als er ihr am letzten Tag des Probearbeiten, eine Heimfahrt nach Hedelfingen (erfolglos) angeboten hatte, bahnten sich die ersten Unannehmlichkeiten an bevor die Tinte auf dem Arbeitsvertrag trocknete. ,,Und an dieser Stelle auch ein herzliches Willkommen an unsere neue Kollegin Frau Wagner-Braun. Wir freuen uns mit Ihnen Verstärkung ins Haus bekommen zu haben.” Alle Gesichter drehten sich zur Ihr und schenkten ihr ein annäherndes Lächeln. “Laura, sie haben doch bestimmt was im Petto für Frau Wagner-Braun?” fragte Lowe. “Die neue OBI Broschüre hat nochmal textliche Korrekturen bekommen und die haben nochmal ein paar Bilder von den neuen Rasenmähern geschickt  – allerdings ohne Pfad die müssten noch freigestellt werden.” meinte Laura Baumann. “Das Freistellen kann auch der Diego machen”, räumte Eric ein. “Ich brauche noch ein paar Aufgaben für ihn”. Er sprach als befände sich der genannte Diego nicht im Raum. Diego war Azubi und mit siebzehn Jahren mit Abstand der Jüngste Mitarbeiter in der Agentur. Eigentlich wollte Lowe zuerst keinen Minderjährigen einstellen, da er fürchtete bei Aufkommenden Überstunden arbeitsschutzrechtliche Probleme bekommen könnte. Da Diego in vier Tagen allerdings volljährig werden würde, war diese Misere bald vom Tisch. Eric war offiziell Diegos Ausbilder und ließ nervige Nebenjobs gerne zu dem wortkargen Jungen abwälzen. Außerdem war so ein Azubi ein zweckdienlicher Laufbursche den man guten Gewissens zum Getränke holen, Post abliefern oder auch Zigaretten kaufen schicken konnte ohne mit einem Funken Protest rechnen zu müssen. Man lernte Diegos selbstverständliche Bereitschaft erst mit seiner Abstinenz schätzen was z.B am Urlaub oder auch am mehrwöchigen Berufsschulblock lag. Ein talentierter Azubi der für einen lächerliches, dreistelliges Gehalt die unschönen Aufgaben erledigte war Lowe jeden Penny wert. 

 

“Wir hatten ja eigentlich vor Ideen für das Redesign unserer Corporate Identity zuerst in einem Pitch mit diversen Firmen zu vergleichen, aber der Herr Wiedemann von Schwäbisch Hall, alter Bekannter von mir, hat sie mir direkt empfohlen”. Vincent Groß, Marketingleiter der Versicherungsfirma Brechtmann & Partner sowie Pierre Metro der Einkaufsleiter hatten zusammen mit Roman Lowe im gläsernen Besprechungsraum Platz genommen. “Aber solche Pitches können ja auch eine Stange Geld kosten. Anfahrtskosten, zu Not Hotelkosten wenn die irgendwie aus Düsseldorf oder Hamburg kommen. Und oft ist das wirklich außer Spesen nichts gewesen.” “Das freut uns natürlich sehr. Aus neutraler Sicht kann man die Investition in einen größeren Pitch bei einem kompletten Redesign dennoch gut nachvollziehen- jetzt mal unter uns.”, meinte Lowe und lehnte sich in den Stuhl. “Ja, blöd sind wir auch nicht.” lachte Vincent Groß. “Theoretisch haben wir auch noch ein paar andere Läden in der Gegend die wir hier abklappern können.” Er lehnte sich nach vorne. “Aber mal ehrlich Herr Lowe. Sie sind die beste Agentur in Stuttgart wenn es darum geht altbackenes Design aufzufrischen ohne dabei groß die Pferde scheu zu machen. Diese jungen Kerle mit ihren Schals wollen gleich alles über den Haufen werfen und ein künstlerisches Feuerwerk zünden. Unsere Kunden sind immer noch hauptsächlich zwischen 45 und 80. Die wollen, dass ihre Lebensversicherung unter dem gleichen Briefkopf steht wie vor 25 Jahren.” “Verstehe, verstehe…ich meine wie finden da einen guten Mittelwert. Trotzdem muss sich so ein Branding immer erkenntlich weiterentwickeln. Sie wollen ja auch in irgendeiner Weise, dass die Enkel ihrer Kunden ein gutes Bild ihrer CI bekommen und potentielle Kunden in der Zukunft werden.” Roman Lowe war ganz in seinem Modus. “Völlig verständlich Herr Lowe, ich wollte nur zum Ausdruck bringen, wie wir uns das vorstellen. Ganz ehrlich unser Chef ist bei allem Respekt noch vom alten Schlag, ganz nach dem Motto: Das haben wir schon immer so gemacht. Ich will nur sicher gehen, dass ihre Bemühungen und Ideen nicht über das Ziel hinausschießen und am Ende abgelehnt werden – wir müssen das Rad hier nicht neu erfinden. Lowe nickte zufrieden “Wir werden ihnen in eineinhalb Wochen erste Entwürfe zukommen lassen, ich kann mir vorstellen, dass wir da schnell zu einem passenden Ergebnis kommen.” “Das freut uns”, meinte Groß “Dann sind wir mal gespannt” Die beiden Kollegen Groß und Metro tauschten einen zufriedenen Blick aus, Metro war schon dabei Unterlagen und Stifte in seine Arbeitsmappe zu stecken als Groß noch eine Sache einfiel: “Was ich noch erwähnen wollte Herr Lowe.” Er zögerte “Wie soll ich das sagen…unsere Firma präsentiert die Zusammenarbeit mit ihre Partner gerne öffentlich in Broschüren, auf der Webseite etc. und das ein oder andere Gesicht sieht man auch auf unserem Sommerfest. Unserem Chef ist es wichtig die Vernetzung in der Region hervorzuheben und ein bisschen damit anzugeben, dass mit Hinz und Kunz kennt.” “Ist bei uns ja genau so” meinte Lowe schmunzelnd. “Jetzt ist es so, dass wir in der Vergangenheit auch mit Leuten zusammen gearbeitet haben, die..ich will jetzt nicht sagen ‘Dreck am Stecken’ hatten aber naja keine astreine Vita. Beispiel: Der Herr Riedel von answer mit denen wir bisher unsere Website aufgezogen hatten, hatte hier und da Fußabdrücke in der braunen Szene. Und des hat unserem Chef gar nicht gefallen, weil wenn das rauskommt, dass wir mit so Leuten zusammen arbeiten hat unser Klientel schon Misstrauen und das ist in der Versicherungsbranche tödlich” “Klar verstehe!” sagte Lowe in einem ruhigen Ton. “Sie wollen einfach keine Skandalnudeln als Geschäftspartner…auch da: Ist bei uns ja auch so! Ich kann es mir nicht leisten für die NPD Wahlplakate zu gestalten, also bei aller Professionalität. Aber keine Sorge Herr Groß: Wir zahlen unsere Miete. Wir zahlen unsere Steuern. Wir haben keine Leichen im Keller und unser Kundenportfolio zeigt ja, dass uns die großen Namen vertrauen. Da kann ich sie beruhigen.” “Das kommt auch direkt von oben”, meinte Groß. “Ich persönlich mach mir da schon lange keinen Kopf mehr. Wenn man da anfängt findet man bei jedem Großkonzern Ausbeutung und krumme Geschichten.”

 

Es war 11:00 Uhr abends. Roman Lowe brummte der Schädel. Keuchend stand er auf, schnappte sich eine Flasche Cola aus dem Kühlschrank und ging über das Treppenhaus auf die Dachterrasse. Die Stadt sah von hier oben aus wie ein fluoreszierendes Netz und von weitem hörte man das Rauschen vom nie still stehenden Verkehr. Lowe stützte die beiden Arme an das Geländer und atmete tief ein. Die letzten Stunden lagen in seinem Gedächtnis wie eine zerkratzte CD im Laufwerk. Er geriet leicht in Panik bei dem Versuch die Fetzen der Erinnerung in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. So etwas war ihm zuletzt vor 5 Jahren passiert, als er auf einem Kundentermin in München war. Damals lief er spät Abends im Hotelzimmer wie ein Tiger auf und ab um am Rande der Verzweiflung der Ursache dieses Filmriss auf die Spur zu kommen. Der Arzt meinte später, dass Stress und Ermüdung die vermeintlichen Auslöser dieser Symptome waren und dass er lieber ein paar Gänge runter schalten sollte. Roman Lowe der Diagnosen wie Burnout oft belächelt hatte, ließ sich auch hier wenig belehren und arbeitete nach wie vor auf Hochdruck weiter. Es war danach auch zu keinen weiteren Vorfällen dieser Art mehr gekommen und um kein großes Fass aufzumachen, ersparte er es sich, seine Frau darüber in Kenntnis zu setzen.

Laut dem Mailprogramm hatter er sein letzte Mail kurz nach 7:00 Uhr verschickt. Auf seinem Internetbrowser war noch eine Folge “Haus des Geldes” auf Netflix geöffnet die 5 Minuten vor dem Ende stand. Lowe sprang einige Szenen in der Handlung zurück um sich zu vergewissern, dass er die fast abgespielt Folge auch wirklich gesehen hatte. Die gezeigten Abschnitte der Episode kamen ihm äußerst unbekannt vor als hätte sich die Serie von alleine auf seinem Rechner gestartet. Hektisch suchte er auf seinem Smartphone nach Inhalten seinem Gedächtnis mit Anhaltspunkten wieder auf die Sprünge zu helfen. Es gingen weder Anrufe raus noch ein. Zwar hatte er in den letzten 4 Stunden nichts mehr verschickt, was sehr ungewöhnlich war allerdings waren ein paar unbedeutende What’s App Nachrichten ein, von denen er keine Notiz vernommen hatte. Das Fenster der Erinnerung war nicht nur vernebelt es war wie versperrt – ein totaler Blackout. Mit zittrigen Händen wählte er die Nummer von Akim Celaj – Projektmanager im Haus seit zehn Jahren und einer seiner engsten Kollegen. Dieses gegenseitige Vertrauen plus die Tatsache, dass Akim oft als einer der letzten das Büro verließ, bewegten Roman zu diesen Anruf.
“Roman was gibt’s?” Akim klang müde. Wahrscheinlich wurde er gerade aus dem Bett geklingelt.

“Akim sorry wenn ich so spät störe” Roman versuchte gefasst zu klingen.

“Kurze Frage: Hast du die Post mitgenommen als du Feierabend gemacht hast?”

“Alter…bist du noch in der Agentur?”

“Ja, musste noch etwas fertig machen.”

“Der Diego nimmt die Post ja eigentlich immer Feierabend macht…aber der hat das heute vergessen, weil als ich gegangen bin, waren in der Box noch ein Haufen Briefe drin aber ich dachte du wirst dich schon drum kümmern wenn du gehst”

Roman schritt zum Regal neben der Tür. Eine rechteckige, gelbe Plastikkiste lag auf einem der mittleren Bretter. Sie war komplett leer. Roman schluckte und rieb sich in kreisrunden Bewegungen die Finger an die linke Schläfe.

“Ja ich seh das auch! Da ist noch einiges an Post drin. Sagst du das dem Diego morgen bitte!”

“Mach ich! Kann ja mal passieren”

“Akim…sag mal wann bist du nochmal gegangen ich glaub ich war in einer Telko…”

“Das war kurz vor Acht rum…aber du warst in keiner Telko Roman wir haben noch über das Brechtmann Projekt geredet und dann bin ich gegangen..bisschen verpeilt gerade was?”

“Ah ja stimmt..sorry…aber außer uns war niemand mehr im Büro oder?”

Akim zögerte

“Roman gehts dir gut?”

“Ja war langer Tag heute…alles gut!”

“Soweit ich weiß war da niemand mehr im Büro außer uns”

“Was heißt das ‘Soweit ich weiß?” 

“Da war niemand! Wie heißt die Neue nochmal? Wagner-Braun die ist zwanzig Minuten vor mir gegangen – sag mal hast du nen Black-out?”

“Ja, ja klar jetzt weiß ich’s wieder. Das Brechtmann Projekt hat mich abgelenkt”

“Okay – kann ich dir sonst noch helfen Roman? Kommst du gut nach Hause?”

“Passt schon! Danke Akim”

Roman legte sofort auf. Wenn Akim recht hatte, war seit Acht niemand der Kollegen noch im Büro gewesen. An das Gespräch mit ihm kurz bevor er Heim ging konnte er sich noch vage erinnern, alles danach war wie hinter einem verschlossenen Vorhang. Roman war in einem abartigem Zustand zwischen Verwirrung, Angst und Müdigkeit und die krampfhafte Rekonstruktion der letzten Stunden führte ihn immer wieder in eine Sackgasse. Er reibte sich die Augen, schaltete das Licht aus und verschwand aus dem Büro.

 

Roman schloss die Tuer auf und trat in das dunkle Haus. Blaue Lichtstrahlen reflektierten auf dem Walnussboden und seine dunkle Silhouette spiegelte sich wie ein Phantom auf den weiten Glasfenstern. Die trostlose Stille lag wie eine Wand vor ihm. Er knipste das Licht an und torkelte leicht in das perfekt aufgeräumte Wohnzimmer. Seine Familie war schon lange nicht mehr wach und es war zur traurigen Normalität geworden, dass er seine Frau über exzessive Überstunden nicht mehr informieren musste. Roman ließ sich rücklings auf die Couch fallen und legte erschöpft den Kopf in den Nacken. Das war alles zu verrückt um wahr zu sein und schon jetzt bereute er seinen skurrilen Anruf bei Akim. Er wollte diesen Zwischenfall einfach verdrängen und vergessen und entschloss ich diesem diesem eigenartigen Phänomen keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken. Nachher müsste er noch einen Arzt konsultieren der ihm im schlimmsten Fall irgendetwas von Demenz in jungen Jahren erzählen würde die ihn dann zu drastischen Maßnahmen zwingen müsste. Es war ein klassischer Blackout nicht mehr und nicht weniger und damit wollte er es auch belassen. Außerdem ist ja nichts passiert. Er war unversehrt, wieder funktionstätig und hatte mit Sicherheit keinen Schaden auf materieller noch digitaler Ebene verursacht. “Die Post”, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf und sein Magen zog sich zusammen als hätte jemand eine Reißleine an seinen Innereien befestigt. Akim hatte behauptet, die Post war noch im Kasten als er die Agentur verließ. Da Roman Lowe allerdings eine leere Postbox aufgefunden hatte mussten die Briefe während seiner “Abwesenheit” abhanden gekommen oder vielleicht doch abgeschickt worden sein. Langsam sickerte die Panik wieder hoch als er an die ganzen Briefe dachte. Die Buchhaltung hatte heute einige Rechnungen drucken und frankieren lassen. Es wäre ein prekäres Unterfangen dem Kollegium das Verschwinden der Post zu erklären ohne dabei seinen geistigen Ausfall anzusprechen. Hatte er die Post vielleicht mitgenommen und in seinen eigenen Briefkasten gesteckt? Mittlerweile zog Roman jeden Irrsinn in Erwägung. Er stand leise auf, öffnete die Haustür und war bereit den Inhalt des Briefkastens zu prüfen. Er spürte die Kälte auf dem Gehäuse aus Edelstahl als er vorsichtig den Deckel hievte.

(Die Geschichte wird selbstverständlich fortgeführt, mir ist es nicht gelungen, die angegebenen Zeitvorgaben einzuhalten um die Geschichte fertig zu stellen. Über Feedback würde ich mich trotzdem freuen! – PB)

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