Bernhard NeubacherSchatten der Vergangenheit

 

1. Kapitel – Eine Zugfahrt, die ist lustig…

 

„Verdammte Scheiße, was wollen diese Typen von mir?!“, schwer keuchend, mit Schweißperlen im Gesicht und ohne Atem biegt Alexander um die Ecke des an diesem Abend leerstehenden Bahnhofs Wolfsgraben – fast leerstehend. Der kleine Augenblick in dem er vorsichtig um die Ecke, hinter der er sich versteckt hat, lugt reicht, um festzustellen, dass die drei Unbekannten immer noch hinter ihm her waren. Im fahlen Licht der Straßenlaternen sahen die Gestalten furchterregend aus: jeder von ihnen hatte eine Tiermaske auf dem Kopf, zerrissene Kleidung am Körper und in den Händen Baseballschläger, die zu allem Überfluss auch noch mit Eisenketten umschlungen waren. Langsam gingen sie die Bahnhofsstraße entlang, direkt in Alexanders Richtung.

Sein Herz raste und er drückte sich an die kalte Wand des Bahnhofsgebäudes. Er brauchte einen Plan, soviel war sicher. Die drei Gestalten schlenderten zielgerichtet genau in seine Richtung – sie mussten es auf ihn abgesehen haben, es konnte gar nicht anders sein! Dann schallte es durch den Bahnhof: „Der Railjet RJ 233 mit Fahrtrichtung Klosterneuburg fährt ein – bitte treten Sie zurück!“ – das war seine Rettung, die Destination war ihm vollkommen egal, er wollte einfach nur weg, weg von diesem Ort und weg von den unbekannten Verfolgern.

Er hörte den einfahrenden Zug und sah die Lichter in nicht mehr allzu weiter Ferne – bald konnten ihm diese Spinner nichts mehr anhaben. Erneut beugt er sich ein wenig nach rechts, um den überschaubaren Vorplatz abzusuchen. Ihm stockte der Atem – die Verfolger waren nicht mehr zu sehen. Jetzt oder nie sagte er sich selbst und fasste sich ein Herz. Punktgenau als der Zug einfährt, sprintete er zum Bahnsteig. Aus den Augenwinkeln konnte er erkennen, wie die drei Gestalten ein paar Meter entfernt standen und ihn beobachteten; scheinbar machten sie keine Anstalten den Zug zu betreten. Schnellstmöglich verzog sich Alexander in das letzte Abteil, um möglichst viel Distanz zwischen sich und die Verfolger zu bringen.

Der Zug setzte sich in Bewegung und er atmete durch – alles war in Ordnung, diese Freaks hatten es vergeigt. Er starrte aus dem Fenster, um auch sicher zu gehen, dass sie ihm nicht in den Zug gefolgt waren. Wie festgefroren standen die Drei am Bahnsteig, die Baseballschläger geschultert, ausdruckslos aus ihren Tiermasken heraus glotzend und ihn fixierend – ein eiskalter Schauer fuhr ihm bis tief in die Gebeine.

 

Sekunden vergingen wie Minuten und Minuten wie Stunden. Alexander knöpfte die obersten Knöpfe des vollkommen nassgeschwitzten Hemdes auf und lehnte sich gegen das Fenster des Zuges. Er blickte hinaus in die Schwärze der Nacht und versuchte die letzten Tage und Stunden Revue passieren zu lassen. Angefangen hatte alles mit diesem ominösen Handy…

 

 

2. Kapitel – Endstation: Normales Leben – bitte alle aussteigen

Stunden davor…

Ein Tag wie im Bilderbuch: die Sonne scheint, blauer Himmel und keine einzige Wolke ist am Himmel über den Dächern von Wien zu sehen. Der Duft von frisch gebratenem Speck und wohlduftendem Kaffee lässt Alexander nahezu aus dem Bett schweben. Er streckt sich ausgiebig während er einen Blick aus dem Fenster wirft; Alexa wird mitgeteilt, dass sie die vorgefertigte „Guten Morgen“-Playlist spielen soll, ehe er im Bad verschwindet, seinen Schlafanzug abstreift und unter der großzügig gebauten Walk-In Dusche verschwindet. Das warme Wasser sprudelt angenehm aus dem Massageduschkopf und läuft über den, mittlerweile etwas aus der Form gekommenen, Körper. Der neue Job als Führungsmitarbeiter in der Softwareentwicklungsfirma CyberCloud war zwar äußerst lukrativ, aber der damit verbundene Stress, die endlosen Besprechungen mit seinen Kollegen und Vorgesetzten und die dringend notwendigen Überstunden, wenn ein neues Update anstand und von oben bis unten bis auf den letzten Bug untersucht und ausgemerzt werden musste, schlugen sich stark auf seine ohnehin schon angeknackste Psyche und auch auf seinen Lebensstil. Für normales Essen blieb kaum noch Zeit, der Lieferdienst seines Lieblings-Italieners wurde auf die Kurzwahltaste 1 des Smartphones gelegt und der verdiente sich, speziell dann, wenn die Kantine in der Firma spätnachts schon geschlossen hatte, eine goldene Nase an ihm.

 

Heute war wieder einer dieser nervigen Tage: dutzende Meetings standen auf dem Kalender, gepaart mit Vorträgen über das am Ende des Jahres erscheinende neue Programm, für das er mit seinem Team verantwortlich war.  Schwer seufzend dreht er den Fluss des Wassers ab, schlurft aus der Dusche, stellt sich vor den Badezimmerschrank und wagt einen Blick in den Spiegel und erschrak fast dabei. Es kam ihm vor, als würde ihm ein Fremder entgegenblicken: tiefschwarze Augenringe, ein ungepflegter Bart – sein Friseur hatte bestimmt schon eine Vermisstenanzeige bei der Polizei eingereicht – und die ersten Speckröllchen legten sich dezent um seinen Bauch und die Hüften. Ein fast schon mitleiderregender Anblick.

 

Er reibt sich trocken, föhnt sich lieblos die Haare und öffnet dann seine Seite des Schranks. Neben den üblichen Inhalten wie Rasierschaum, Haargel, Zahnpasta und diversen anderen Kleinigkeiten stehen Tablettendosen und flüssige Arzneimittel. Er greift zu einer runden, kleinen Dose, lässt sie zwischen seinen Fingern rotieren und liest das Etikett: „Bei starkem Stress und anhaltender, stetiger Nervosität verwenden Sie MAXIMAL eine Tablette pro Tag“. Er zuckt mit den Schultern, fischt drei der Seelenheil-Bringer aus dem Döschen und wirft sie sich in den Mund; mit den Nebenwirkungen würde er schon fertig werden. „Du schaffst das, du schaffst das! Du hast alles im Griff!“, sagte er seinem Spiegelbild und schloss den Badezimmerschrank.

 

Wieder zurück im Schlafzimmer, aus dem mit voller Lautstärke Nirvana dröhnt, zieht er sich die übliche, schnörkellose Hemd-Pullover-Kombination an, wirft sich in die nächstbeste Jeans die er findet und geht die Treppe hinab, an deren Ende er schon schwanzwedelnd von Loki, einem weißen Schweizer Schäferhund begrüßt wird. „Na, du Schlafmütze? Hast du’s dann auch mal aus dem Bett geschafft?“, ruft Franziska, seine Frau, grinsend aus der Küche, während das morgendliche Streichel- und Kuschelritual mit Loki gerade im vollen Gang ist. Der Hund bekommt ein feines Leckerli aus der Lade, ehe Alexander sich dann an den Küchentisch setzt und sich von seiner Frau das Frühstück servieren lässt. Sie lässt sich gegenüber nieder und sieht ihm zu, wie er den knusprig gebratenen Speck wortlos in sich hineinschaufelt. „Ist alles in Ordnung, Alexander?“, fragt sie ihn vorsichtig, während er die Tageszeitung aufgeschlagen hat und sich durch den Inhalt blättert. Sie seufzt und beginnt wieder zu sprechen: „… du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst, aber Bitte re…“, “JA, Franziska, es ist alles in BESTER Ordnung – alles wirklich HEVORRAGEND, ich ertrinke in Arbeit, habe kaum noch Zeit für mich und muss mich sowohl in der Firma, als auch hier mit dämlichen Fragen herumärgern“, platzt es aus ihm viel lauter, viel aggressiver hervor, als er es eigentlich vorgehabt hätte. Doch als ihm das bewusst wurde, war der Schaden schon angerichtet. Von sich selbst entsetzt blickt er ihr entgegen: „Franziska, ich…es, es tut mir leid“ – „Tut es das, ja?“ kommt es mit leiser, zitternder Stimme zurück, „Was ist nur los mit dir? Ich erkenne dich kaum noch wieder, seit du deinen neuen Job hast. Vielleicht solltest du eher mein Angebot annehmen und mit mir reden, anstatt dein Glück auf dem Boden einer Whiskey-Flasche zu suchen…“. Sie griff neben das Tischbein und stellte die leere Flasche, die Alexander wohl zu nachlässig versteckt hatte auf den Tisch, stand vom Sessel auf und machte sich daran, die Villa zu verlassen. „Franziska, warte! Ich bitte dich!“, rief Alexander ihr hinterher, doch die einzige Antwort, die er noch bekam, war die zuknallende Eingangstüre des Hauses.

 

Nur noch er und Loki, der in seinem Bett lag und vergnügt an seinem Kauknochen herumbiss, waren noch da. Still saß Alexander noch für einige Minuten am Tisch und starrte Löcher in die Luft. Einiges an Wiedergutmachung stand an, wenn er diesen Fauxpas vergessen lassen möchte, soviel stand für ihn fest. Schließlich erhebt auch er sich vom Küchentisch, nimmt seinen Teller und leert den Rest des liebevoll hergerichteten Frühstücks in den Biomüll und sortierte den Teller im Geschirrspüler ein.

 

Der Mantel wurde angezogen, dem fröhlich schmatzenden Hund der Kopf getätschelt und ein letzter Check, ob alles eingepackt ist, findet statt – Smartphone, Schlüssel, Geldtasche und der Dienstausweis – alles da. Als er im Foyer stand, hörte er etwas, das ganz bestimmt nicht das Schmatzen des Hundes war. Er drehte um, ging in das Wohnzimmer und versuchte das Geräusch festzumachen. Ein Vibrationsgeräusch, keine Frage – aber woher? Sein Handy hatte er eingeschoben, Franziska hatte ihres sowieso immer dabei, also woher kam das Geräusch? Das Vibrieren verstummte nach wenigen Momenten mindestens so schnell, wie es begonnen hatte. Als er seine Runde im Wohnzimmer fast beendet hatte und sich wieder zum Foyer bewegte, um in die Firma zu fahren, schaute er noch durch die Terrassentür und sein Blick fiel auf den Ursprung des Geräusches: ein Handy lag dort, allein und verloren. Er schluckte und die ersten Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn – er hatte genügend (Psycho)Thriller gelesen und Horrorfilme gesehen, um zu wissen, wohin das führen könnte. Und er sollte Recht behalten…

 

3. Kapitel – Bitte warten Sie – Please hold the Line

 

Die Terrassentür krachte beim Aufmachen. Alexander stand in der Tür, den Blick auf das Handy fixiert und gänzlich unschlüssig, was er nun tun sollte. Er machte einen Schritt auf die Terrasse hinaus und lässt den Blick schweifen – der kleine Garten an der Rückseite der Villa sah völlig normal aus, die Blumenbeete die Franziska liebevoll hegte und pflegte, das Kinderplanschbecken, das zu einem Hundeplanschbecken umfunktioniert wurde, die Gartentüre war geschlossen und auf dem angrenzenden Weg war keine Menschenseele zu sehen. Er fasste sich ein Herz und hob/hebt das Handy vom Steinboden der Terrasse auf. Es war eines dieser „altmodischen“ Tasten-Handys; kein Touchscreen, kein schickes Design, nur ein stinknormales Telefon, dessen höchste technische Errungenschaft eine Kamera war, bei der von Megapixeln noch von keiner Rede sein konnte.

 

Alexander drückte die gewöhnliche Tastenkombination für die Tastensperre und schon leuchtete ihm das Display farbenfroh entgegen – ein Anruf in Abwesenheit: Unbekannte Nummer. Lächerlich, dachte sich Alexander, da muss sich irgendeines von den Nachbarskindern einen Scherz erlaubt haben. Plötzlich klingelte das herrenlose Handy erneut, doch diesmal war es kein Anruf, sondern eine SMS. Einen äußerst schlechten Scherz, korrigierte er seinen Gedanken von vorhin und öffnete die SMS.

 

Auf dem, für seinen Geschmack, viel zu kleinen Display baute sich ein Bild auf, das ihn laut lachen und ein „Sehr witzig, wirklich sehr witzig!“ herausrufen ließ: es handelte sich um ein Foto eines Textes auf dem mit einem hellgrün-neonleuchtenden Stift in großen Lettern „WIR WISSEN ALLES“ geschrieben stand – daneben war ein gruselig gezeichneter Smiley, mit durchgekreuzten Augen und einer herausgestreckten Zunge gezeichnet. Kopfschüttelnd ging Alexander zurück in das Haus, nochmal skeptisch einen Blick auf den an den Garten grenzenden Weg werfend, als das Handy erneut vibrierte: „1 NEUE KURZNACHRICHT“. Er zögerte dieses Mal, die Neugier siegte aber dennoch über die Angst. Es war wieder ein Foto. Man erkannte nicht viel auf dem schäbigen Bildschirm, aber bei genauerem Hinsehen konnte er sich selbst erkennen. Die Körpergröße, die Frisur und auch die Lederjacke sprachen dafür. „Ein Foto von mir, wie toll! Da haben sie sich mit dem Scherz ja richtig Mühe gegeben! Applaus, Applaus!“, weglegen wollte er das Handy jedoch nicht, er warf einen zweiten Blick auf das Foto und erkannte äußerst schemenhaft einen Teil des Schriftzuges eines Cafés. Sein Herzschlag stieg rasant und er starrte ungläubig auf das Display. Was ging hier vor sich? Hastig begann er auf die Tasten einzuhämmern und wollte denjenigen zur Rede stellen, der sich diesen makabren Scherz erlaubt hatte. Er rief die Nummer an, von der die SMS kam. Kein Freiton, kein Pfeifen – gar nichts. Nochmal. Wieder dasselbe. Ein drittes Mal wählte er die Nummer; diesmal hatte er einen Freiton, einmal, zweimal, dreimal: Stille.„Mit welchem Vollidi…“ – „Die gewählte Rufnummer ist nicht vergeben – bitte wenden Sie sich an den Kundenservice.“ Verdammt!

 

Das Hineinschreien ins Telefon ließ Loki aus seinem Bett aufstehen und zu seinem Herrchen huschen, hechelnd und schwanzwedelnd blickt er von unten hinauf und erinnerte Alexander daran, dass er immer noch zu Hause war. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass er schon viel zu spät dran war – das wichtige Meeting würde ohne ihn anfangen und er würde sich vor der Geschäftsführung ordentlich blamieren, soviel stand fest. Ein Abschiedstätscheln, das Handy in die Jacke gesteckt und schon rannte er zu seinem Sportwagen, in der Hoffnung nicht zu viel von dem Meeting zu verpassen.

 

4. Kapitel – Die Vergangenheit schläft nicht

 

„Alexander – gut, dass du endlich da bist, die Chefs schäumen vor Wut“, er hechtete wortlos an der Empfangsdame vorbei und stieg in den nächstbesten Lift, der ihn in den fünften Stock zur Führungsetage bringen würde. Zuerst musste er aber noch in sein Büro, um dort den Koffer zu holen in dem seine Projektarbeit für die baldige, anstehende Veröffentlichung des Programms darauf wartete, den Chefs vorgeführt zu werden. Am Büro angelangt zückte er den Schlüssel, um die Tür aufzusperren und musste feststellen, dass sie nicht abgesperrt war – hatte er vergessen sie abzusperren? Bestimmt war das Reinigungspersonal wieder schlampig gewesen und hatte nicht daran gedacht, die Tür nach der Säuberung abzusperren. Er schnappte sich den Koffer und eilte zum Besprechungsraum am Ende des Ganges, klopfte zögerlich an der Tür und trat ein, ohne darauf zu warten, dass man ihn hereinbat. Die gesamte Führungsriege hatte sich versammelt und starrte ihn ungläubig an, als er sich auf seinen Platz in der Runde setzte und den Koffer vor sich auf den Tisch stellte. Der Vorsitzende unterbrach seinen Redefluss für einen Moment, um ihn in der Runde zu begrüßen.

 

 „Ah, Alexander – wie schön, dass Sie es nun endlich auch geschafft haben. Sie sind auch nur eine Stunde zu spät, wenn Sie das nächste Mal Kaffee und Kuchen bei Ihrer Ankunft wünschen, lassen Sie es uns bitte wissen, ja?“ – „Es tut mir wahnsinnig leid, Herr Schuster, Sie würden nicht glauben, was mir heute…“ – „Das ist richtig, und es interessiert mich auch nicht“, fiel Schuster ihm ins Wort, „es ist nicht das erste Mal, dass Sie ihre Pflichten vernachlässigen und sich einen Fehltritt leisten. Ich hoffe für Sie, dass die Präsentation und der Fortschritt an ihrem Programm eher für Sie sprechen, als für Ihre Zuverlässigkeit. Andernfalls müssen wir uns wohl darüber Gedanken machen, ob Sie der richtige Mann für diese wichtige Position sind.“ Alexander nickte wortlos, der Schweiß rann ihm über das Gesicht und er fühlte sich unwohl in seiner Haut. Schuster setzte da fort, wo er aufgehört hatte:

 

„Meine Herren, wie Sie alle wissen befinden wir uns in den wohl wichtigsten Monaten in diesem Jahr. Die Zukunft unserer Firma -mit Blick auf das nächste Jahr gerichtet – hängt von dem Projekt ab, an dem schon seit vielen Monaten gearbeitet wird, zuerst unter der hervorragenden Leitung von Herrn Rossmann, ehe dieser, Gott hab ihn selig, in einem tragischen Autounfall gestorben ist…“. Herr Rossmann… Laurenz, sein wertgeschätzter und vorbildlicher Vorgesetzter. Laurenz selbst hatte sich Alexander als stellvertretenden Leiter des Projektes gewünscht und bei der Geschäftsführung urgiert, ihm diesen Wunsch zu gewähren. Ursprünglich war Alexander nur einer von vielen Programmierern in der Firma gewesen, doch durch ein zufälliges Treffen und ein gemeinsames Mittagessen entstand eine Kollegialität, eine Freundschaft. Öfters hatten sich Alexander und Franziska mit den Rossmanns getroffen -eine kleine, glückliche Familie mit zwei jugendlichen Kindern – ehe sich Laurenz dafür entschlossen hatte, ihn bei diesem wichtigen Projekt dabeihaben zu wollen, ehe er dann jäh aus dem Leben gerissen wurde. Beim Gedanken an den Unfall wurde Alexander schlecht, er griff an den Koffer und stellte fest, dass seine Hände zitterten, auch das Schwitzen wollte nicht mehr aufhören.

 

„…und nun wird uns unser zu spät kommender Mitarbeiter und nunmehriger Projektleiter über die neuesten Informationen und Updates zu dem Projekt einweihen.“ – „Sehr gerne“, Alexander ergriff das Wort, seine nassgeschwitzten Hände griffen den Koffer und er begab sich zum Rednerpodest am Ende des Raumes. „Sehr geehrte Geschäftsführung, wie Herr Schuster schon angekündigt hat, werden Sie von mir nun alles im Hinblick auf meine und, selbstverständlich auch die Arbeit meines Teams, erfahren. Dazu möchte ich Ihnen gerne diese Handouts austeilen…“. Alexander öffnete den Koffer und traute seinen Augen nicht – anstatt der sorgfältig vorbereiteten Handouts fand er nun ein einzelnes, großgedrucktes Foto in seinem Koffer. Ein Foto von einem vollkommen zerstörten Autowrack. Darüber prangte genau derselbe neongrüne Smiley mit durchgekreuzten Augen und heraushängender Zunge, der ihm heute schon einiges an Kopfzerbrechen verursacht hatte. Er hörte das ungeduldige Räuspern des Firmenleiters und fühlte die ungeduldigen Blicke förmlich auf seiner Haut. „I-Ich…entschuldigen Sie mich bitte.“ Er fühlte den immer schneller werdenden Herzschlag in seiner Brust und fürchtete, das Organ würde bald aus dem Brustkorb springen – mit dem Koffer in der Hand stürzte er schwer atmend zum Ausgang des Besprechungsraums. „Was haben Sie vor? Was soll das? Wo wollen Sie hin?“, hörte er nur noch leise nachhallend. Er schaffte es gerade noch in sein Büro, ehe vor seinen Augen alles schwarz wurde.

 

 

5. Kapitel – Getrennte Wege

 

Äußerst langsam öffnete er seine Augen. Er hatte keine Ahnung mehr was passiert war, geschweige denn, wo er sich befand und wie er hierhergekommen war. Er war schweißgebadet und das dünne Nachthemd klebte förmlich an seinem Körper. Langsam setzte er sich in dem Bett auf, in dem er lag und als seine Augen sich an die Dunkelheit im Raum gewöhnt hatten, stellte er fest, dass er sich in einem Krankenhaus befand. Erschöpft ließ er sich wieder zurück in das weiche Kissen sacken, starrte an die Decke und begann zu mutmaßen, was mit ihm geschehen war. Ausschlaggebend für den Knock-Out waren wohl die Tabletten, die er sich in viel zu hoher Dosis eingeworfen hatte – der Stress, der Streit mit Franziska und ganz besonders das Handy und das Foto im Koffer hatten wohl den Rest dazu beigetragen, dass er aus den Latschen gekippt war. Was hatte das alles zu bedeuten? Was wollte man damit erreichen, außer ihn in den Wahnsinn zu treiben? Die Gedanken kreisten in seinem Kopf, bis ihm die Augen wieder zufielen und er wenige Stunden später nachts von einer Pflegerin geweckt wurde, die ihren Kontrollgang machte, um nach dem Rechten zu sehen. „Da hat es Sie aber ordentlich erwischt, Herr Brandner! Nach der Blutabnahme mussten wir feststellen, dass ihre Werte vollkommen durcheinander sind. Sie haben sich doch nicht etwa selbst eine Überdosis Medikamente verpasst?“ – „Ich? Ach Quatsch, es war nur ein anstrengender Tag, sonst nichts…“ – „Ah ja. Natürlich. Wie auch immer, jedenfalls steht es Ihnen frei zu gehen. Passen Sie in Zukunft besser auf sich auf, ja? Alles Gute!“ – „Danke, Ihnen auch…“. Er zog sich rasch sein Hemd und seine Hose an, ehe er sich auf den Weg zum Bahnhof machte. Als er gerade das Krankenhaus verließ, vibrierte es in seiner Jackentasche – das Handy, er hatte es ganz vergessen! Rasch griff er in die Tasche und fischte das Handy heraus: „GUTEN MORGEN SONNENSCHEIN“, prangte es ihm in der neongrünen Farbe entgegen – der Smiley war nirgends zu sehen, die zwei Male, die er ihn bisher gesehen hatte, reichten ihm aber auch. Es kam keine weitere Nachricht und er ging zu Fuß durch die leergefegten Straßen. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es mitten in der Nacht war, kein Wunder also, dass keine Menschenseele mehr zu finden war – bis auf die drei Gestalten, die ihn beim Bahnhof erwarteten…

 

„ENDSTATION – WIEN WESTBAHNHOF – BITTE ALLE AUSSTEIGEN“

 

Er war vollkommen in seinen Gedanken verloren, bis ihn die Durchsage in die Realität zurückholte und er aus dem Zug ausstieg. Er freute sich sehr auf Franziska, die ihm bestimmt für seinen Fehltritt vergeben hatte, auf Loki, auf sein Haus…

Die Straßenbahn fuhr ihn fast vor die Haustüre, wenige Gehminuten zu Fuß trennten ihn nun noch von seinem Zuhause. Mit einem erleichterten Lächeln im Gesicht steckte er den Schlüssel in das Türschloss und stellte fest, dass das Haus verschlossen war. Franziska war also noch nicht zurückgekommen, Loki wartete sicherlich schon sehnsüchtig auf sein Herrchen und auf einen vollen Napf. Er trat durch die Tür. Es waren keine Hundepfoten auf dem teuren Parkettboden zu hören, die ihm entgegenliefen, kein Fernseher am Laufen – das Haus war leer. Er schaltete das Licht ein und ging ins Wohnzimmer, wo er einen Brief und ein Foto auf dem Tisch liegen sah. Zuerst nahm er den Brief in die Hand – eine schöne, sorgfältige Schrift – zweifellos Franziska.

 

„Alexander…nie habe ich deine Entscheidungen in Frage gestellt, nie habe ich dich gefragt, was du eigentlich machst, wenn du, wie so oft in den letzten Monaten, länger im Büro bist. Ich habe dich immer unterstützt und dir die Stange gehalten, habe dafür gesorgt, dass du dich auf deinen Beruf und dein Projekt konzentrieren kannst und so dankst du es mir? Indem du mit einer anderen Frau um die Häuser ziehst, Händchen hältst und SIE KÜSST? Ich erkenne dich nicht wieder, deine Medikamente, deine spätnächtlichen Whiskey-Sessions – mir kommt vor, als wäre der Alexander den ich kannte und liebte an dem Tag gestorben, an dem Laurenz den Unfall hatte. Ich nehme Loki mit und ziehe zu meinen Eltern. Vielleicht sieht man sich irgendwann wieder, oder auch nicht. Leb Wohl.“

 

Äußerst langsam ließ er den Brief sinken und schaute auf das am Tisch liegende Foto, ehe er es in die Hand nahm und er seinen eigenen Augen nicht mehr traute – auf den Fotos war eine gutaussehende, großgewachsene Frau zu sehen, die Hand in Hand und von vorne fotografiert mit jemanden durch die Straße ging. Dieser jemand war er. Doch es ging noch weiter: die nächsten Fotos zeigten ihn Arm in Arm mit der Frau und auf dem letzten Bild küssend in einem Restaurant. Die Fotos sahen unheimlich echt aus. Zweifellos hatte sich hier jemand die Mühe gemacht, sein Gesicht mit Photoshop oder einem ähnlichen Programm auf das eines ähnlich großen Mannes mit einer ähnlichen Statur wie ihm einzufügen. Jemand hatte sich seiner Identität bemächtigt und das war das Ergebnis. Das Handy vibrierte in seiner Tasche. Sein Herz raste.

 

„ALLEIN, ALLEIN.“

 

Die neongrüne, mittlerweile verhasste Schrift glühte unheilvoll aus dem Display.

Alexanders erster Weg führte zum Schrank mit den alkoholischen Getränken, aus dem er sich eine Flasche Whiskey entnahm und begann sie in zügigen Schlucken zu leeren.

 

 

 

 

6. Kapitel – Enthüllungen

 

Alexander wurde durch das Läuten seines eigenen Handys geweckt, die Whiskeyflasche lag auf dem Boden und ein Teil des Inhalts hatte sich auf eben jenem verteilt. „Ja, hier Brandner…“, stöhnte er in das Telefon, „Herr Brandner, hier spricht Frau Runig – „Guten Morgen Frau Runig…was kann ich für Sie tun?“ – „Guten Morgen?“, lachte es hochnäsig aus dem Telefon – „Herr Brandner, wir haben Mittag und Sie waren heute nicht im Dienst, niemand weiß was mit Ihnen los ist und ich bin mir sicher, dass ich Ihnen nicht erklären muss, dass Herr Strauss fuchsteufelswild war, nachdem Sie die Präsentation so in den Sand gesetzt haben?“ – „Nein… brauchen Sie nicht, vielen Dank…“ – „Die Geschäftsführung hat sich dazu entschlossen, Sie aufgrund Ihrer Fehltritte zu beurlauben. Kriegen Sie Ihr Leben in den Griff, Herr Brandner, und melden Sie sich dann wieder bei uns“ – „… Alles klar…“, mehr brachte er nicht hervor, viel zu sehr dröhnte ihm der Schädel, viel zu perplex war er und hoffte insgeheim, er hätte alles nur geträumt. Als das Gespräch beendet war, stellte er fest, dass er nichts davon geträumt hatte – keine Franziska, kein Loki – er war alleine im Haus und die Fotos lagen da, wo er sie liegen gelassen hatte.

Er wusste nichts mehr mit sich selbst anzufangen, er hatte sonst niemanden an den er sich wenden konnte. Franziska war sein Ein und Alles und selbst ihr würde er sein dunkelstes Geheimnis nie erzählen. Sie würde ihn verlassen, zweifellos, er würde im Gefängnis landen und sein Leben würde den Bach runtergehen.

Er brauchte jemanden zum Reden, soviel stand fest – und das jetzt. Die Kirche! Der Beichtstuhl! Alles was dort erzählt wurde, blieb meistens auch dort. Vielleicht hatte man dort ein offenes Ohr -ja sogar einen guten Rat – für ihn.

Rasch zog er sich seinen Mantel über und begab sich zur nächstbesten Kirche. Kein Mensch war im Gotteshaus zu sehen, also setzte er sich in den erstbesten Beichtstuhl und fragte zögerlich, ob jemand da sei, der ihm Gehör schenkte. „I-Ich möchte beichten. Ich brauche Rat, ich weiß nicht mehr weiter…“ – „Wir haben ein offenes Ohr für jeden, sprich dir dein Gewicht von der Seele“, kam es aus der anderen Kabine.

„Ich habe einen furchtbaren Fehler gemacht – einen Fehler, den ich bis heute bereue und der mir mehr geschadet, als genutzt hat. Aber ich schätze, für diese Erkenntnis ist es nun zu spät. Mein wertgeschätzter Kollege und Freund, er entschied sich mich als seinen stellvertretenden Leiter eines wichtigen Projektes einzustellen – es war der pure Zufall, dem ich all das zu verdanken habe, wir verstanden uns prächtig und ich schwor mir, sein Vertrauen nicht zu missbrauchen. Nach Wochen, Monaten der Zusammenarbeit stieg mir meine neue Verantwortung, der Zuspruch meines Leiters zu Kopf. Ich merkte, dass ich derjenige bin, der dieses Projekt zieht, dass ich es war, der an dessen Stelle das Lob und die Wertschätzung unserer Geschäftsführung genießen sollte. ICH wollte der Hauptverantwortliche dafür sein, dass unser Projekt ein voller Erfolg wird. Also habe ich mich im Darknet umgesehen, habe nächtelang gesucht und schließlich jemanden gefunden, der sich bereiterklärte, ihn möglichst unauffällig aus dem Weg zu räumen. Wir haben uns in einem Café getroffen und die Details besprochen. Der Plan war, ihn zumindest monatelang ins Krankenhaus zu befördern, damit er den Entwicklungsprozess und schließlich die Veröffentlichung des Programmes verpassen würde, danach aber ohne Probleme zu seiner Familie und Arbeit zurückkehren konnte. Die gekaufte Person hat sich unbemerkt an seinem Auto zu schaffen gemacht und…“ Alexander begann tief zu schluchzen, die Tränen liefen ihm über die Wangen „… es ging alles schief. Der Unfall, er endete im Tod meines Kollegen und nicht darin, dass er verletzt im Krankenhaus landete. Ich wollte das nie! Niemals! Es hätte nie so laufen sollen! Seine Frau und seine Kinder, sie tun mir so unendlich leid, sie haben zu allen den Kontakt abgebrochen, auch zu uns. Ich habe gehört, seine Frau hatte einen Nervenzusammenbruch und sei mehrere Wochen in der Psychiatrie gewesen… Und nun holt mich die Vergangenheit ein, ich verliere ALLES, meine Frau, meinen Hund, meinen Job, alles… als würde man sich an mir rächen wollen.“

 

„Dein Gewinn war vieler Menschen Verlust – vielleicht solltest du Kontakt zur Familie des Gestorbenen aufnehmen, womöglich wirst du dort eine Lösung finden, die dein Leben wieder in die richtigen Bahnen bringt.“

 

Eine Stunde später stand Alexander, am ganzen Körper zitternd vor dem Haus der Rossmanns…

6 thoughts on “Schatten der Vergangenheit

  1. Deine Geschichte hat einen wirklich spannenden Aufbau. Das Ende kam mir etwas plump daher, so urplötzlich. Das muss ja nicht zwingend schlecht sein aber du hättest vielleicht etwas weicher darauf abzielen können. All in all aber eine wirklich gute Geschichte! Hat Spaß gemacht zu lesen!:)

    1. Hallo Lia!

      Vielen Dank für dein Feedback – Tatsächlich war ich vom Ende auch nicht sehr angetan, da ich aber wenige Tage vor Ende der Aktion noch nichtmal im Ansatz eine Geschichte, geschweige denn ein Ende hatte, war das das “Beste” was mir eingefallen ist, da fehlt leider noch ein Bisschen die Erfahrung.

      Dir noch eine schöne Woche und alles Liebe!

  2. Hallo Bernhard ich schließe mich dem vorigen Kommentar an, deine Geschichte fängt sehr gut an und man hat Lust weiterzulesen. Du schreibst flüssig und auch sehr ausführlich, ich sah jede Szene vor mir. Da hättest du noch einiges mehr rausholen können. Wir kennen sein Geheimnis, aber wer hat ihm all die Nachrichten gesendet und warum?
    Ich hab deine Antwort zu dem vorherigen Kommentar gelesen, es blieb dir einfach nicht mehr genügend Zeit und das ist schade. Aber trotzdem finde ich die Geschichte gut und mein Wochen lasse ich dir sehr gerne da.
    Falls du Lust hast, schau doch mal auf wir_schrieben_zuhause vorbei. Dort sind schon sehr viele, die bei diesem Projekt mitgeschrieben haben, es wird diskutiert, Geschichten empfohlen usw. und vor allem ists lustig dort 😃
    Liebe Grüße frechdachs

  3. Hallo Bernhard,

    es gibt viele Dinge, die mir an Deiner Geschichte gefallen haben: Deine Einstiegsszene am Bahnhof ist Dir wirklich sehr gelungen. Sie war unheimlich und spannend, und ich wollte unbedingt wissen, wie es weitergeht. Auch fand ich gut, dass Du mit einem zeitlichen Sprung gearbeitet hast.
    Die Idee mit den Kapitel und den einzelnen Überschriften fand ich auch gut, über Deine Überschriften musste ich manchmal etwas schmunzeln.
    Generell fand ich die Idee Deiner Story spannend, ich war wirklich gespannt, wer hinter den bedrohlichen Masken und den Nachrichten steckt. Leider erfährt man das alles nicht oder bekommt zumindest Hinweise darauf – wobei es ja einen Hinweis gibt, dass die Familie des Verstorbenen damit zu tun haben könnte – war das so gedacht? Vielleicht könntest Du das ja noch ein wenig ausbauen.
    Dein Schluss wirkt so, als würde noch eine Fortsetzung folgen, in der alle aufkommenden Fragen geklärt werden…ggf könnte noch ein weiteres Kapitel Alexanders Geschichte zu einem runden Ende bringen. Das wäre toll, denn wie gesagt, Deine Geschichte ist an sich sehr spannend.
    Nur eine Kleinigkeit nebenbei, die mir beim Lesen aufgefallen ist, Du schreibst mal in der Vergangenheit, mal im Präsens und springst zwischendurch ein wenig zwischen den Zeiten hin und her, was aber vermutlich dem Zeitdruck geschuldet ist, unter dem Du die Geschichte geschrieben hast.

    Liebe Grüße
    Anita (“Räubertochter”)

    1. Hallo Anita!

      Erstmal vielen Dank fürs Lesen (Und mögen ;-)) der Geschichte und dem umfangreichen Feedback – es freut mich immer sehr zu wissen, dass jemand Gefallen an der Geschichte findet und ehrt mich sehr, wenn sich jemand die Zeit nimmt um die Gedanken dazu dann auch noch niederzuschreiben!

      Das mit der Familie des Verstorbenen war so gedacht, ja, genauso wie der “Cliffhanger” am Ende der Geschichte – leider war der allerdings ziemlich plump und abrupt, sodass ich fast schon ein schlechtes Gewissen hatte sie so einzusenden, wie sie ist, weil mir das Ende halt selbst auch so gar nicht gefallen will. Aber wie du ohnehin auch schon geschrieben hast, saß mir die Zeit im Nacken und somit wurde dann am Ende etwas “gepfuscht”.

      Das mit dem Zeitenwechsel ist mir während des Schreibens auch irgendwann aufgefallen – nur war das erst ziemlich spät und die ganze Geschichte umzukrempeln bzw. zeittechnisch zu korrigieren ging sich dann nicht mehr wirklich aus.

      Danke nochmal fürs Lesen und fürs Feedback!

      Ich wünsch dir ein schönes Wochenende, bleib gesund und alles Gute!

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